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Es gibt durchaus unterschiedliche Auffassungen

von Liebe und dem Sinn von Treue

Die Party war vorbei. Ein Taxi brachte die letzten Gäste fort, was stets eine grässliche Leere in Marie hinterließ, nachdem sie sich stundenlang in einem Bad aus oberflächlichen Komplimenten, aufgefüllt mit Champagner, gesuhlt hatte. Bis in den frühen Morgen hatten sie Musik gemacht. Willi hatte mit seinem Klavierspiel alle verzaubert, keinen Gassenhauer ausgelassen. Es war ein gelungenes kleines Fest gewesen – ohne Anlass und höheren Zweck. Bis auf Wasser waren alle Getränke mitgebracht worden, nachdem es sich wie ein Lauffeuer verbreitet hatte, wie desaströs die finanzielle Lage der Gastgeber auf einmal war. Man hatte das große Terrassenzimmer nebst Terrasse sowie den Garten in Beschlag genommen, und ein letztes Mal hatte Marie ihre polnische Haushaltshilfe und deren Freundin gebeten, für Küche und Service zu sorgen. Ab der nächsten Woche würde Marie den Haushalt allein bestreiten, wofür sie ein befreundeter Arzt bereits mit einer Klinikpackung Einmalhandschuhe eingedeckt hatte.

Partys wirkten wie Psychopharmaka, konnten so wunderbar manisch machen. Das Leben ein Fest. Es war schmerzhaft, ja, beleidigend, wie schnell und vehement die Manie ihren Kontrapunkt einforderte. Und es stank nach Verrat, dass ein schallendes Lachen sich ohne Erlaubnis aus dem Staub machte. Eben noch waren beginnende Krähenfüße Ausdruck charmanter Reife gewesen, mit dem letzten Taxi waren sie plötzlich ein Zeichen von Müdigkeit, schlechtem Lebenswandel und Verfall.

Marie spürte, wie sich die Depression einen Weg bahnen wollte, und ging dagegen an. Sie drapierte ihre Füße auf Martins Oberschenkel und goss sich ein letztes, vielleicht vorletztes Glas warm gewordenen Champagners ein. Ihr weißer Rock glitt langsam über die Knie nach oben und gab den Blick auf noch weißere Spitze frei.

»Weißt du was?«, fragte sie, die Stimme tief und verführerisch. »Ich liebe dich.«

Ungerührt nahm Martin einen Schluck aus seiner Bierflasche. »Immer wenn du sagst, dass du mich liebst, bist du betrunken, und dein Blick schweift in die Ferne. Bist du sicher, dass du mich meinst? Irgendjemanden liebst du, das glaube ich, aber nicht mich.«

Marie begann zu schmollen. Sie hatte sich aufgerafft, etwas Nettes zu sagen, um vor sich selbst ihre Leere zu verbergen, und Martin unterbrach nun ernsthaft dieses Spiel, für das sie doch allmählich Akzeptanz erwarten durfte.

»Ach du immer mit deiner Liebe«, jetzt drehte sie den Spieß um, »was heißt das schon! Wo steht denn bitteschön geschrieben, was das überhaupt ist? Klar liebe ich dich! Du willst es nur nicht wahrhaben, dass es eben unterschiedliche Arten von Liebe gibt. Ich meine, ich liebe meine Kinder, zum Beispiel. Meine Mutter auch und meine Geschwister. Und dich auch. Warum nicht?«

Martins Gesicht nahm einen zynischen Zug an, was Marie zu einem kritischen Anheben ihrer linken Braue veranlasste. »Nein, Schnuckelpuppe. Du liebst es, geliebt zu werden, möglichst von dem ganzen Rest der Welt. Natürlich will ich nicht abstreiten, dass du deine Familie liebst – auch mich von mir aus irgendwie. Aber wenn du mich so lieben würdest, wie es normal wäre bei einem Ehepaar, dann müsstest du nicht so oft und so offensichtlich auf die Jagd gehen und dir Bestätigung für was auch immer holen. Dann würde ich dir genügen. So wie du mir genügst. Aber du genügst dir selbst ja nicht im Mindesten. Und rede dich nicht mit Definitionsfragen heraus. Hast ausgerechnet du die Kompetenz, Liebe zu definieren?«

»Da sieht man mal wieder, wie blöd und einfach gestrickt du bist. Unsinn ist das! Entweder hat jeder Mensch die Kompetenz, Liebe zu definieren, oder niemand. Wenn das eben meine Art von Liebe ist, dann ist die genauso gültig und kann nicht angezweifelt werden. Ebensowenig wie deine antiquierte Art von Liebe. Wenn du meinst, zur wahren Liebe gehört es, immer treu zu sein, dann bitte. Das zweifele ich ja auch nicht an, obwohl ich es selten dämlich und etwas schlicht finde. Schließlich sind wir ja keine Enten, du Spießer.«

Martin wusste, wenn er jetzt seiner Müdigkeit nachgab und ins Bett ging, würden er oder, schlimmer noch, die Kinder Marie morgen früh abermals vom Parkett kratzen müssen. Und dessen war er noch müder. »Meine antiquierte Art von Liebe ist aber notwendig, deine innovative Art von Liebe zu ertragen, mein Schatz. Sei du mal mit jemandem zusammen, der deine Auffassung von Liebe teilt – na, gute Nacht! Du könntest gar nicht so schnell gucken, wie die Beziehung wieder beendet wäre. Gegenseitig zerfleischen würdet ihr euch nach drei Wochen lustigen Auslebens. Davon abgesehen, dass ich nicht weiß, was solch eine Beziehung dann überhaupt soll. Aber das wirst du mir bestimmt gleich wieder erklären. Kannst dir die Energie aber auch sparen. Ich will dir nur sagen, dass ich keine Ahnung habe, wie lange ich das alles noch mitmachen kann. Vielleicht noch lange, vielleicht aber auch nicht.«

Marie bemühte sich sehr, nach Martins letzter Ansage beleidigt zu wirken. Sie stand auf, setzte sich rittlings auf die mit rotem Samt bezogene Klavierbank und stützte sich mit nach hinten ausgestreckten Armen ab. »Ah, jetzt kommst du wieder mit deiner Eifersucht und deinen Drohungen. Ich will dir mal was sagen: Ich verlasse dich nicht. Und du verlässt mich erst recht nicht. Weil du nämlich keine Frau findest, die deine Ansprüche und Neigungen erfüllt und trotzdem brav wie ein Schaf ist. Gibt’s nicht. Kannst du vergessen. Und außerdem verstehen wir uns, das ist doch auch nicht zu verachten. Ganz davon abgesehen, dass auch noch zwei Kinder versorgt werden wollen. Du wirst ja wohl damit leben können, dass ich mich ab und zu auch mit anderen Menschen unterhalte! Mein Gott, eigentlich ist diese ewige Diskussion darüber mehr als lächerlich. Ich meine, was erwartet man denn vom Leben? Treue? Ist das alles? Fünfundachtzig Jahre lang Treue? Wie aufregend! Was willst du sagen, wenn du in die Grube fährst? Ich war treu? Soll das irgendeine Qualität sein? Ich sage dir, nicht einmal Petrus nimmt dich dann! Nicht himmelfähig bist du, wenn du einem Vogel das Fliegen verbietest!«

»Du meinst das Vögeln, Schatz.«

Die Bitterkeit, mit der Martin das Wort »Schatz« aussprach, ließ Marie in ihrer Parade innehalten. Es war ihr neu, dass Martin ernsthaft verbittert war, und einen Moment lang hatte sie das Gefühl, er könnte tatsächlich über eine Trennung nachdenken.

Sie beugte den Oberkörper nach vorne und stützte den Kopf in die Handflächen. »Weißt du was? Ich liebe dich. Jaja, das sagte ich schon, aber ich glaube, du debiles Gewächs hast überhaupt keinen Schimmer, wovon ich rede. Also, ich liebe dich, und ich liebe dich jetzt, verstehst du? Nicht irgendwann. Adam, den habe ich erst richtig geliebt, als ich weg war. Das ist doch absurd! Es kann nicht sein, dass man sich erst von jemandem trennen muss, um ihn zu lieben. Und ich sag dir auch, warum ich ihn vorher nicht richtig lieben konnte: weil ich ihn belogen und betrogen habe, weil er die Wahrheit nie vertragen hätte; weil er mich immer mit seinen Rehaugen angesehen und mir dabei stumm seine simplen Bedürfnisse ins Gesicht gebrüllt hat, die sich nicht mit meinen deckten. Ich dachte, ich müsste ihn schonen. Aber das war Quatsch. Ich dachte, meine Bedürfnisse interessieren ihn nicht die Bohne, und weil ich das dachte, habe ich sie ihm auch nicht mitgeteilt. Aber das war ein großer Mist, sage ich dir, eine Riesenscheiße. Das passiert mir nicht noch einmal. Heute würde ich ihm alles sagen. Ich würde ihn nicht mehr schonen, denn Schonung ist doch nichts anderes als mangelnder Respekt und fehlendes Zutrauen. Ja, heute würde ich ihm die Wahrheit sagen und auch seine akzeptieren, aber er will sie nicht mehr hören. Und bald kann er sie nicht mehr hören, selbst wenn er wollte. Seit ich ihn nicht mehr hasse, hasst er mich. Der Zug ist weg, und es fällt mir von Nacht zu Nacht schwerer, das zu glauben. – Aber du, du interessierst dich für mich, du siehst mir mitten ins Gehirn, manchmal so deutlich, dass es mich regelrecht ankotzt. Aber egal. Auf jeden Fall willst du nicht geschont, sondern ernst genommen werden. Und das tue ich. Ich nehme dich ernst. Du sollst alles wissen, selbst das, was du nicht wissen willst. Dann hast du etwas, womit du umgehen kannst. Musst! Friss als Mann, der sein Gehirn auch ab und zu im Kopf trägt, oder stirb als Kleingeist. Das biete ich dir an. Schatz!!!«

»Sehr großzügig, dein Angebot, ehrlich. Willst du noch einen Schluck?«

»Blöde Frage. Übrigens will ich jetzt keinen Sex, dass das schon mal klar ist.«

»So gar keinen? Sex wäre dir jetzt richtig widerwärtig?« Martin ging langsam auf Marie zu, die sich mit dem Rücken an die schwarzweiße Tastatur drückte. Sein Blick sagte, dass sie noch immer die Frau seiner Träume war.

»Und wie! Rühr mich ja nicht an, du Schwein!«

Das war das Signal.