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Adam und Marie finden endlich zu einem Dialog,

in dessen Verlauf es zu Tränen, aber auch zur

Aussprache kommt

Nun liegst du hier, dachte Marie und versuchte stumm und verzweifelt, ein letztes Mal mit Adam zu kommunizieren, als sei aufgrund der Frische der Erde die Möglichkeit dazu noch gegeben. Warum liegst du hier? Und warum stehe ich hier? Ich verstehe es nicht. Vielleicht ist es gar nicht wahr. Lach nicht. Du bist ein Schnelldenker, ein Realist, und findest es sicher selten dämlich, wie man vor einem Grab stehen und sich fragen kann, wieso. Typisch Frau, was? Na und. Wenn Frauen nicht typisch Frauen wären, dann würdet ihr Männer sie nicht mögen. Ich wollte übrigens nicht kommen. Ich hatte Angst und war vollkommen kopflos. Aber meine Mutter hat mir zugeredet – Pasi müsse sich auf jeden Fall von dir verabschieden können, und ich müsse selbstverständlich an ihrer Seite sein. Recht hatte sie. Kopflos bin ich nun nicht mehr. Dafür fassungslos.

Jetzt musst du nicht mehr kämpfen. Einen schlimmen Kampf hast du ausgetragen. Jeder weiß, wie sinnlos es ist, ausgerechnet gegen Bauchspeicheldrüsenkrebs zu kämpfen. Du wusstest es sicher auch und hast dich trotzdem drauf eingelassen. Ist auch richtig so. Immerhin hattest du etwas Gutes zu verteidigen, dein Leben, oder? Dich. – Und gut warst du schon, ziemlich gut sogar. Was? Ich soll jetzt nicht sentimental werden und mir was vormachen? Keine Angst, werde ich nicht. Ich meine, du warst auch blöd, ein Idiot manchmal. Manchmal? Phh, die ganzen letzten Jahre! Wenn ich daran denke, wie du Pasi behandelt hast … Nein, damit will ich dir jetzt nicht kommen, ich will jetzt nicht streiten, nicht wütend werden. Und ich glaube auch, dass du getan hast, wozu du in der Lage warst. Du warst emotional verkümmert, unterbewusst auf Muttersuche und leicht manipulierbar. Peng. Mehr war einfach nicht drin. Da brauchst du jetzt nicht mit den Augen zu rollen. Das war so, wie sonst hättest du dich so vereinnahmen lassen können. So was Bescheuertes – du auf Mutter- und ich auf Vatersuche. Das konnte nichts werden. Aber das wusste ich damals noch nicht, konnte also auch nicht damit umgehen. Ich weiß es erst jetzt. Und jetzt bin ich schon ganz schön alt geworden darüber. Guck nicht so, im Ernst, ich kriege langsam Falten. Gut, Fältchen, aber immerhin. Und Henryk hat sogar graue Haare bei mir gefunden.

Du sahst übrigens klasse aus so grau meliert, als ich dich das letzte Mal sah. Als du mit Pasi nach Prag geflogen bist, weißt du? Da hattest du Chemotherapie und Bestrahlungen noch und nöcher hinter dir – und sahst trotzdem so unverschämt gut aus. Ich habe damals Fotos von euch gemacht. Mir war klar, es würde das letzte Mal sein, dass ich dich abfliegen sehe. Ein Foto beim Start, dann noch eines und noch eines, bis ihr nur noch ein kleiner Punkt am Horizont wart. Später werde ich die Fotos mal Pasi geben. Jetzt noch nicht, später. Damals auf dem Turm, als ich euch nachgesehen habe, da habe ich richtig geheult, was mir seit zehn Tagen nicht gelingt. Damals habe ich mich auch daran erinnert, wie ich dich das erste Mal habe abfliegen sehen. Du hattest mich in Berlin besucht, und nach unserem Wochenende war klar: Wir sind’s. Mit der Aerostar warst du da, nicht ganz leicht zu fliegen, aber für dich kein Problem. Und zum Abschied, als du gerade gestartet warst, hast du mit den Flächen gewinkt. Dieser Anblick, dieses Hochgefühl, diese Extraportion Glück werden immer meine erste Erinnerung an dich bleiben, ich schwör’s dir.

Jaja, ich weiß, dass du das alles weißt und nicht mehr hören willst, aber du hörst jetzt zu, du gehst jetzt nicht ins Nebenzimmer, du hörst dir jetzt an, was wichtig war. Vielleicht begreifst du dann, dass es wichtig war – und nicht, dass ich dich verlassen habe. Ich sag es noch mal: Diese erste Erinnerung, die ist wichtig, und die hast du auch, kannst du ruhig zugeben. Dann hast du, hat gar nicht lang gedauert, meine Mutter kennengelernt. Mir sagtest du danach, man müsse sich die Mutter genau ansehen, dann wisse man, ob man die Tochter heiraten kann. Es war also ein ganz schön großes Kompliment, als du feststelltest, eine Ehe mit mir – deine erste, so spät, nach etlichen Freundinnen! – komme absolut infrage. Ist es nicht erschütternd, was aus so viel Vertrauen und Glückseligkeit wird, wenn man nicht aufpasst? Dass sich beide Beteiligten nach kurzer Zeit wie entwertete Fahrscheine fühlen, ungültig gemacht, nicht mehr zu gebrauchen, das wirft doch eine Menge Fragen auf. Meinst du, wir hätten, wenn wir uns jetzt erst kennengelernt hätten, miteinander wie Erwachsene umgehen können? Ehrlich, mit Respekt voreinander? Die Vorstellung, dass es heute geklappt hätte, der Zug aber nun abgefahren ist, bringt mich schier um den Verstand, weißt du.

Das hübsche Kind, das du damals kennengelernt hast und als das ich dich verlassen habe, bin ich ja längst nicht mehr. Ich bin heute eher in der Lage, mal zu reden, mich um mich selbst zu kümmern und nicht von einem anderen zu erwarten, dass er mich pausenlos beschützt. Glaube ich jedenfalls. Na, zumindest bin ich auf dem Weg dorthin. Ach, komm, spar dir deinen Kommentar … Und ich bin auch eher in der Lage, jemandem zuzuhören, auf ihn einzugehen. Also, wie gesagt, auf jeden Fall bemühe ich mich. Und du – wärst du heute auch mal in der Lage, ein paar Antennen auszufahren, anstatt drei Tage am Stück zu schmollen, wenn ich lieber spazieren gehen wollte als zu bumsen? Jetzt schaust du mich wieder mit deinem glasigen Rehaugenblick an und fühlst dich ungerecht behandelt, jaja. Na, vielleicht mache ich mir gerade doch was vor. Aber schön ist die Vorstellung halt. Gib zu, wie schön sie ist: Wir beide ganz wie früher, aber zusätzlich mit unserem jetzigen Verstand ausgestattet. Abgefahren, hm? Nur liegst du jetzt da unten im Kalten, was ich nicht begreife, und somit wird es bei der Vorstellung bleiben.

Ich glaube, ich fange doch noch an zu heulen. Konsequent wäre es, denn ich glaube, ich bin todtraurig über deinen Tod. Ich will dich so gerne retten aus dieser Kiste, in die man dich gelegt hat, aber das vermag ich nicht. Ich stelle mir manchmal dein Gesicht vor, als du erfuhrst, warum du plötzlich so gelb warst. Du dachtest, mal eben mit einer Gelbsucht ins Krankenhaus zu gehen. Und dann das. Du kanntest die Prognose, zwei deiner Freunde, na, sagen wir, Geschäftspartner, hatten noch drei Monate ab Diagnose gehabt. Drei Monate. Oder waren’s vier? Was wird dir durch den Kopf gegangen sein? Kam Pasi auch mal vor? Wenn du wüsstest, wie sie dich liebt und an dir hängt. Ach, weißt du, sie wird ihr Leben lang an dir hängen wie eine Klette. Jetzt erst recht.

Sag mal, das musst du mir aber schon erklären: Wie um alles in der Welt hast du ihr eigentlich so eine Jauche einpflanzen können? Von wegen, einzig und allein ihre Mutter sei schuld an deiner Krankheit. Mann, Adam! Das war wirklich idiotisch. Hat dir das diese Frau eingeredet? Antworte doch mal! Brauchtest du in deiner Hoffnungslosigkeit einen Schuldigen? Das könnte ich verstehen, man hört ja oft von Krebspatienten, dass sie krampfhaft nach Ursachen forschen. Bei dir hätte die familiäre Disposition als Ursache mehr als ausreichen können, aber nein, ich war dir aus irgendeinem Grund lieber. Du warst verletzt, immer noch. Und dann haben sich die Eifersucht und spießige Machtgeilheit dieser Frau deine Verletztheit zur Verbündeten gemacht. Gut, das ist nicht mehr zu ändern. Ich bin dir eigentlich nicht gram deswegen. Klar, enttäuscht schon. Auch darüber, dass du nicht begriffen hast, warum deine neue Frau so aggressiv ist – nicht aus Liebe zu dir, Adam, sondern als Ausdruck ihrer Unterlegenheit. Die hat sie – denn so blöd ist sie nicht – erkannt. Warum wohl sonst hat sie so vehement alles untergraben, was ihr hätte gefährlich werden können? Ja, sie wusste es: Wenn deine Freunde bei dir geblieben wären und du ein anständiges Verhältnis zu Tochter und sogar Exfrau gepflegt hättest, dann hätte sie bald gehen müssen. Sie hat es erkannt, du nicht. Aber wer kann schon von sich sagen, nicht auf alles scheinbar Fassbare anzuspringen, wenn man den nahen Tod vor Augen hat? Ich will mich dazu nicht aufschwingen, aber enttäuschend war es trotzdem. Also nein, damit kannst du mich nicht wütend machen. Aber dass du zugelassen hast, dass Pasi diese seltsame Version von Schuld aufgetischt bekommt. Dass du deinen ganzen Hass auch auf sie projiziert hast, die nun wirklich unschuldig ist und alles für dich getan hätte … Na, ich wollte dir ja damit heute nicht kommen. Ich hör schon auf.

Aber dein sogenannter Hass, der treibt mich schon um. Wenn du älter geworden wärst, irgendwann vielleicht weise, mit achtzig oder neunzig – hättest du dann immer noch von Hass gesprochen? Das frage ich mich. Oder hättest du dann eingesehen, dass es natürlich kein Hass war, sondern genau das Gegenteil. Du warst einfach stinksauer und verletzt, und dir hat nie jemand beigebracht, wie man damit umgeht. Mann, hast du mich miesgemacht! Aber lass mal, ich dich auch – da nehmen wir uns nichts. Nur gegenüber Pasi habe ich nie ein schlechtes Wort über dich fallen lassen. Und das werde ich auch niemals. Du sollst der Gute bleiben. Das Leben wird es sie schon lehren – hat meine Oma immer gesagt. Und das wird es. Irgendwann wird sie verstehen, dass jemand nicht böse ist, weil er sich zum Geburtstag oder zu Weihnachten nicht meldet, dass die Ursachen dafür viel komplexer sind. Und bis es so weit ist, werde ich dein Andenken nicht mit Schmutz bewerfen. Zumal ich sowieso keine schlechten Worte mehr für dich finde, sosehr ich mich manchmal auch bemühe. Es gelingt mir einfach nicht mehr, wütend auf dich zu sein und dich als erwachsenen Mann in die Pflicht zu nehmen. Spätestens seit dieser Diagnose sehe ich dir alles nach. Ach, eigentlich habe ich das schon viel früher getan, so aus schlechtem Gewissen, weißt du, was ja auch blödsinnig ist und einen nicht weiterbringt.

Willst du wissen, wo ich seit einiger Zeit einmal wöchentlich ganz diszipliniert hingehe? Zur … nein, das sage ich dir nicht, ätsch. Obwohl es durchaus mit dir und mir zu tun hat. Ich habe nämlich genauso intensiv an dir zu nagen gehabt wie du an mir, anders halt, aber nicht weniger. Es ist nämlich nicht einfacher, der Verlasser zu sein als der Verlassene, was Verlassene und ihre Freunde natürlich nicht glauben können. Verlasser wiederum können es nicht zugeben, selbst zu leiden, aus Angst, diese dümmliche Möchtegernwahrheit ›Hättest ja bleiben können!‹ vor den Bug geknallt zu bekommen. Ja, da guckst du angewidert, schon klar. Ist aber so, daran ändern weder du noch ich etwas. Meinst du, für den Verlasser ist es ganz prima, das bisschen, was vielleicht noch heile ist, nun auch noch zu zertöppern? Nein, das ist großer Mist. Man muss sich dafür rechtfertigen, ist der Buhmann. Selbst wenn es nur noch eine einzige Tasse vom ganzen Service war – wer diese letzte zerschlägt, wird fürs Ganze verantwortlich gemacht. Nicht nur von anderen, nein! Man erklärt sich selbst zum Schuldigen, kann nicht mehr in den Spiegel sehen, sucht nach Bestrafung, während der Verlassene sich ausdauernd seinem Leid hingeben, sich trösten lassen und nach Gutdünken Recht sprechen darf. Dabei hat der Verlassene den, der jetzt als verächtlicher Verlasser dasteht, vielleicht schon viel früher verlassen. Hat nur niemand gemerkt außer dem Verlasserverlasser. Hm? Schön doof, oder? Hättest mal ab und zu einen guten Woody Allen gucken sollen. Oder mit mir reden!

Warum liegst du jetzt eigentlich da unten, und warum sprichst du nicht mit mir? Du hast mich verlassen, bevor ich dich verließ. Aber das wusstest du nicht, du hast es nicht gemerkt, und ich mache dir daraus auch keinen Vorwurf. Nur jetzt: Musstest du mich denn so gründlich verlassen? Sollst du wirklich für immer aus meinem Leben getilgt sein? Wenn du geahnt hättest, wie wenig ich das wollte. Du hinterlässt mich grau in grau. Ich bin nicht verzweifelt über deinen Tod, denke nicht, wie soll mein Leben jetzt bloß ohne dich weitergehen. Dazu hänge ich selbst viel zu wenig an meinem Leben. Aber es wird nun doch öder für mich, weiter auszuharren.

Verzweifeln lassen mich allerdings die Umstände, die dich da unten hineingezwungen haben, die Hoffnungslosigkeit, die ausgerechnet dann, wenn sie am größten und am meisten berechtigt ist, die größte und am wenigsten berechtigte Hoffnung gebiert. Dass du dem ausgesetzt warst, das lässt mich den Mut verlieren, an meinem eigenen Glück zu arbeiten. Ich muss es trotzdem tun, bin dazu verpflichtet. Was sollen sonst die Kinder sagen? Wenn ich es nicht für sie versuche, dürften sie es mir berechtigterweise ankreiden.

Jaja, die Kinder, die sind schon gold. Pasi hat sich kürzlich die »Ballade pour Adeline« selbst beigebracht, dieses grausige Stück. Aber sie spielt es toll, doppelt so schnell wie Richard Clayderman damals, mit ihren unverschämt flinken Fingern. Sie ist noch nicht so weit, Chopin zu lieben, aber ich bleibe dran. Und irgendwann soll sie Beethovens »Pathétique« für dich spielen, wie deine Mutter sie für dich gespielt hat, als du ein Kind warst.

Weißt du, wenn du von deiner Mutter gesprochen hast und davon, wie sie Klavier spielte, dann veränderte sich dein Gesicht, es wurde ganz unkaufmännisch, richtig selig. Ich glaube, das waren die einzigen Augenblicke, in denen du ganz bei dir warst, glücklich sogar. Eine Erinnerung kann einen für einen Moment glücklich machen, oder? Für Täuschungsmanöver ist sie aber auch gut. War es diese Erinnerung, die du mit Liebe zu mir verwechselt hast, als du mich zum ersten Mal am Klavier sahst? Da muss ich wohl ein Versprechen abgegeben haben, das zu halten ich nicht imstande war. Ebenso wenig, wie du deines halten konntest, als du zunächst einmal der starke, potente, fast doppelt so alte Beschützer warst. Vor meinem ersten Alleinflug, als mir die Knie zitterten, da habe ich nicht mich, sondern dich gefragt, ob ich das auch wirklich könne. ›Natürlich kannst du das‹, hast du mit einer Selbstverständlichkeit geantwortet, ›meinst du, sonst würde ich dich fliegen lassen?‹ Wer bei dir Fliegen gelernt habe, der könne es auch. Da verging dann das Kniezittern wieder, und ich hob ab mit dem sicheren Gefühl, dass du keine halben Sachen machst. Du hast unten auf dem Flugplatz gestanden, hast mich dann vom Turm aus beobachtet. Meine Lebensversicherung warst du in dem Moment. Es war ein Fehler, diesen Eindruck auf unser gesamtes Leben übertragen zu wollen. Du als Übervater, das war eine Zumutung. Und ich als Hätschelmutter, die dir Nutella zum Sofa bringt, das war auch eine. Hätten wir doch damals schon gewusst, dass man in der Ehe nicht Opfer seiner verschwommenen Erinnerungen werden darf. Dass man den anderen damit maßlos überfordert, bis nichts mehr übrig ist.

Ich wüsste gerne, wie es in deiner aktuellen Ehe zugegangen ist. Einiges weiß ich ja aus der Zeit, als wir noch miteinander sprachen. Du hast dich sogar bei mir – bei mir! – ausgejammert über sie, wolltest sie hinauswerfen, du hieltest es nicht mehr aus, dieses ständige Gemecker und Auf-dir-Rumgehacke. Einmal – weißt du noch? –, als Brütti gerade geboren war, hast du mich angerufen und mir erzählt, dass Pasis Brief angekommen sei, mit dem sie ein Foto von sich, stolz, und ihrem »neuen Bruder« mitgeschickt hatte. Als deine Frau das sah, hat sie es vom Tisch gefegt und dich angebrüllt, ihr hättet damit nichts zu tun, und sie wolle »so was« hier nicht sehen. Da war für dich Schluss mit lustig, und das wäre auch ganz normal gewesen. Aber du hast sie nicht hinausgeworfen. Wieso eigentlich nicht? Das wird uns allen immer ein Rätsel bleiben. Und dann hast du ihr auch noch deinen Namen gegeben. Das wiederum ist leicht zu verstehen, denn du hattest gerade Schwarz auf Weiß bekommen, was dein Ende sein würde. Da hattest du Angst, wolltest nicht allein sein, das verstehe ich. Das war übrigens auch der Zeitpunkt, an dem ich dachte: Gut, wenn er sie heiratet, dann werden wir sie jetzt auch in vollem Umfang akzeptieren, egal, was sie sich bereits alles an Frechheiten und Geschmacklosigkeiten geleistet hat.

Kennst du diese Geschichte von Goethe und seiner schlichten Christiane? Nun bist du nicht gerade Goethe, und deine Frau ist auch nicht Christiane, denn die soll ja sehr gutherzig gewesen sein, trotzdem erinnert mich diese Geschichte an euch. Man hat sich das Maul über Christiane zerrissen, sie von der Gesellschaft ausgeschlossen, sich nicht zu ihr herabgelassen. Erst, als er sie geheiratet hat, wurde man etwas milder. Frau Schopenhauer soll gesagt haben: »Ich denke, wenn Goethe ihr seinen Namen gibt, können wir ihr wohl eine Tasse Tee geben.« Na, deine Frau jedenfalls wollte keinen Tee, und irgendwann war ich auch nicht mehr kräftig genug, ihr mit ausgestrecktem Arm das Tablett hinzuhalten. Komischerweise bin ich bei aller Wut auch ihr gegenüber immer noch lauwarm gestimmt. Ich will ihr nie wieder begegnen – das war furchtbar heute –, aber ich habe auch nichts dagegen, dass sie nun dank eines veritablen Erbes mit ihren drei Kindern ein anständiges Leben führen kann. Immerhin hat sie dich gepflegt und war, hoffe ich, bei dir, als du deinen letzten Atemzug getan hast. Und wer weiß, vielleicht habt ihr ja wirklich zusammen immer eng umschlungen dieses Lied gehört, wie es der Pfarrer vorhin gesagt hat. Ein Stern, der deinen Namen trägt … Meine Güte, wahrhaben will ich es ja nicht, aber wenn es danach ginge, wäre kaum etwas wahr.

Marie hatte bis jetzt nicht bemerkt, wie sie weinte und weinte. Doch nun lief ihr die Nase. Sie hatte kein Taschentuch mehr, weil sie alle Pasi geopfert hatte. Kurz erwog sie, die Trauerschleife eines Gesteckes zweckzuentfremden, entschied sich aber dann ungeheuerlicherweise für ihren Ärmel.

Tja, Adam, wir waren wohl ein Irrtum. Ich werde es nie verschmerzen, dass wir nicht mehr miteinander gesprochen haben, aber versuchen, das in meinem Hirn als deinen unverfälschten Willen zu fixieren. Vielleicht kann ich dann mal wieder auf dich wütend sein. Und jetzt ist mein Ärmel voller Schnodder, deinetwegen, und davon kann ich irgendwann stolz meiner … Dingsda berichten. Mit vollgeschnoddertem Ärmel stehe ich hier und behalte trotzdem meinen Blazer an, alle Achtung.

Ich gehe jetzt. Muss Pasi und meine Mutter nach Hause fahren. Du und dein Vater – habt ihr ab jetzt ein Auge auf Pasi? Sie wird es brauchen können, schätze ich. Und sollte Pasi mal eine Tochter zur Welt bringen, dann legt doch bitte ein gutes Wort dafür ein, dass sie nicht schon als Mädchen ihren Vater begraben muss, ja? Meine Mutter, ich, Pasi – das reicht wohl, sagt das denen da oben. Wo immer du bist, leb wohl. Und, Adam, guck nicht so rehäugig, das ist nicht auszuhalten.