Dreißig

General Akhtar kritzelte mit der Inbrunst eines Mannes, der genau weiß, was er sagen will, aber nicht den richtigen Ton trifft, auf einem Blatt Papier herum. Immer wieder huschten seine Augen zu dem grünen Telefon, das er direkt vor sich in den kleinen Wald aus Tischflaggen gestellt hatte. Sie repräsentierten seine mannigfaltigen Verpflichtungen gegenüber Armee, Marine, Luftwaffe und verschiedenen paramilitärischen Einheiten. Als Oberhaupt des Inter Services Intelligence hatte er nie auf einen Anruf warten müssen, schon gar nicht auf eine so läppische Information wie diese. Doch nun, als Vorsitzender des Generalstabs, stand er strategischen Besprechungen vor und weihte eine Wohnanlage für Offiziere nach der anderen ein. Von General Zias Unternehmungen erfuhr er mitunter erst aus der Zeitung. All das ärgerte ihn, aber er hatte ein gepflegtes Desinteresse an den Angelegenheiten des Geheimdienstes einstudiert. „Ich bin glücklich, meinem Land dienen zu können, in welcher Eigenschaft mein Chef es auch wünscht“, sagte er, sooft er mit General Zia zusammentraf. Die Information, auf die er wartete, war leicht zu bekommen. Es gab zwei Flugzeuge und nur eine VIP-Kapsel. Alles, was er wissen wollte, war, in welche der beiden Maschinen die Fiberglaskapsel integriert, welche der beiden Pak One werden würde. Er musste gar nicht darüber nachdenken, sondern versuchte, sich auf den letzten Satz seiner Ansprache zu konzentrieren.

Es würde eine schlichte Rede werden. Knapp und aussagekräftig. Er würde sich nicht in weitschweifigen Förmlichkeiten ergehen wie General Zia – „Meine Brüder und Schwestern, meine Onkel und Tanten …“. Seine Botschaft war kurz. Mit zehn Zeilen, für die er nicht mehr als anderthalb Minuten brauchte, würde er den Lauf der Geschichte ändern. „Meine Landsleute. Die Maschine unseres geliebten Präsidenten hatte kurz nach ihrem Start in Bahawalpur einen unglückseligen Unfall …“

Er las den Satz noch einmal. Er erschien ihm nicht sehr glaubwürdig. Irgendetwas daran klang unecht. Wahrscheinlich sollte er erklären, was geschehen war. Technisches Versagen? Er konnte unmöglich von Sabotage sprechen, aber er konnte eine Andeutung machen. Er strich die Worte „hatte einen unglückseligen Unfall“ und ersetzte sie durch „explodierte“. Das klang anschaulicher. Er schrieb einen weiteren Satz an den Rand. „Wir sind von Feinden umgeben, die unser Land vom Weg des Erfolgs abdrängen wollen …“ Er beschloss, doch bei dem „unglückseligen Unfall“ zu bleiben, fügte aber hinzu: „Die Ursachen für diesen tragischen Absturz sind nicht bekannt. Eine Untersuchung ist bereits angeordnet, und die Schuldigen, sofern es welche gibt, werden gemäß den Gesetzen unseres Landes und so schnell es geht ihrer gerechten Strafe überantwortet werden.“

Geistesabwesend nahm er den Hörer ab. Das Telefon funktionierte noch. Er dachte lange und gründlich über den Schlusssatz seiner Rede nach. Etwas, das alles miteinander verband, etwas Originelles, etwas Erhebendes. Unter Zia hatte zu viel Frömmelei geherrscht. Die Amerikaner würden eine nette, säkulare Geste vielleicht zu schätzen wissen, etwas Kluges, Beruhigendes und Zitierbares. Er schwankte noch zwischen „wir als ein Frontstaat gegen die sich erhebende Woge des Kommunismus“ und „wir als ein Frontstaat gegen die Flut des Kommunismus“, als das Telefon läutete. Ohne Einleitung gab Major Kiyani ihm einen Wetterbericht durch. „Zwei Tiefdruckgebiete, die sich im Süden gesammelt haben, ziehen nach Norden. Delta Eins wird definitiv Delta Zwei überholen.“ Statt den Hörer aufzulegen, drückte General Akhtar seinen Zeigefinger auf die Gabel und ging im Geiste eine Liste durch, die er schon so oft wiederholt hatte, dass er sie nicht mehr objektiv betrachten konnte. Er beschloss, sie noch einmal von hinten durchzugehen.

9.  Ansprache an die Nation: fast fertig.

8.  Schwarzer Shervani für die Rede an die Nation:
gebügelt und anprobiert.

7.  Reaktion der US: vorhersehbar.
Arnold Raphel anrufen und beruhigen.

6.  Ort, an dem mich die Nachricht erreichen soll:
bei der Einweihung des neuen Offizierskasinos im Hauptquartier.

5.  Falls der junge Shigri etwas unternimmt:
Problem vor dem Start gelöst. Wenn der Junge Mist baut: mit dem ursprünglichen Plan fortfahren.

4.  Der Luftverbesserer wirkt nicht: nichts passiert.

3.  Der Luftverbesserer wirkt: keine Überlebenden.
KEINE AUTOPSIEN.

2.  Hat er den Tod verdient? Er ist zu einer existentiellen
Bedrohung für unser Land geworden.

1.  Bin ich bereit für die Verantwortung, die Allah sich mir zu übertragen anschickt?

General Akhtar schüttelte langsam den Kopf und wählte eine Nummer. Ohne Begrüßung las er den Wetterbericht vor, machte eine Pause und sagte dann, bevor er den Hörer wieder auflegte, mit lauter klarer Stimme: „Lavendel.“

Plötzlich überkam ihn große Müdigkeit. Über den Schlusssatz seiner Rede würde er morgen entscheiden. Vielleicht kam ihm im Traum eine Offenbarung. Bevor General Akhtar zu Bett ging, öffnete er seinen Schrank und betrachtete lange den schwarzen Shervani, in dem er am nächsten Tag vor die Nation treten würde. Die Hoffnung, den Schlusssatz für seine Rede im Traum zu erfahren, wurde nicht erfüllt. Er schlief den Schlaf eines Mannes, der weiß, dass er als König erwachen wird.

Geweckt wurde er vom roten Telefon an seinem Bett. Ein Anruf von General Zia. „Bruder Akhtar. Vergeben Sie die frühe Störung, aber ich muss heute die wichtigste Entscheidung meines Lebens treffen. Ich brauche Sie an meiner Seite. Sie können mit mir fliegen. Pak One steht bereit.“

In der C-130, die mein Silent-Drill-Team befördert, stinkt es nach Tierpisse und ausgelaufenem Treibstoff. Meine Jungs sitzen auf den einander gegenüberliegenden Bänken aus Synthetikgeflecht. Sie haben die Beine ausgestreckt, um die Bügelfalten ihrer gestärkten Uniformen zu schonen. Ihre Schirmmützen tragen sie in Plastiktüten bei sich, damit die goldgewirkten Embleme der Luftwaffe ihren Glanz behalten. Obaid vergräbt sein Gesicht seit dem Start in einem dünnen Buch. Ich werfe einen Blick auf den Einband. Eine derbe Zeichnung von einer dicken Frau ist darauf, und ein Teil des Titels ist von Obaids Hand verdeckt. … eines angekündigten Todes. Mehr kann ich nicht lesen.

„Was ist das?“ Ich nehme ihm das Buch aus der Hand, schlage die erste Seite auf und lese den ersten Satz.

„Stirbt dieser Nasar tatsächlich?“

„Ich glaube ja.“

„Aber das steht doch schon im ersten Satz. Warum weiterlesen, wenn man weiß, dass der Held am Ende stirbt?“

„Um zu sehen, wie er stirbt. Was seine letzten Worte sind. So was eben.“

„Du bist pervers, Kamerad.“ Ich werfe das Buch nach ihm.

„Wie wär’s mit einer Probe?“, rufe ich über das Getöse der Maschine hinweg.

Meine Staffel sieht mich mit müden Augen an. Obaid flucht unterdrückt. Lustlos stellen die jungen Männer sich in der Mitte der Kabine auf. Ich sehe, dass sie nicht mit dem Herzen bei der Sache sind. Ein stinkendes Flugzeug, das kürzlich noch kranke Tiere transportiert hat und in zwanzigtausend Fuß Höhe fliegt, ist nicht gerade die ideale Kulisse für unsere elegante Silent-Drill-Choreographie. Doch wer nach Vollkommenheit strebt, kann nicht auf die bestmöglichen Umstände warten.

Wir sind mitten in einem Gewehrsalut, als die Maschine in Turbulenzen gerät. Ich beobachte die Reaktionen meiner Jungs. Trotz des plötzlichen, von regelrechtem Erschauern der Maschine gefolgten Höhenverlustes gelingt es ihnen, die Gewehre und sich selbst in Position zu halten. Ich hebe den Griff meines Säbels an die Lippen. Onkel Starchys Nektar hat seine Spitze stahlblau gefärbt. Ich stecke die Waffe in die samtgefütterte Scheide zurück und lasse die jungen Männer dabei nicht aus den Augen. Die Maschine kippt um dreißig Grad, ich rutsche auf die Staffel zu und versuche, das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Obaid legt mir den Arm um die Hüfte, um mich festzuhalten. „Setzen Sie sich bitte, Sir. Wir befinden uns im Landeanflug“, ruft der Lademeister aus dem hinteren Teil der Maschine.

Meine innere Stimme sagt mir, dass meine Mission nun beginnt. Mein in Gift getauchter Säbel verkündet mir seine Bereitschaft.

In Rawalpindi brach ein Toyota Corolla ohne Kennzeichen in Richtung Bahawalpur auf. Der Fahrer hatte vor, die etwa achthundert Kilometer in fünfeinhalb Stunden zurückzulegen. Wer dem Wagen und seinem wahnwitzigen Chauffeur begegnete, war überzeugt, der Mann werde die nächsten zehn Kilometer nicht überleben. Er überfuhr streunende Hunde und trieb die Kühe auseinander, die in den Müllhaufen der Vorstädte stöberten. Er raste über belebte Stadtkreuzungen hinweg, schoss bedrohlich an die kriegerischsten Lastwagenfahrer heran und überholte sie. Er hielt auch nicht an, wenn Kinder am Zebrastreifen standen, hupte langsame Pferdewagen aus dem Weg, scherte aus, schlenkerte an öffentlichen Bussen vorbei, überfuhr Bahnübergänge, und wenn eine Straße verstopft war, bretterte er über den Fußweg. Ein Eintreiber von Straßenzoll verfolgte ihn vergeblich und Straßenarbeiter verfluchten ihn. Als er tanken musste, verließ er die Tankstelle, ohne zu zahlen. Der Fahrer des Toyota war offensichtlich in Eile. Viele, die den Wagen vorbeizischen sahen, hielten den Mann für einen Selbstmörder. Da irrten sie sich.

Nichts hätte Major Kiyani ferner liegen können. Sein Ziel war es, Leben zu retten.

Er hatte die letzte Reinigung der VIP-Kapsel persönlich überwacht und den Luftverbesserer mit Lavendelduft in den Schacht der Klimaanlage gefüllt. Er war dabei, als die Kabine von einem Kran angehoben, über die rückwärtige Rampe in den Rumpf der C-130 gerollt und von Technikern der Luftwaffe am Boden der Maschine befestigt wurde. Als General Zias Gefolge eintraf, musste er den VIP-Bereich verlassen und sich in sein Büro zurückziehen. In seiner neuen Position war er nicht autorisiert, sich in der Nähe des roten Teppichs aufzuhalten.

Erst als Pak One vom Militärflughafen in Rawalpindi in Richtung Bahawalpur gestartet war, legte Major Kiyani die Füße auf den Tisch und zündete sich eine Dunhill an. Er warf einen beiläufigen Blick auf die Passagierliste, die man vor dem Start von Pak One dorthin gelegt hatte. Mit einem Ruck nahm er die Füße vom Tisch, als er direkt unter General Zias Namen den General Akhtars las. Wie die meisten Geheimdienstveteranen war er der Ansicht, dass man nur wissen sollte, was man unbedingt wissen musste. General Akhtar wusste bestimmt, wann er Pak One zu besteigen und wann wieder zu verlassen hatte. Er kannte den größeren Zusammenhang. Major Kiyani las die Namen von achtzehn höheren Militärs, dann stieß er auf den eines Zivilisten: Mr. Arnold Raphel, US-Botschafter. Kiyani stand auf. Warum befand sich der amerikanische Botschafter an Bord des Militärflugs Pak One statt in seiner eigenen Cessna?

Angst war Major Kiyanis Handwerkszeug. Er wusste, wie man sie erzeugt und wie man sich davor schützt. Doch die Angst, die er jetzt empfand, war eine andere. Er setzte sich wieder hin. Er zündete sich eine Dunhill an und merkte zu spät, dass im Aschenbecher bereits eine Zigarette schwelte. Hatte er General Akhtars Anweisungen nicht richtig verstanden?

Er brauchte noch acht Minuten und eine Dunhill bis zu der Erkenntnis, dass seine Möglichkeiten begrenzt waren. Er konnte keinen Anruf tätigen, ohne seinen eigenen Namen für immer in die Akten zu bringen. Er konnte keinen Alarm auslösen, ohne in diese Sache verwickelt zu werden. Das Einzige, was er tun konnte, war physisch anwesend zu sein, ehe Pak One den Rückflug antrat. Er musste dort sein und mit General Zia sprechen, ehe dieser wieder an Bord der Maschine ging. Wenn General Akhtar seine Spielchen mit der Pak One trieb, betraf das die innere Sicherheit. Falls General Akhtar jedoch plante, die Maschine mit dem amerikanischen Botschafter an Bord zum Absturz zu bringen, bedrohte dies die Existenz der Nation, und es war Major Kiyanis Pflicht einzugreifen. Er hatte das Gefühl, der Einzige zu sein, der zwischen diesem friedlichen Augusttag und dem Beginn des Dritten Weltkrieges stand. Noch einmal las er die Passagierliste durch und fragte sich, wer noch in der Maschine war. Alle? Oder vielleicht keiner?

Die Zeit für raffinierte Ratespiele war definitiv abgelaufen.

Nach einem raschen Blick auf den zivilen Flugplan erkannte er, dass es ausgeschlossen war, einen Flug in die Nähe von Bahawalpur zu bekommen. Er überlegte, ob er telefonieren und ein Flugzeug der Luftwaffe organisieren sollte, aber dazu müsste ein General ihn autorisieren, und in Bahawalpur würde man ihn ohnehin niemals landen lassen. Also nahm er den Schlüssel zu seinem Corolla und eilte zur Tür, während er einen Blick auf seine Uhr warf. Ihm wurde klar, dass er eine Uniform tragen musste. Kein Zivilist konnte eine so lange Fahrt unternehmen, ohne unterwegs ein Dutzend Mal angehalten zu werden. Außerdem musste er durch General Zias Sicherheitskontrollen gelangen, was ohne Uniform völlig unmöglich wäre. Er holte eine aus dem Büroschrank. Sie war gestärkt und gebügelt, aber von einer dicken Staubschicht bedeckt. Er wusste nicht mehr, wann er sie zum letzten Mal getragen hatte. Die Khakihose war zu steif und viel zu eng um die Mitte. Also ließ er den Knopf offen und verbarg diese Lösung unter dem Hemd. Er nahm die staubigen Armeestiefel aus dem Schrank, aber die Zeit wurde knapp, und im Wagen würde sowieso keiner seine Füße sehen. Er beschloss, seine Peshawari-Sandalen anzubehalten. Er vergaß auch nicht, sein Halfter umzuschnallen. Bei einem letzten Blick in den Spiegel stellte er befriedigt fest, dass ihn ungeachtet der schlecht sitzenden Uniform, der langen Haare und der Sandalen niemand für etwas anderes halten würde als einen Major in Eile.