Auch wenn sie nicht blind gewesen wäre, hätte Zainab das Interview in der Zeitung nicht lesen können, denn sie war Analphabetin. Sie bekam ihre Nachrichten durch Gerüche und Vögel, oder der Wind trug sie ihr zu. An diesem Morgen, das spürte sie, lagen schlechte Nachrichten in der Luft. Sie hörte das ungeduldige Zwitschern von Vögeln und fühlte, dass eine Wanderung und lange einsame Nächte auf sie zukamen.
Sie hielt einen Augenblick den Atem an, ignorierte die Vorzeichen in der Luft und bemühte sich, ihre Konzentration auf die vor ihr liegende Aufgabe zu legen.
Zainab drückte sich an die Gitterstäbe ihrer Zelle, zerpflückte ein Stück Brot und warf es den Spatzen hin, die jeden Morgen vor dem Gefängnis landeten. Wie viele Blinde, konnte sie die Vögel zählen, wenn sie ihren Flügelschlägen lauschte. Vermutlich waren es fünfzehn. Sie pickten nur spielerisch nach den Krümeln, denn ihr Hunger war bereits gestillt. Im Gefängnis gab es Nahrung für sie im Überfluss. Jeden Morgen streckten die Frauen ganze Hände voll Essensreste durch die Eisenstäbe, um die Spatzen anzulocken, in der Hoffnung, sie beim Picken zu beobachten oder sie mit etwas Glück dazu zu bringen, ihnen aus der Hand zu fressen. An diesem Morgen interessierten sich die Spatzen mehr für ihr Spiel.
Zainab unterschied sich von den übrigen Insassinnen im Todestrakt. Diese beteten, weinten und verfolgten wie besessen den Verlauf ihrer Gnadengesuche. Sobald ihre letzte Eingabe abgewiesen war, richteten sie ihre Aufmerksamkeit auf das Leben nach dem Tod und flehten nun an höherer Stelle um Vergebung. Zainab hingegen war sich keiner Schuld bewusst und fühlte sich wohl in ihrer Zelle, die als die schwarze Zelle bezeichnet wurde, weil sie die Todeskandidatinnen beherbergte. Sie bewohnte diese Zelle wie ein Zuhause. Am Morgen nach dem Aufwachen reinigte sie die Zelle, massierte die Füße ihrer schwangeren Mitinsassin und ölte dann ihr eigenes Haar. Nachdem sie die Vögel gefüttert hatte, pflegte sie, andere Zellen aufzusuchen und dort die Füße von zwei weiteren Schwangeren zu massieren. „Warum sollte jemand eine arme Blinde töten?“, war ihre stets wiederkehrende Antwort auf all die Aufregung, die ihr Anwalt und die Frauengruppen vor dem Gefängnis wegen ihres Todesurteils veranstalteten. Selbst die Oberaufseherin achtete sie wegen ihrer Höflichkeit und ihrer Bereitschaft, den anderen Gefangenen zu helfen und ihre Kinder im Koran zu unterrichten. Zainab war ihre Lieblingsgefangene. Sie hatte ihr auch die Sonnenbrille geschenkt, die General Zia so erboste. „Sie wird dich vor der Sonne schützen.“ Zainab hatte sie lächelnd entgegengenommen, ohne sich zu beklagen, ohne Selbstmitleid, ohne darauf hinzuweisen, dass das Licht der Sonne nie in ihre toten Augen dringen konnte. Die Augen hinter der Brille waren vollständig weiß. Zainab war ohne Hornhaut auf die Welt gekommen. Bei ihrer Geburt hatte man natürlich sofort von einem schlechten Omen gesprochen, aber ihr Gesicht war so strahlend und ihre anderen Sinne so ausgeprägt, dass man das glücklose Kind akzeptierte. Und auch sie selbst hatte das Beste aus ihrer Situation gemacht. Selbst jetzt, wo sie die erste Frau war, die nach dem neuen Gesetz zu Tode gesteinigt werden sollte, bewies sie eine rätselhafte seelische Kraft, mit der sie die Aktivistinnen verblüffte, die auf der Straße und vor Gericht für sie kämpften. „Steinigen?“, hatte sie nach der Urteilsverkündung gefragt. „Wie sie es beim Hadsch in Mekka mit dem Teufel machen? Das versuchen sie dort schon seit Jahrhunderten, aber töten konnten sie ihn bis jetzt nicht. Wie wollen sie da eine gesunde Frau wie mich umbringen?“
Nachdem sie die Sonnenbrille einige Tage getragen hatte, lernte Zainab sie zu schätzen. Sie hatte nicht mehr so starke Kopfschmerzen, wenn sie zu lange in der Sonne gestanden hatte. Und sie konnte die Kinder ihrer Mitgefangenen zum Lachen bringen, wenn sie sie abnahm und ihnen ihre milchweißen Augen zeigte.
Zainab hörte einen lauteren, schwereren Flügelschlag und das panische Geflatter der Spatzen, die dennoch nicht die Flucht ergriffen. Einige blieben in der Luft, andere entfernten sich von ihr. Einen Augenblick hielt sie beim Verteilen der Brotkrumen inne. Sie überlegte, wie sie die Spatzen schützen konnte. Sie wollte ihr Futter nicht den Krähen geben. Doch dann fiel ihr ein, dass ihr in ihrer Kindheit eine Krähe an vielen dunklen Tagen Gesellschaft geleistet hatte. Wieder ein schlechtes Omen, hatten die Dorfbewohner gesagt, aber Zainab mochte die Krähe und bewahrte stets ein bisschen Brot für sie auf. Ob es dieselbe sein konnte? Sie riss doch noch ein paar Stückchen von ihrem Gefängnisbrot ab und warf sie hinaus. Was, wenn die Krähe wirklich Hunger hatte? Alle Gefangenen, die sie kannte, und sogar einige der Wärterinnen fütterten nur die Spatzen.
Zainab hörte, wie die Wärterin sich näherte, und erkannte an ihrem Gang, dass sie schlechte Nachrichten brachte. Sie versuchte, nicht auf die schuldbewussten Schritte zu achten, und fuhr fort, die Vögel zu füttern. Sie wusste, dass die Krähe inzwischen den Hof beherrschte. Bis auf zwei waren alle Spatzen geflüchtet. Diese umkreisten noch immer das Gebiet, das die Krähe nun für sich beanspruchte. Sooft sie ihnen den Rücken zukehrte, schossen sie nieder, um einen Krümel zu ergattern und sofort wieder in sichere Entfernung zu flüchten. Zainab spürte die ständige Fluchtbereitschaft ihrer Flügel auf ihren Fingerspitzen. Sie spürte aber auch, dass die Spatzen ein Spiel spielten. Sie probierten, wie nah einer kommen konnte, wenn der andere die Krähe ablenkte.
Der Schatten der Wärterin blockierte die Sonne. Zainab konnte an ihrem Schweiß riechen, dass es Schwierigkeiten gab. Die Frau atmete heftig, trat von einem Fuß auf den anderen, versuchte so zu tun, als sei sie nicht da.
Es mussten wirklich schlechte Neuigkeiten sein.
Aber wie schlecht konnten sie für eine zum Tode Verurteilte sein? Zainab setzte keinerlei Hoffnung auf das Gnadengesuch, das ihr Anwalt eingereicht hatte. Ihre Mitgefangenen hatten es erörtert. Sie wussten, dass General Zia seine Meinung zwar häufig änderte, jedoch nie eine Gelegenheit versäumte, ein Gnadengesuch abzulehnen. Es hatte etwas mit einem gewissen Bhutto zu tun, dem Herrscher vor Zia. Zainab wusste, dass Bhutto nicht gesteinigt, sondern gehängt worden war. Aber was er eigentlich verbrochen hatte, wusste sie nicht. Zainab rechnete nicht mit einer Umwandlung ihres Urteils, demnach hatte die Wärterin wohl den Hinrichtungsbefehl erhalten, und nun wusste sie nicht, wie sie eine Steinigung organisieren sollte. Zainab empfand Mitleid mit ihr. Warum musste eine so nette, tüchtige Frau durch solch eine Prüfung gehen?
Sie hörte, wie die Krähe aufgeregt mit den Flügeln schlug, doch statt davonzufliegen, ließ sie sich nieder. Wahrscheinlich hatte sie die letzten Spatzen verjagt.
„Zainab, in einer Zeitung ist ein Bild von dir erschienen“, sagte die Wärterin. Zainab merkte, dass sie um den heißen Brei herumredete, statt ihr den Hinrichtungsbefehl zu überbringen. „Du siehst gut darauf aus mit deiner Sonnenbrille.“
Zainab warf das letzte Stück Brot hinaus und hoffte, die Krähe am Kopf zu treffen. Sie verfehlte sie.
„Du wirst in ein anderes Gefängnis überführt. Wegen dem Bild und dem Interview, das du gegeben hast.“
Zainab erinnerte sich an das Interview. Ihr Anwalt hatte ihr ein paar Fragen vorgelesen, und sie hatte die gleiche Geschichte erzählt, die sie vor dem Bezirksgericht, vor dem Obersten Gerichtshof, in der Berufungsverhandlung gegen das Todesurteil und ihren Mitgefangenen immer wieder erzählt hatte, ohne etwas auszulassen oder hinzuzufügen, obwohl ihr Anwalt sein Bestes getan hatte.
„Dein Bild wurde in Amerika gedruckt. Der Befehl, dich an einen Ort zu bringen, wo du keine Interviews geben kannst, kommt anscheinend von ganz oben.“
Zainab hatte wenig Ahnung von Interviews oder Orten, an denen man diese geben konnte oder nicht. Sie hatte bloß erzählt, was geschehen war.
„Es war dunkel, aber sie hatten Fackeln. Sie waren zu dritt. Vielleicht gab es noch einen vierten vor der Tür. Sie rochen nach Benzin, ihre Hände waren weich, also waren sie keine Bauern. Sie fesselten mich an den Händen und schlugen mich, als ich sie im Namen ihrer Schwestern, ihrer Mütter anflehte, mich gehen zu lassen. Sie waren Tiere.“
„Aber mir gefällt es hier“, sagte Zainab zu ihrer Wärterin. „Die junge Frau in meiner Zelle bekommt in zwei Wochen ihr Kind. Und ich habe noch mehr Freundinnen hier. Ich möchte hier leben.“
Ihr wurde bewusst, was sie gerade gesagt hatte.
„Ich möchte hier sterben.“
„Der Befehl kommt vom Präsidenten“, sagte die Wärterin in einem Ton, in dem sie noch nie mit Zainab gesprochen hatte und der deutlich machte, dass die Entscheidung endgültig war, endgültiger noch als das Todesurteil. Zainab spürte die Angst in ihrer Stimme und fragte sich, ob man auch die Wärterin bestrafen würde.
Der Gedanke an ihre Freundinnen, die sie zurücklassen musste, und an die Bestrafung der Wärterin, die ihr die Sonnenbrille geschenkt hatte, überwältigte Zainab für einen Moment, und sie tat etwas, das sie noch nie getan hatte. Die Blinde Zainab, die schweigend zugehört hatte, wie ein lüsterner Richter sie zum Tode verurteilte, Zainab, die ihren Peinigern nie die Genugtuung eines Schreis gegeben hatte, Zainab, die ihr Leben damit verbracht hatte, Gott zu danken und den Menschen zu vergeben, was sie ihr antaten: Zainab schrie und Zainab fluchte.
„Würmer sollen die Eingeweide des Mannes fressen, der mich aus meinem Heim reißt. Und seine Kinder sollen sein Gesicht im Tode nicht sehen.“
Die Wärterin war erleichtert. Zainabs unbekümmerte Tapferkeit hatte sie immer verunsichert. Sie wollte nicht, dass sie das Gefängnis stumm verließ.
Es ist allgemein bekannt, dass Flüche die letzte Zuflucht verzweifelter Mütter und die ohnmächtige Waffe von Menschen sind, die nicht einmal über den Mut oder die Worte verfügen, um ihre Feinde zu beschimpfen. Ebenso bekannt ist es, dass sie in aller Regel nicht wirken. Wirken kann ein Fluch nämlich nur, wenn er von einer Krähe gehört wird, die von der Person, die ihn ausgesprochen hat, gefüttert wurde, bis ihr Magen gefüllt ist, und wenn diese Krähe den Fluch dann seinem Ziel zuträgt. Krähen sind allerdings für ihre Gefräßigkeit berüchtigt, und satt sind sie so gut wie nie. Zudem sind sie eigenwillige Geschöpfe, deren Streifzüge nicht voraussehbar sind. Sie machen sich nie die Mühe, irgendetwas irgendwohin zu tragen.
Die Blinde Zainab merkte nicht einmal, wie die Krähe, nachdem sie den Boden noch einmal nach übrig gebliebenen Brotkrumen abgesucht hatte, träge mit den Flügeln schlug und davonflog. Hoch oben über dem Gefängnis, von wo sie den albernen Tanz der Spatzen vor den Gefangenen beobachten konnte, spürte sie über sich einen Luftstrom, der gen Osten blies. Sie flog hinauf und überquerte, auf diesen Winden segelnd, zwei Tage später die Grenze nach Indien, wo die Weizenernte früher beginnt und die Elektromasten sicherer sind.
Zainab packte ihre dürftige Habe zusammen und wartete auf ihre Abreise. Man legte ihr Handschellen an und setzte sie hinten in einen Jeep. Ihr fiel auf, dass keine Wachen sie begleiteten. Wohin sollte eine gefesselte Blinde auch flüchten? Sie betete, dass ihre Zellenkameradin eine leichte Geburt haben würde, und hatte schon vergessen, wen sie warum verflucht hatte.
Die Krähe ließ sich vom Wind treiben. Krähen haben vielleicht kein Bewusstsein, aber ein Gedächtnis von neunzig Jahren.
Als der Jeep anhielt und sich eine Weile nicht rührte, begriff Zainab, dass sie am Ziel war. Da niemand sie abholte, nahm sie ihr Kleiderbündel, schob die Kanvasplane beiseite und stieg aus. Sie roch viel Rauch und viele Männer. Anscheinend, so glaubte sie für einen Moment, hatte man sie in ein Männergefängnis gebracht. Sie hörte die Sirene eines vorüberfahrenden Wagens und ging weiter, in der Hoffnung, man würde sie in eine Zelle führen, wo sie den Rest ihres Lebens verbringen konnte. Um sie herum herrschte eine Atmosphäre von Hektik. In Gefängnissen wissen die Leute für gewöhnlich, wie man sich ruhig verhält. Nachdem sie, bemüht, niemandem auf die Füße zu treten, ein paar Meter gegangen war, fasste sie einen Mann am Arm, der eine gewisse Ruhe und Geduld ausstrahlte. „Wo soll ich wohnen?“, fragte sie ihn.
Der Mann drückte ihr einen feuchten Zwei-Rupien-Schein in die Hand und befahl ihr zu warten, wie alle anderen auch.
„Ich bin keine Bettlerin“, sagte sie, aber der Mann war bereits gegangen.
Eine Hand packte sie am Arm. „Wo willst du hin, Alte? Wir bringen dich in die Festung. Dort kann dich die Presse nicht behelligen.“