Die erste Monsunböe traf die Krähe im östlichen Pandschab, auf der falschen Seite der pakistanischen Grenze. Sie war gerade dabei, sich an einem gelben Meer von Senfblüten zu stärken. Sie hatte einen angenehmen Sommer verbracht und war fett geworden. Sämtliche Überfälle von Brahminenweihen hatte sie auch überlebt. Die waren die unangefochtenen Herrscher der Gegend und benahmen sich, obwohl sie wie Adler aussahen, wie Geier. Ungeachtet ihres erlauchten Namens zeigten sie keinerlei Interesse an der üppigen Vegetation. Stattdessen machten sie Jagd auf gemeine Krähen wie unsere Besucherin von jenseits der Grenze. Die Krähe schrieb es ihrer eigenen Klugheit zu, dass sie überlebt hatte, aber der Fluch, dessen Trägerin sie war, sah einen dramatischeren Tod für sie vor. Bei lebendigem Leibe von einer Bande gieriger Weihen gefressen zu werden, denen jegliche Achtung vor Diätvorschriften fehlte, war nicht ihr Schicksal.
Etwa zweihundert Kilometer von dem Senffeld entfernt, in Zelle 4 der Festung von Lahore, legte die Blinde Zainab gerade ihren Gebetsteppich zusammen, als sie ein Rascheln vernahm. Es kam von einer kleinen Schlange, wahrscheinlich nicht dicker als ihr Mittelfinger, aber Zainabs Ohren registrierten die kaum hörbare Bewegung sofort. Sie erstarrte für eine Sekunde, dann zog sie ihre Sandale aus und wartete, bis die Schlange sich wieder bewegte. Wie sie es schon als Kind gelernt hatte, schlug sie erst zu, als sie ihr Ziel präzise orten konnte. Sie tötete die Schlange mit drei gezielten Schlägen. Die Sandale noch in der Hand, blieb sie ruhig stehen, bis ihre Nase einen Hauch vom Fleisch der toten Schlange auffing. Der Geruch ihres Blutes breitete sich in Zainabs Verlies aus. Ihre Kopfschmerzen kehrten mit Macht zurück, zwei unsichtbare Fäuste hämmerten mit zermürbender Monotonie gegen ihre Schläfen. Sie sank gegen die Mauer ihrer Zelle, warf die Sandale von sich und fluchte leise. Sie verfluchte den Mann, der sie in diesen tiefen Kerker geworfen hatte, wo es niemanden gab, mit dem sie reden konnte, und wo sie gezwungen war, unsichtbare Geschöpfe zu töten, um zu überleben. „Möge dein Blut zu Gift werden. Mögen Würmer deine Eingeweide zernagen.“ Die Blinde Zainab presste die Handflächen gegen ihre Schläfen.
Ihr Flüstern reiste durch die uralten Luftschächte der Festung und entfloh, bewegte sich mit dem tropischen Tiefdruckgebiet über dem Arabischen Meer auf die Grenze zu.
Die Monsunwinde riefen eine gewisse Rastlosigkeit in der Krähe hervor, und sie stieg in größere Höhen auf und segelte mit dem Wind. Die Luft war schwer von Feuchtigkeit, sodass die Krähe, obwohl sie den ganzen Tag flog, ohne anzuhalten, nicht einmal Durst bekam. Die Nacht verbrachte sie an einer Grenzstation zwischen Indien und Pakistan, wo sie sich an einem Tontopf mit Reispudding labte, den die Soldaten zum Abkühlen in einem Korb an eine Wäscheleine gehängt hatten. Die Krähe schlief auf der Leine sitzend, den Schnabel in den Pudding getaucht. Am nächsten Tag überquerte sie eine unfruchtbare, dürre Landschaft, für die der Monsun nicht mehr als ein leeres Versprechen war. Der Schnabel der Krähe war ausgedörrt. Sie flog langsam, hielt Ausschau nach Hinweisen auf eine Vegetation und landete schließlich an einem verlassenen ausgetrockneten Brunnen, wo sie an einem halbverwesten Spatzenkadaver fraß. Dieses Mittagessen brachte die Krähe beinahe um. Geplagt von Durst und Bauchschmerzen, wich sie von ihrer Route ab und folgte dem Wind, bis sie am Horizont Lichter blinken und Rauchsäulen aufsteigen sah. Abwechselnd zog sie den linken oder den rechten Flügel ein und schleppte sich voran wie ein verwundeter, aber tapferer Soldat. Am Morgen erreichte sie ihr Ziel. Die Lichter erloschen und der Sonnenaufgang brachte den wundervollen Duft überreifer Mangos. Im Sturzflug schoss die Krähe auf den Hain zu. Plötzlich kam aus einer Lehmhütte ein jagdlustiger kleiner Junge mit einer Schleuder gerannt. Noch ehe die Krähe die Flucht ergreifen konnte, traf ein Stein sie am Schwanz, und sie musste sich in Sicherheit bringen. Ihre Rastlosigkeit hatte sich gelegt. Der Instinkt und die Bestimmung der Krähe vereinten sich und sagten ihr, sie müsse einen Weg finden, um in diesem Mangohain zu bleiben.
Das Schicksal der Krähe war mit dem zweier großer Aluminiumvögel verknüpft, die in diesem Moment achthundert Kilometer entfernt im Hangar der VIP-Beförderungsstaffel der pakistanischen Luftwaffe einer letzten Wartung unterzogen wurden. Die Motoren waren überprüft, das Verschleißprofil war für gesund befunden, alle Kontrollsysteme auf etwaige Störungen untersucht worden. Die Maschinen vom Typ Hercules C-130 waren in gutem Zustand und voll einsatzfähig. Gemäß den Sicherheitsvorschriften des Präsidenten sollte die Maschine, in der General Zia zu einer Panzervorführung in der Garnison 5 in Bahawalpur fliegen sollte, erst wenige Stunden vor dem Start ausgewählt werden. Die dreieinhalb Meter lange VIP-Kapsel aus Fiberglas wurde von Lademeister Stabsfeldwebel Fayyaz persönlich einer strengen Hygienebehandlung unterzogen. Von außen sah die Kabine aus wie eine der glänzenden Kapseln, die die NASA ins Weltall schießt. Ihr Inneres glich dem kompakten Büro eines Gangsterbosses. Fayyaz entstaubte die beigefarbenen Ledersessel mit Velourkopfstützen und saugte den flauschigen weißen Teppichboden. Er polierte die leere Aluminiumbar und legte einen Koran in das Getränkeregal. Es war Vorschrift, dass sich in allen Fahr- und Flugzeugen, die den General beförderten, ein Koran befand. Nicht, dass er unterwegs daraus rezitierte. Er hielt ihn trotz all der ausgeklügelten Sicherheitsvorkehrungen für einen zusätzlichen Schutz. Stabsfeldwebel Fayyaz musste nur noch neuen Luftverbesserer im Schacht der Klimaanlage verteilen. Danach war die Kapsel bereit. Aus Sicherheitsgründen wurde sie erst sechs Stunden vor dem Abflug in eines der beiden Flugzeuge eingepasst, das erst dann zur Präsidentenmaschine wurde und die Flugbezeichnung Pak One erhielt. Stabsfeldwebel Fayyaz hatte noch genügend Zeit, ein zweites Mal abzustauben und alles blitzblank zu polieren, ehe er bei Major Kiyani, dem Nachschuboffizier von der VIP-Beförderungsstaffel, den neuen Luftverbesserer holte.
Die Krähe kreiste außer Reichweite der Schleuder über dem Obstgarten, bis der Junge einen rotschnäbligen Sittich entdeckte und ins Visier nahm. Ein kurzer Sturzflug, und die Krähe landete auf dem obersten Ast des höchsten Mangobaumes. Im Schutz seiner dunkelgrünen Krone stieß sie ihren Schnabel in die erste Mango. Wie ihr Duft es verhieß, war sie überreif und voll mit süßem, süßem Saft.
Als man mich ins Büro des Kommandanten zitiert, bringe ich gerade zwei Mitgliedern meines Silent-Drill-Teams bei, den Inder zu machen. Dabei müssen sie, Füße und Kopf auf den Boden gestemmt, eine Drehung um dreihundertsechzig Grad vollziehen. Die Hände sind in die Luft gestreckt. Ich habe die beiden beim Tuscheln während des Silent Drills erwischt und erteile ihnen nun eine Lektion in der Tugend des Schweigens. Sie ächzen und stöhnen wie die letzten Jammerlappen. Wahrscheinlich bereiten ihnen die Cola-Kronkorken, die ich ihnen unter die Mützen gelegt habe, zusätzliches Unbehagen. Falls sie sich eingebildet haben, meine Erfahrungen hätten mich weichherzig gemacht, mussten sie diese Ansicht definitiv widerrufen. Mit oder ohne Bannon, die Drillvorschriften werden nicht geändert. Wer glaubt, ein paar Tage Knast würden einen Soldaten in einen Heiligen verwandeln, sollte einmal eine Woche in der Festung verbringen. Nur Zivilisten lernen ihre Lektion hinter Gittern, ein Soldat bleibt ein Soldat. Ich stecke meine halb gerauchte Zigarette dem, der am lautesten jammert, in den Mund. Er wedelt mit den Händen und stöhnt noch lauter, als der Rauch ihm in die Nase zieht. „Dir muss man endlich mal Haltung beibringen“, sage ich und mache mich auf den Weg ins Büro des Kommandanten.
Der Kommandant hat uns in Gnaden wiederaufgenommen, als wären wir seine verlorenen Söhne. Am Abend unserer Rückkehr vom Shigri Hill stellte er sich in die Tür unserer Stube und blickte uns nachdenklich an. Obaid und ich standen neben unseren Betten stramm. „Ich mag es nicht, wenn man mir meine Jungs wegnimmt“, sagte der Kommandant gedämpft. Seine Stimme triefte vor väterlicher Besorgnis. Als wären wir nicht zwei gerade entlassene Kerkerhäftlinge, sondern ein Paar Lausbuben, die zu spät nach Hause gekommen sind. „Soweit es mich angeht und auch die Akademie, wart ihr bei einem Überlebenstraining im Dschungel. Was wahrscheinlich gar nicht so weit von der Wahrheit entfernt liegt.“
Sein Sandhurst-Getue war mir immer zuwider gewesen, aber nun klangen seine Worte weder zurechtgebastelt noch einstudiert, sondern als ob er wirklich meinte, was er sagte. Ich empfand nicht den üblichen Widerwillen, als er davon sprach, alles hinter uns zu lassen und einen Schlussstrich unter die ganze Affäre zu ziehen. Schon halb im Gehen, fragte er leise: „Ist das klar?“ Wir beiden antworteten in Lautstärke 5: „Ja, Sir!“ Das riss ihn für einen Augenblick aus seiner Niedergeschlagenheit, und er ging mit einem stolzen Lächeln davon.
„Wieder ein General, der deinen Papi spielen möchte“, sagte Obaid giftig und ließ sich rückwärts auf sein Bett fallen.
„Das Gefängnis hat einen Zyniker aus dir gemacht, Baby O. Wir sind doch alle eine große Familie.“
„Ja“, sagte er und versteckte sein Gähnen hinter einem Buch. „Eine große Familie. Ein großes Haus. Mit vielen netten Verliesen.“
Was kann der Kommandant jetzt von mir wollen? Einen Bericht über die Fortschritte des Silent-Drill-Teams? Oder erwartet mich eine weitere Predigt über das Gefängnis als Schule des Lebens? Hat sich jemand über meine neue Vorliebe für Kronkorken beschwert? Ich rücke mein Barett und meinen Kragen zurecht. Mit einem enthusiastischen Salut betrete ich das Büro.
Der Kommandant hat eine Lesebrille auf der Nasenspitze und salutiert mit zwei Fingern. Er wirkt noch aufgeräumter als ich. Die Stimmung im Raum verheißt eine gute Nachricht. Hat er seinen dritten Stern bekommen? Aber sein Strahlen gilt mir. Ich scheine die Quelle seiner himmelhoch jauchzend guten Laune zu sein. Er schwenkt ein Blatt Papier durch die Luft und sieht mich verschmitzt an. Raten Sie mal, sagt sein Blick.
„Sie müssen gewaltigen Eindruck auf die hohen Tiere gemacht haben“, sagt er, offenbar ein wenig erstaunt über den Inhalt des Schreibens.
„‚Das Silent-Drill-Team hat die Ehre, am 17. August in der Garnison 5 in Bahawalpur aufzutreten. Die Veranstaltung findet im Anschluss an eine Panzervorführung statt‘“, liest er laut vor und schaut in Erwartung eines Freudentanzes zu mir auf.
Was soll das? Sind wir ein Elite-Drill-Team oder ein verdammter Wanderzirkus? Sollen wir etwa von Cantonment zu Cantonment ziehen und die Truppen unterhalten? Wo liegt überhaupt diese Garnison 5?
„Es ist mir eine Ehre, Sir.“
„Sie wissen noch nicht mal die Hälfte, junger Mann. Der Präsident selbst wird anwesend sein und der amerikanische Botschafter. Und wenn der Chef kommt, können Sie damit rechnen, dass alles, was Orden hat, aufmarschiert. Sie haben recht. Das ist eine Ehre.“
Ich fühle mich wie einer, den man als Toten unter einem Berg Leichen liegen gelassen hat, und der nun hört, wie jemand seinen Namen ruft. Wie wahrscheinlich ist es, dass der Strick reißt, ehe das Genick bricht? Wie viele Attentäter bekommen eine zweite Chance?
„Das verdanken wir allein Ihrem Kommando, Sir.“
Er zuckt die Achseln, und mir ist sofort klar, dass er nicht eingeladen ist.
Zum ersten Mal wird mir bewusst, dass der Mann mit dem ergrauenden Haar, der maßgeschneiderten Uniform und dem nackten Ehrgeiz sich einbildet, mir sei Unrecht getan worden. Er hat gewaltige Schuldgefühle. Es ist gut, einen Trottel wie ihn auf seiner Seite zu haben. Das Deprimierende an seiner kerzengeraden Haltung und daran, wie er mir entgegenschlurft und die Hände auf die Schultern legt, ist, dass er jedes Wort, das er sagt, auch meint. Er ist stolz auf mich. Er möchte, dass ich erreiche, was er selbst gern erreicht hätte.
Über seine Schulter hinweg betrachte ich die Vitrine mit den Trophäen. Man hat den Bronzemann nach rechts verschoben. Die Statue eines Fallschirmspringers nimmt nun seinen Platz ein. Der Fallschirm ist aus Silberfolie und mit silbernen Drähten am Harnisch des Mannes befestigt, der mit beiden Händen die Reißleinen umfasst und nach oben in den Fallschirm blickt.
Die Temperatur im Raum scheint um einige Grade zu fallen, als ich die Inschrift auf dem glänzenden schwarzen Holzblock lese, auf dem die Figur montiert ist: Zum Andenken an Fallschirmspringer Brigadier TM.
„Tun Sie Ihr Bestes, junger Mann.“ Die Hände des Kommandanten auf meinen Schultern wiegen schwer, und seine Stimme erinnert mich an Colonel Shigris whiskytrunkene Worte. Beim Verlassen des Büros salutiere ich übertrieben vor dem 2. OIC und laufe im Eilschritt zur Kaserne.
Ich weiß, dass die Ampulle noch da ist, in meiner Uniformwartungstasche, sicher verwahrt zwischen einer Tube Messingpolitur und der Stiefelwichse, ein harmloses Fläschchen. Ich weiß, dass es noch da ist, weil ich ein paar Mal überlegt habe, ob ich es wegwerfen soll, aber nicht dazu imstande war. Ich weiß, dass es da ist, weil ich es mir jeden Morgen anschaue. Jetzt muss ich es mir noch einmal ansehen, es in der Hand halten und meine Säbelspitze hineintauchen. „Je älter der Nektar, desto besser.“ Onkel Starchys geflüsterte Worte fallen mir ein. „Er wird sämiger und breitet sich langsamer aus. Aber ein armer Mann wie ich kann es sich nicht leisten, ihn so lange aufzubewahren.“ Ich werde herausfinden, ob Onkel Starchys Nektar gereift ist. Wie er die Spitze meines Säbels verfärbt. Ob mein Gefühl für den Stahl – mein Sentiment du fer – noch lebendig ist oder schon tot?
Unfälle beim Silent Drill sind selten, aber es soll schon vorgekommen sein.