Marie denkt trotz des katastrophalen Umstandes,
dass ihre zu Besuch weilende Mutter zuvor Leber für alle
gebraten hat, an Adam und fast all ihre Lieben
Als es klingelte und Maries Mutter vor der Tür stand, war es zwölf durch.
»Hat Martin dir gesagt, du sollst herkommen?«
»Ach, iwo, gar nichts hat er gesagt, nur, dass er so eine Art Urlaub macht und du vielleicht ein bisschen Hilfe gebrauchen könntest. Und weil ich sowieso hier in die Ausstellung wollte und euch ja schon so lange nicht gesehen habe, dachte ich, ich setz mich in den Zug und gucke mal nach dem Rechten. Ich war schon auf dem Markt und habe uns frische Leber zum Mittag gekauft. Hm, die sah so gut aus, die mache ich uns jetzt mit Äpfeln und Zwiebeln und Kartoffelbrei. Wo sind denn meine beiden Kleinen?«
Marie traute ihren Ohren nicht und verzog angewidert das Gesicht. »Du willst jetzt hier Leber braten? Na toll … Wir haben gerade gefrühstückt, und ich habe auch keine Putzfrau mehr. Ist jetzt irgendwie ganz schlecht mit Leberbraten hier. Ich meine, können wir die Leber nicht einfrieren, und du nimmst sie morgen oder so wieder mit?«
Nachmittags, als die Kinder mit Oma zum Eisessen verschwunden waren, zog sich Marie die Gummihandschuhe an und brachte alles wieder in Ordnung. Sie stellte die halb volle Spülmaschine auf »Intensiv«, desinfizierte die Granitarbeitsplatte und wischte den Boden. Nun roch es nicht mehr nach Leber, sondern wohlig nach Großflughafentoilette, in der jemand unlängst Leber gebraten hatte. Nachdem sie auch die Zeitung, die ihre Mutter kurz in der Hand gehabt hatte, wieder auf ein verträgliches Außenmaß gefaltet und so auf den Tisch gelegt hatte, dass die Seiten ihres Rechteckes mit den Fensterrahmen harmonierten, setzte sie sich an den Flügel und spielte den »Hummelflug«.
Sie patzte einige Male an Stellen, die nicht die schwersten im Stück waren, und schlug wütend den Deckel zu. Warum patzte sie ausgerechnet da, wo man es eigentlich leicht hatte? Das war es, und es zog sich wie ein roter Faden durch ihr Leben: Über die leichtesten Stellen kam sie nicht hinweg. Warum hatte sie mit Adam am liebsten Kunstflug gemacht, war trudelnd auf den Erdboden zugeschossen und hatte Loopings trainiert, bei denen sich ihr der Magen umgedreht hatte, war aber bei einem harmlosen zweistündigen Überlandflug ängstlich geworden? Und warum bellte sie den Leuten immer ins Gesicht, beleidigte sie mit einem Wisch, anstatt mit ihnen zu reden, vielleicht länger und ruhiger, geradlinig, selbstbewusst?
Weil sie es nicht war. Aber warum eigentlich nicht? Sie konnte mit etwas mehr Selbstreflexion doch selbstbewusster werden, wenn sie diese Therapiesache richtig verstand, und unter Umständen sogar diese elende Selbstüberschätzung in den Griff bekommen. Und die Wahrheit musste sie sagen, sie durfte nicht mehr alle Leute belügen, nicht mehr heucheln. Schade zwar irgendwie, aber eine Psychiaterin wird schon wissen, was sie sagt, wenn sie einem rät, ehrlich zu sich und anderen zu sein.
Dann war also ihre Angst vor Adam und seiner Schnalle entstanden, weil sie ständig Mitgefühl heuchelte, wo keines war, und äußerlich ungerührt blieb, wenn es sie innerlich zerfetzte. Immer schön dasjenige Gefühl darbieten, das dem jeweiligen Rahmen entspricht – das war ein Großteil des Pfeffers, in dem der Hase lag. Eine ausgezeichnete Erkenntnis, dachte Marie, ging zu ihren Büchern und angelte Seneca heraus.
Es dauerte eine ganze Weile – sie las sich fest –, bis sie die Stelle hatte, nach der sie suchte. »… denn mit fremdem Leid sich abzuquälen, ist ewiges Unheil … sowie es eine nutzlose Menschenfreundlichkeit ist, zu weinen, weil irgendeiner seinen Sohn begräbt, und darüber eine Trauermiene anzunehmen … So tief hat sich diese Unsitte, diese Abhängigkeit von fremder Meinung eingewurzelt, dass auch die selbstverständlichste Sache, der Schmerz, der Heuchelei verfällt.« Ausgezeichnete Stelle, fand Marie, man sollte diesen Satz auf Bannern über Beerdigungen flattern lassen, besonders wenn Politiker zugegen waren, um Soldatenwitwen ihr Mitgefühl auszudrücken.
Tjaja, das war es wohl: Marie hatte geheuchelt. Sie war unaufrichtig und zu feige gewesen, ihm zu sagen: Rede mit mir, ich erkläre dir, was ich meine, und du mir. Stattdessen war sie mit dem Baby im Arm gegangen, hatte Adam jählings vor vollendete Tatsachen gestellt, keine Erklärung, nichts. Nur Tränen auf der Autobahn, wo sie längst außer Sichtweite gewesen war.
Drei Wochen später hatte sie eiskalt die Transporteure zu Adam geschickt. Was ihm geblieben war von seinem großen Glück, waren ein paar Steinway-Dellen im Parkett. Dann Pasis leere Babybettchen, eines oben, eines unten, ein leerer Kleiderschrank, der bestimmt immer noch nach Parfüm roch, ein fast leeres Bücherregal und ein beachtlicher monatlicher Dauerauftrag mehr. Er musste ja gelitten haben. War es ein Wunder, dass er sich irgendwann diese dumme Person ausgesucht hatte? Dumm, ordinär, aber wahrscheinlich verlässlich. Hässliches Verlässliches. Adam hatte mit Sicherheit nie Gernhardt gelesen, sondern sich aus einem kleinbürgerlichen Sicherheitsbedürfnis heraus instinktiv für Hässliches Verlässliches entschieden. Jawohl, als Verlässlichkeit in Person musste sie sich geriert haben! Weil es ihre ganz große Chance gewesen war aufzusteigen. So eine Chance bekommt man nur einmal im Leben. Liebte sie Adam denn? Und er sie? Das hätte Marie sich gewünscht, um endlich Ruhe zu haben vor ihrem Gewissen. Doch so war es nicht. Diese Frau quälte Adam, auch das sehr verlässlich. Man erfuhr es aus mehreren Quellen, sogar von Adam selbst. Er litt. Verlässlich! Da war keine Liebe, das spürte man selbst in fünfhundert Kilometer Entfernung. Jetzt, da Adam todkrank war, schlug die große Stunde dieses Weibes. Endgültige Macht war in greifbarer Nähe. Und wahrscheinlich würde sie die auch kriegen. Die Heirat hatte sie ihm ja bereits abgeluchst. Wie sollte er jetzt noch eine Hundertachtzig-Grad-Kurve hinbekommen, seine Freunde zurückholen, die allesamt Hausverbot hatten, seit SIE dort wohnte, sein Kind wieder annehmen, seiner Schwester wieder wie einer Schwester begegnen, gegen die Krankheit kämpfen und dieses Weib aus dem Fenster werfen? Er war schwach und würde es nicht mehr schaffen, nicht einmal im Angesicht des Todes.
Wie er wohl jetzt aussah? Marie hatte ihn so lange nicht gesehen. Ob er sehr gezeichnet war von Chemotherapie und Bestrahlung? Er hatte mal ausgesehen wie ein Hollywoodstar. Auf dem Rodeo Drive hatten sich die Mädchen von ihm vorsichtshalber Autogramme geben lassen. Marie hatte amüsiert daneben gestanden. Die hübschesten Frauen hatten sich an ihn herangemacht, aber er hatte immer nur Augen für Marie gehabt, sie bewundert, viel zu sehr für eine glückliche Beziehung. Alle seine Freunde hatten seine Treue gerühmt: Adam könne man mit Penelope Cruz ein halbes Jahr auf eine Insel schicken – nicht einmal ansehen würde er sie. Diese Schlichtheit, auch sein einfacher, aber dafür immer präsenter Humor, seine Lust an gutem Essen und überhaupt gutem Leben hatten Marie erst gefallen, dann angewidert.
Schon nach ein paar Wochen Ehe hatte sie gemerkt, dass der Preis für Bewunderung, schönes Leben und Treue ihre stets pünktliche Nacktheit gewesen war. Später hatte sie sich regelrecht geekelt, ihm aber jahrelang mit keiner Silbe etwas davon gesagt. Es hatte sich alles so hohl angefühlt, sie hatte es nicht ertragen können, aber weitergemacht aus Angst, nie zum Ziel zu kommen. Zu welchem Ziel überhaupt? Jahrelang geheuchelt hatte sie, und nun war sie erst richtig da, die Angst. Davor, genau so ein Nichts zu sein wie diese elende Person.
Marie fiel in den Sessel neben dem Bücherregal und trocknete sich mit dem Saum ihres Kleides das Gesicht. Ihr Blick richtete sich auf die Antlitze in den Silberrahmen. Ihre Mutter saß im weißen Kittel an einem Tisch »ihrer« Pathologie und lachte seitlich ins Bild. Eine schöne Frau. Gar nicht geschminkt, nur leicht gebräunt, was sich vor den weißen Kacheln besonders gut ausnahm. Eine Frau, die lachen konnte, die sich verpflichtet fühlte, das Leben schön zu finden. Hatte sie nicht Krieg, Verzweiflung, Schmerz, Vergewaltigung, Diktaturen, Hunger und Tod erfahren? Als Kind den Vater begraben, mit nicht einmal vierzig Jahren den Mann. Immer alles gegeben und immer alles verloren. Doch gesprungen war sie nicht, sondern hatte darauf gewartet, dass sich die Sonne wieder blicken ließ. Tapfer, tapfer … Und ihr Lachen behalten. Wenn sie Mozart hörte, wollte sie nicht sterben, sondern ihr wuchsen Flügel. Das Gefühl kannte Marie, nur trugen sie diese Flügel immer direkt in den Orkus.
Marie war ihrer Mutter plötzlich dankbar für alles. Dafür, dass sie mit den Kindern Eis essen ging, dass sie kam, wenn sie das Gefühl hatte, gebraucht zu werden, und nicht wie andere Mütter, die auftauchten, wenn sie das Bedürfnis hatten, mal wieder gebraucht zu werden. Sie war ihr nun sogar dankbar dafür, dass sie Leber für alle briet, weil sie wusste, den Kindern würde es einfach schmecken. Maries Ordnungszwang belustigte sie, weder heuchelte sie Verständnis dafür, noch hatte sie ihr einen ernsthaften Vorwurf deswegen gemacht. Freilich hatte sie auch nie gefragt, woher dieser Zwang gekommen sein mochte. Oder hatte es nicht ansprechen wollen. Ahnte sie etwas von Maries innerer Unordnung, die nach krankhafter äußerer Ordnung und Sauberkeit verlangte? Eigentlich war es egal, ob sie es ahnte oder nicht. Entscheidend war, dass sie Mittagessen kochte, ins Bild lachte, dass sie Knöpfe annähte, wo Knöpfe fehlten, und nicht den Drang verspürte, darüber Bücher zu schreiben. Vielleicht musste man mit Müttern gar nicht immer über alles reden. Konnte man nicht der Mutter und sich selbst die Intimsphäre lassen und trotzdem von einem guten Verhältnis sprechen?
Ich werd noch blöd vor lauter Erkenntnissen heute, dachte Marie, ging in die Küche und schlug die Zeitung wieder so auf, wie ihre Mutter sie zurückgelassen hatte. Zweite Seite Feuilleton, so hatte sie da gelegen. Ihre Arme zuckten widerstrebend, aber sie behielt die Oberhand. Sie klappte sogar die Lesebrille ihrer Mutter wieder auf und ging zurück zum Büchersessel. Nein, sie ging nicht, sie schwebte förmlich vor lauter Seelenheil. Nun wollte sie auch die anderen mit ihrer Liebe bedenken und sehen, was daraus entstünde.
Professor Lilie, der Bildhauer, auch er lachte in Schwarz-Weiß aus einem Silberrahmen, daneben Maries Vater, der ernst und charakterstark auf irgendwas herabschaute. Es war kein privates Foto von ihrem Vater, sondern eine Autogrammkarte, ebenfalls schwarz-weiß und so gut fotografiert, dass man den Blick kaum abwenden mochte. Beste Freunde in Schwarz-Weiß.
Sie musste Lilie wieder mal besuchen auf seinem Hof, wo er immer noch unermüdlich Marmor und edles Holz bearbeitete, gegen Kreissägenkünstler wetterte und seine große Familie mal mit Schnaps, dann wieder mit Liebe überschwemmte. Damals, als sie als Kinder den Sommer dort verbracht hatten, hatte ein Sohn der Familie einen Pilz gefunden, der ihm unglücklicherweise auf dem allzu hastig zurückgelegten Weg zum Hof zerbrochen war. Lilie hatte die Arbeit an einer Skulptur ruhen lassen und zusammen mit dem Kind den Pilz repariert. Wirklich hervorragend. Ob er eine Ahnung hatte, wie wichtig er für Marie immer gewesen war, dass er ein Ersatzvater für sie war, wie sehr sie ihn liebte? Lilie hatte damals den Grabstein für Maries Vater hauen wollen. Den Stein hatte er irgendwann auf dem Hof gehabt, aber bis heute, dreiunddreißig Jahre später, hatte er es nicht über sich gebracht, den Namen einzuarbeiten.
Es war etliche Jahre her, dass sie Lilie gesehen hatte. Damals war sie allein dort gewesen, ohne Familie. Zunächst hatte sie im Tiefflug ein paar Runden über dem Hof gedreht und Luftaufnahmen gemacht, was gar nicht ungefährlich gewesen war, da die kleine Cessna keinen Autopiloten gehabt hatte. Lilie hatte gerade ein paar Meisterstudenten auf dem Hof gehabt, um vierzehn Tage lang mit ihnen zu arbeiten. Abends hatte er allein in seiner Werkstatt gesessen, Marie draußen mit einigen Studenten am Feuer. Dann war er herausgetreten und hatte ausgerechnet nach Marie gerufen. Sie solle ihm mal ein Glas Roten bringen, dabei könne er besser arbeiten. Und als sie es ihm gebracht hatte, da hatte er gesagt, sie möge sich doch setzen und ihm ein bisschen Gesellschaft leisten. Dabei hatte er sie mit seinen freundlichen dunklen Marderaugen angesehen und erwähnt, sie sehe haargenau aus wie ihre Mutter früher. Und ihre Mutter habe ihm übrigens damals Modell gesessen, als sie alle noch studierten und Marlene sich Geld verdienen wollte. Maries Vater war ja selbst noch Student gewesen und hatte – wie alle – kein Geld gehabt. Aber das Leben begossen hatten sie trotzdem, praktisch jede Nacht … Marie wusste noch, wie sich ein Kloß in ihrer Kehle gebildet hatte, sie mit etwas herausrücken wollte, es aber nicht konnte.
In den Sommerferien also, jawohl, würde sie ihn zusammen mit Brütti, Pasi und Martin, der bis dahin hoffentlich den ›Ring‹ gesehen hatte, besuchen, das war jetzt beschlossen. Sie mussten ihn endlich kennenlernen, und sie wollte ihn sehen, leibhaftig. Viel zu selten besuchte sie ihn, weil sie Angst hatte vor diesen Tantalusqualen, auch vor dem Neid auf seine Familie, die einen solchen Mann in ihrer Mitte hatte. Marie wollte sterben, am liebsten gleich hier im Sessel. Aber sie war zu jung dazu und hatte außerdem die geeignete Begleitmusik zerbrochen.
Auf einmal stand Pasi in der Tür, behängt und beringt mit Perlen, Diamanten und Aquamarinen. »Mama, Oma sagt, Wildschweine müssen nachts die Mülltonnen umgeworfen haben. Und weißt du, was da lag?«
Sie bot einen unglaublich süßen, herzerwärmenden Anblick, den Marie, obwohl sie nicht abergläubisch war, als Aufforderung nahm, ihren Schmuck wieder einzusammeln. Ihre Mutter half ihr dabei, ohne mit der Wimper zu zucken oder gar eine Frage zu stellen.