Wir nehmen gerade unseren Tee auf dem Rasen des Forts und erörtern Fragen der nationalen Sicherheit, als die Häftlinge aus dem Gang auftauchen, der zu den unterirdischen Zellen führt. Eine lange Reihe zusammengeketteter, schäbig gekleideter Männer in Handschellen und mit rasierten Köpfen schleppt sich aus dem Treppenschacht hinauf, während Major Kiyani die inneren und äußeren Bedrohungen für die nationale Sicherheit analysiert. Er nimmt eine Handvoll geröstete Mandeln aus einer Schale und wirft sich eine nach der anderen in den Mund, dazwischen hakt er die strategischen Herausforderungen ab.
Aus dem Augenwinkel sehe ich zu den Gefangenen hinüber, es wäre zu unhöflich, sich umzuwenden. Major Kiyani soll nicht denken, die nationale Sicherheit sei mir egal.
Seit meiner Begegnung mit General Akhtar sind mir die Militärs, denen die Festung untersteht, zu Diensten. Als Häftling mit verbundenen Augen habe ich das Fort verlassen, und als Prinz, dem man vergeben hat, bin ich zurückgekehrt. Protokoll unterschrieben und eingereicht, Akte gelöscht, Ehre wiederhergestellt, Ruhm ist mir gewiss. Wenn ich Major Kiyani glauben darf, sind nur noch ein paar Formalitäten zu erledigen, ehe man mich an die Akademie zurückschickt.
Die Erfahrung rät mir, ihm keinen Glauben zu schenken, aber es macht Spaß zu beobachten, wie er mich umschwänzelt, dafür sorgt, dass ich gut esse und das beste Zimmer im Fort habe. Er ist wie ausgewechselt. Wir feiern den Beginn einer neuen Beziehung. Höflichkeit und gegenseitiger Respekt sind unser Tagesbefehl.
„Hindus sind von Natur aus Feiglinge, also ist klar, dass sie von hinten angreifen, aber wir haben gelernt, mit diesem Volk von Linsenfressern fertig zu werden. Bei jeder Bombe, die ein paar Leute in Karachi tötet, schlagen wir mit einem Dutzend in Delhi, Bombay, Bangalore und überall zurück. Wenn sie taiwanesische Zeitzünder benutzen, schicken wir ihnen hübsche ferngesteuerte RDX-Plastikbömbchen.“ Major Kiyani kaut gründlich, bevor er sich die nächste Mandel in den Mund wirft. Er trifft sehr gut. „Sie sind keine Bedrohung für uns. Die wirkliche Bedrohung sind unsere inneren Feinde, muslimische Brüder, die zwar Pakistaner sind wie wir, aber eine eigene Sprache sprechen. Mit ihnen fertig zu werden, müssen wir noch lernen.“
In der Sonne des Spätnachmittags wirkt die Festung wie ein sehr alter König bei seiner Mittagsruhe. Die bröckelnden Bögen werfen ihre Schatten auf den Rasen, hohe Sonnenblumen stehen in voller Blüte und neigen die Köpfe wie Höflinge mit Turbanen, die auf ihre Audienz warten. In der unterirdischen Verhörzentrale wird wahrscheinlich gerade mit Inbrunst geschlagen und die Decke frisch mit Blut bespritzt. Und wir sitzen in Gartenstühlen an einem Tisch, der mit feinstem Porzellan und dem besten Nachmittagsimbiss gedeckt ist, den Lahore zu bieten hat.
Das Leben kann wieder schön werden, wenn man aus einer guten Familie stammt und einen günstigen Eindruck auf General Akhtar gemacht hat.
„Diebe, Killer oder Verräter schnappen kann jeder“, sagt Major Kiyani und kaut dabei auf einem frittierten Stück Huhn. „Die Herausforderung bei meiner Arbeit ist jedoch, dass ich ihnen immer einen Schritt voraus sein muss.“ Ich nicke höflich und knabbere an einem Keks der Marke Nice.
Eine Dunhill wird mir angeboten. Mit reserviertem Offizierslächeln nehme ich an.
Die Gefangenen umrunden einen Marmorbrunnen. Ihre rasierten Köpfe bewegen sich hinter der sorgfältig gestutzten, von purpurnen Bougainvilleen überwachsenen Hecke auf und nieder. Man hat sie nicht zum Teetrinken ins Freie gebracht.
Sie sehen nach gebrochenen Versprechen aus; gebrochen und dann aus dem Gedächtnis wieder zusammengesetzt, unbedeutende Namen, aus Petitionen gestrichen, vergessene Gesichter, die es nie in die Ruhmeshalle von Amnesty International schaffen werden, Kerkerinsassen, die ihre tägliche halbe Stunde in der Sonne verbringen. Die Häftlinge stellen sich nun mit den Rücken zu uns in einer Reihe auf. Ihre Kleider sind zerlumpt, ihre Körper von provisorischen Verbänden und schwärenden Wunden bedeckt. Mir fällt auf, dass die Vorschrift, keine Spuren zu hinterlassen, selektiv angewendet wird.
Den Teewärmer vor uns ziert ein Luftwaffenemblem. Es ist von schlichter Eleganz, ein Adler im Flug und darunter ein persischer Zweizeiler: Land oder Fluss, alles unter unseren Fittichen.
„Es gibt viele Wege, seinem Land zu dienen“, schwärmt Major Kiyani philosophisch, „aber nur einen Weg, es zu schützen. Nur einen.“ Ich stelle meine Tasse auf dem Unterteller ab, beuge mich vor und lausche. Ich bin sein aufmerksamer Schüler.
„Man muss jedes Risiko eliminieren. Den Feind packen, bevor er zuschlagen kann. Ihm den Sauerstoff nehmen, den er atmet.“ Er nimmt einen tiefen Zug von seiner Dunhill. Ich greife wieder nach meiner Tasse und nehme einen Schluck. Major Kiyani mag ein guter Gastgeber beim Tee sein, aber ein Sunzi ist er nicht.
„Sagen wir, man sperrt jemanden ein, der gar keine echte Bedrohung für die nationale Sicherheit war. Wir alle sind Menschen und machen Fehler. Sagen wir, wir hatten den Verdacht, er wolle das Army House in die Luft jagen. Aber was soll man machen, wenn sich nach seiner Vernehmung herausstellt, dass er das gar nicht vorhatte und wir uns geirrt haben? Natürlich wird er freigelassen. Aber – Hand aufs Herz – würden Sie das einen Fehler nennen? Nein. Ein Risiko und ein Spinner weniger, um die man sich Sorgen machen muss.“
Immer wieder huscht mein Blick zu den Gefangenen, die mit den Füßen scharren und sich wiegen wie ein griechischer Chor, der seinen Text vergessen hat. Ihre Ketten klingen wie die Glocken von Kühen auf dem abendlichen Heimweg in den Stall.
Major Kiyanis Hand verschwindet unter seinem Kamiz. Er zieht seine Pistole hervor und legt sie zwischen den Teller mit den Keksen und die Schale mit Cashewnüssen. Der Elfenbeingriff der Pistole erinnert an eine tote Ratte.
„Waren Sie schon einmal im Spiegelpalast?“
„Nein“, antworte ich. „Aber ich habe ihn im Fernsehen gesehen.“
„Er ist gleich da drüben.“ Er zeigt auf ein Gebäude mit Bögen und einer Kuppel. „Sie sollten ihn sich anschauen, bevor Sie abreisen. Wissen Sie, wie viele Spiegel es dort gibt?“
Ich tunke meinen Nice-Keks in den lauwarmen Tee und schüttele den Kopf.
„Tausende. Wenn sie nach oben schauen, starrt Ihr Gesicht Ihnen aus Tausenden von Spiegeln entgegen. Aber dennoch reflektieren diese Spiegel nicht Ihr Gesicht, sondern nur sein Spiegelbild. Sie haben vielleicht einen Feind mit tausend Gesichtern. Verstehen Sie, was ich meine?“
Eigentlich nicht. Ich würde gerne aufstehen und mir die Gefangenen ansehen. Nach dem Generalsekretär Ausschau halten. „Interessantes Konzept“, sage ich.
„Bei der Geheimdienstarbeit ist es ganz ähnlich. Man muss Gesichter von Spiegelbildern unterscheiden, und dann die Spiegelbilder der Spiegelbilder aussortieren.“
„Und die da?“ Ich deute auf die Gefangenen und schaue zum ersten Mal richtig hin. „Haben Sie die schon aussortiert?“
„Jeder von ihnen war ein Sicherheitsrisiko. Jeder. Inzwischen sind sie neutralisiert, aber noch als Risiko eingestuft.“
Die Häftlinge stehen weiter mit den Rücken zu uns in einer Reihe. In ihren Lumpen scheinen sie keine Gefahr darzustellen, außer vielleicht für die eigene Gesundheit und Hygiene.
Aber ich halte den Mund, nicke Major Kiyani nur anerkennend zu. Warum Streit anfangen, wenn man auf einem dichten grünen Rasen sitzt und bei Sonnenuntergang die erste Zigarette seit einem Jahrhundert raucht?
„Sie waren ein interessanter Fall.“ Krümel von der Hühnchenpanade glitzern in Major Kiyanis Schnurrbart. Er mustert mich beifällig, vielleicht wie ein Wissenschaftler einen Affen, nachdem er ihm Elektroden ins Gehirn eingeführt hat. „Ich habe viel von Ihnen gelernt.“
Die Atmosphäre gegenseitiger Achtung, die dieses Ritual umgibt, erfordert, dass ich das Kompliment zurückgebe. Ich nicke. Wie ein Affe mit Elektroden im Hirn.
„Sie haben Ihre Freunde nicht vergessen, selbst als Sie …“ Major Kiyani wedelt mit der Hand. Er besitzt genügend Takt, um die Orte, an denen ich gefangen war, nicht zu nennen. „Dennoch sind Sie nicht sentimental. Was vorbei ist, ist vorbei. Finden wir uns mit den Verlusten ab und blicken nach vorn. Ich glaube, General Akhtar war beeindruckt. Sie haben Ihre Karten geschickt gespielt. Einen Freund verloren, einen neuen gewonnen. Eine einfache Rechnung. General Akhtar schätzt Szenarien, bei denen am Ende alles aufgeht.“
Die Gefangenen scheinen unhörbaren Befehlen zu folgen, aber vielleicht kennen sie auch nur den Ablauf. Sie schlurfen nach links, schlurfen nach rechts, gehen in die Hocke. Ich höre Stöhnen.
Falls man sie hierhergebracht hat, damit sie Bewegung haben, kommt nicht viel dabei heraus. Und falls das eine Show für mich sein soll, fühle ich mich nicht unterhalten.
„Man lernt immer etwas dazu.“ Major Kiyani leckt begierig an der kandierten Kirsche auf einem Marmeladentörtchen. „In meiner Branche lernt man immer etwas dazu. An dem Tag, an dem man aufhört zu lernen, ist man erledigt.“ Der Schatten eines Vogels überquert den Rasen zwischen uns und den Häftlingen.
Ist der Generalsekretär dabei? Er ist wahrscheinlich schon gestiefelt und gespornt, bereit, nach Hause zu fahren und den Kampf wieder aufzunehmen. Ich würde mich gerne von ihm verabschieden. Ich würde gern sein Gesicht sehen, bevor man ihn freilässt.
„Drehen Sie sich um“, ruft Major Kiyani. Dann schaut er mich an, seine braunen Augen funkeln vor Vergnügen über einen Scherz, den er nicht mit mir teilen will. „Mal sehen, ob Sie jemanden erkennen.“
Ich bin erleichtert, dass Kiyani dem Thema nicht ausweicht. Wohlwollen für ihn blüht in mir auf wie Sonnenblumen. Ich nehme mir noch einen Nice-Keks. Ich habe einen Handel mit General Akhtar abgeschlossen – ich unterschreibe die Aussage, dafür lassen sie den Generalsekretär gehen –, und dieses Versprechen wird gerade eingelöst. Das ist das Gute an Männern in Uniform. Sie halten ihr Wort.
Ich rechne damit, einen Mann mit Mao-Mütze zu sehen. Das ist zwar gegen das gegenwärtige politische Glaubenssystem des Generalsekretärs, doch mit dem Instinkt eines kürzlich entlassenen Häftlings halte ich nach einer Mao-Mütze Ausschau.
Mein Blick wandert über die Gesichter. Glasige Augen, geschorene Köpfe. Keine Mao-Mütze. Überhaupt keine Mützen. Am Ende der Reihe steht eine Frau mit einem weißen Dupatta. Ich weiß nicht, was sie mit ihr gemacht haben. Ihre Augen sind ganz weiß. Keine Hornhaut. Mein Blick bleibt an einem Kopf mit einem glühend roten Dreieck hängen. Eine seltsame Hautinfektion.
Nein, die Schweine haben seinen Kopf gebügelt.
Der Kopf hebt sich, die Augen sehen mich mit leerem Blick an, die Zunge fährt über die aufgesprungenen Lippen. Die langen Wimpern unter den Augenbrauen sind verschont geblieben.
Baby O schließt die Augen.
Major Kiyani reicht mir einen Teller mit frittierten Hühnchenteilen. Ich stoße ihn beiseite und will aufstehen. Major Kiyani packt mich an der Schulter und drückt mich auf meinen Stuhl zurück. Jetzt sagen seine Augen, was Sache ist.
„Etwas, das Sie uns nicht erzählt haben, interessiert mich sehr. Warum hat er Ihr Sendesignal benutzt?“
Sobald jemand tot ist, hat man die Freiheit, allen möglichen Unsinn über ihn zu erfinden. Tote kann man nicht verraten. Aber wenn sie zurückkommen und dich bei deinem Verrat erwischen, sitzt du in der Falle.
Plötzlich fühle ich mich von Obaid betrogen. Wieso ist er noch am Leben? Ich habe das dämliche Protokoll unterschrieben, weil du tot warst. Ich habe mich auf diesen beschissenen Handel nur eingelassen, weil du angeblich durch eigene Blödheit zerfetzt wurdest. Jetzt stehst du da und verlangst eine Erklärung. Hättest du nicht tot bleiben können?
Plötzlich würde ich Baby O am liebsten mit eigenen Händen erwürgen.
Ich klopfe Major Kiyani auf die Schulter. Ich sehe ihm in die Augen, versuche an die Kumpanei unserer Teestunde anzuknüpfen.
„Major Kiyani, nur ein Profi wie Sie weiß so etwas zu schätzen“, sage ich. Ich habe Mühe, meine Stimme zu kontrollieren und die Überraschung zu verbergen, die man empfindet, wenn man eine Person wiedertrifft, die angeblich von einer Boden-Luft-Rakete getroffen wurde. Eine noch größere Überraschung war mein Wunsch, ihn tot zu sehen. „Es kann sich nur um beruflichen Neid gehandelt haben.“
Baby O öffnet die Augen und legt eine Hand über seine fehlenden Augenbrauen, um die Sonne abzuhalten, die ihn sicherlich blendet. Seine Hand ist mit einem blutigen Verband umwickelt.
„Wer von euch beiden ist Colonel Shigris Sohn?“
Wäre es nicht die Stimme des Generalsekretärs gewesen, hätte ich sie ignoriert. Hätte er nicht seine gefesselten Hände in die Luft gereckt, als wollte er einen Punkt auf der Tagesordnung bei einer Versammlung seines Zentralkomitees zur Sprache bringen, hätte ich ihn nicht erkannt. Die ganze Zeit hatte ich ihn mir alt, verschrumpelt und kahl vorgestellt, mit einer dicken Lesebrille. Doch er ist viel jünger, als seine ansehnliche Laufbahn es vermuten ließe. Eine dünne, aber milchweiße Strähne zieht sich durch sein kurzes Haar, und ein von einem Pfeil durchbohrtes Herz in Apfelform – offenbar das Werk eines ländlichen Tätowierungskünstlers – ziert die linke Seite seiner haarlosen Brust. Er hat die Statur eines Bauern und ein helles offenes Gesicht, als hätte es durch die Jahre in finsteren Verliesen ein eigenes Leuchten entwickelt. Seine Augen huschen zwischen mir und Major Kiyani hin und her. Typisch für den Generalsekretär, mich mit Major Kiyani zu verwechseln! Sein Blick fährt über den mit Lebensmitteln beladenen Tisch und dann über unsere Gesichter. Offenbar überlegt er, was die Teekanne ist und was die Tasse. Der Schatten einer Wolke wandert über den Rasen. Ich kneife die Augen zusammen. Major Kiyani nimmt seine Pistole. Noch ehe der Schuss peitscht, höre ich seinen dröhnenden Ruf.
„Ich bin’s, Genosse. Ich bin Colonel Shigris Sohn.“