13
Matt
Dienstagmittag, 26. September
»Zieh dein Jackett an, Cannon, lass uns gehen.«
Ich habe keine Ahnung, wie lange mein Gehirn braucht, um die Störung zu registrieren. Man hat mir gesagt, es dauere eine volle Minute, bis ich von der Rechenmaschine Matt auf den Menschen Matt umschalte.
Das war schon immer so, obwohl meine Kollegen bei Wolfe Investments glücklicherweise erheblich verständnisvoller sind als die kleinen Scheißer in der vierten Klasse, die gänzlich unbeeindruckt waren von meiner früh entwickelten Fähigkeit, komplexe Gleichungen zu lösen.
Ich brauche nicht mehr so oft im Kopf zu rechnen – bei meinem Job geht es mehr um Intuition und Recherche als um tatsächliches Zahlendurchkauen. Aber es fühlt sich immer noch so an, als arbeiteten zwei Teile meines Gehirns, wenn ich mir ein Portfolio ansehe: Der Teil, der die Trends verarbeitet, die ich aufschnappe, die finanziellen Ziele dieses speziellen Kunden, und der Computerteil, wie ich ihn inzwischen betrachte, der keine Gruppe von Zahlen sehen kann, ohne sie endlos zu verarbeiten.
Meine Assistentin ist mehr als die meisten anderen an meine Eigenheiten gewöhnt, daher sagt sie nichts mehr, nachdem sie mir den anfänglichen Befehl zugeblafft hat, mir mein Jackett zu schnappen. Sie wartet auf den Menschen Matt, der die Rechenmaschine noch einholen muss.
»Was?«, frage ich schließlich.
Sie zeigt auf das Anzugjackett, das über der Rückenlehne meines Stuhls hängt. »Zieh das an.«
Abgesehen von einem Blick auf die Uhr bewege ich mich nicht. Wenn ich kein persönliches Meeting habe, trage ich im Büro kein Jackett. Und meine Ärmel sind die meiste Zeit bis zu den Ellbogen hochgekrempelt. Ich habe es gern bequem bei der Arbeit. Oder so bequem wie möglich in einem Beruf, bei dem Anzug und Krawatte die inoffizielle Uniform darstellen.
»Du hast einen Lunchtermin.«
Ich runzele die Stirn. Zugegeben, ich bin lausig darin, meinen Kalender zu managen, aber ich habe durchaus die Fähigkeit, das verdammte Ding zu lesen. Und als ich heute Morgen nachgesehen habe, stand da kein Treffen zum Lunch.
»Es gibt nur ein Konferenzgespräch mit …«
»Nein, das habe ich verlegt«, unterbricht Kate mich.
Ich kneife die Augen zusammen, denn obwohl ich meiner Assistentin voll und ganz vertraue, ändert sie meinen Terminplan selten, ohne es mir vorher zu sagen. Das bedeutet, dass irgendetwas los ist.
Sie schaut über ihre Schulter, dann schließt sie die Tür, bevor sie an meinen Schreibtisch tritt und sich auf den Stuhl mir gegenüber setzt.
»Die Sams essen heute bei Nobu zu Mittag.«
»Na und?« Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, warum es mich kümmern sollte, dass Wolfes CEOs Sushi zu Mittag essen.
»Sie speisen nicht allein. Jarod Lanham stößt zu ihnen.«
Damit hat sie meine Aufmerksamkeit. Jarod Lanham ist einer der berühmtesten Milliardäre der Welt. Der gebürtige Amerikaner lebt seit etwa einem Jahrzehnt in Monaco. Der Mann ist erst sechsunddreißig, aber schon jetzt bewegen sich die Gerüchte über sein Nettovermögen im Bereich von neun Milliarden.
Mit anderen Worten, genau der Kunde, für den Wolfe und jede andere Firma auf der Wall Street töten würden, um ihn zu gewinnen. Nicht nur wegen der schieren Summe, sondern weil seine relative Jugend bedeutet, dass es sowohl eine profitable Beziehung als auch eine langfristige sein könnte.
Ich will ihn. Jeder will ihn, aber ich will ihn wirklich auf meiner Liste haben. Ich folge ihm seit Jahren und bin beeindruckt von seinen Investitionen, seiner Fähigkeit, gelassen Wohlstand anzusammeln, während er gleichzeitig die gesellschaftliche Szene in jedem Land beherrscht, das er besucht.
Mit anderen Worten, Jarod Lanham ist ich, aber auf der anderen Seite des Ladentischs. Sozusagen ein »Wunderknaben-Kamerad«.
Kate weiß von meiner Besessenheit. Genau wie die Sams.
»Sie haben mich nicht eingeladen«, murmele ich, stehe auf und krempele meine Hemdsärmel herunter. Selbst nachdem Sabrina am Sonntag die Brunch-Situation gerettet hat, haben sie Abstand gewahrt.
»Kannst du ihnen einen Vorwurf daraus machen?«, fragt sie. »Du bist hierzulande persona non grata. Sie haben schon darum zu kämpfen, Lanham zu beeindrucken, nachdem Ians Skandal noch so frisch ist.«
Ich nicke. Ich verstehe es, obwohl es ätzend ist. Das hier sollte ein Dreh- und Angelpunkt in meiner Karriere sein, und statt die Gelegenheit zu haben, Lanham davon zu überzeugen, dass ich sein Mann bin, sitze ich müßig daneben, während alle anderen irrtümlich annehmen, ich würde an meinen Wochenenden bis zum Schwanz in Kokain und Nutten stehen.
»Ich habe dir einen Tisch besorgt«, erklärt sie, während ich die Ärmel zuknöpfe. »Und ich habe die Hostess beschwatzt, dich im gleichen Teil des Speiseraums unterzubringen wie die Sams, aber sie konnte mir nichts versprechen.«
»Klingt sie nach dem Typ, den man bestechen kann?«, frage ich mit einem Grinsen. Auch wenn es ein Filmklischee zu sein scheint, ist es in diesem Teil der Stadt kein absolutes Novum, jemandem, der für Reservierungen zuständig ist, einen Hunderter oder mehr in die Tasche gleiten zu lassen.
»Nein, sie klang jung und kokett.«
Mein Grinsen wird noch breiter. »Sprich nicht weiter.«
Kate seufzt ungeduldig. »Matt, das war dein alter Ruf. Wenn du umherläufst und mit einer neunzehnjährigen Hostess flirtest, wirst du bestätigen, was alle von dir denken. Was heute eine ganz besonders schlechte Idee wäre.«
Etwas in ihrem Ton lässt mich stutzen. »Warum heute ganz besonders?«
Kate lächelt selbstgefällig. »Ich habe Sabrina angerufen.«
Ich erstarre mitten in der Bewegung, als ich nach meinem Jackett greife. »Was?«
»Dafür bezahlst du sie. Die Leute müssen denken, dass du eine ernsthafte Beziehung mit ihr hast, aber noch wichtiger ist, dass die richtigen Leute das denken. Der ganze Grund, warum du Sabrina engagiert hast, sind Leute wie Jarod Lanham, die du davon überzeugen willst, dass du bodenständig und vertrauenswürdig bist. Du brauchst sie dort.«
Ich stöhne.
Kate legt den Kopf schräg. »Warum geht dir das so gegen den Strich? Ist das nicht der Plan?«
Ich schiebe einen Arm durch den Ärmel meines Jacketts, und das mit weniger Vorsicht, als das teure Kleidungsstück verdient. »Es geht mir nicht gegen den Strich.«
Kate verschränkt die Arme vor der Brust. »Doch, geht es. Raus mit der Sprache.«
»Darüber rede ich nicht«, murre ich und gehe zur Tür.
Verdammt, ich will nicht einmal darüber nachdenken. Ich will nicht über die Tatsache nachdenken, dass mein Magen sich bei der Vorstellung, Sabrina zu sehen, zusammenkrampft, nicht aus Hass, nicht einmal wegen des Verlangens, sondern weil ich nach dem letzten Wochenende …
Ich mache mir Sorgen, dass ich anfangen könnte, sie zu genießen. Uns zu genießen.
Bis zu einem gewissen Grad habe ich immer schon genossen, was wir hatten – die Zankereien, den Sex. Definitiv den Sex.
Aber am vergangenen Wochenende war da noch etwas anderes, trotz der Frustration und der Erschöpfung. Potenzial. Potenzial, dass wir zwei etwas Tiefergehendes teilen könnten.
Sicher, sie will mich tot sehen. Und es gab eine Handvoll Gelegenheiten, bei denen ich sie mit Freuden erwürgt hätte. Aber merkwürdigerweise herrschte beim Brunch auch eine seltsame Unbefangenheit zwischen uns. Beinahe so, als schaffe uns unser beiderseitiger Argwohn dem anderen und möglichen romantischen Verstrickungen gegenüber eine Form der Freiheit. Als könnten wir dadurch ganz wir selbst sein. Miteinander sein.
Es ärgert mich, dass sie zum Mittagessen kommt. Nicht weil ich sie nicht dort haben will.
Sondern weil ich es will.
Ergibt Sinn, oder? Mist.
»Sie wird sich dort mit dir treffen«, fährt Kate herrisch fort und folgt mir durch den Gang zu den Aufzügen. »Euer Tisch ist ab zwölf reserviert, auf deinen Namen. Die Sams und Lanham haben für zwölf Uhr dreißig reserviert, daher sollte es wie ein Zufall erscheinen, dass ihr im selben Restaurant esst, und du stehst nicht wie ein verzweifelter Stalker da.«
Ich drücke auf den Knopf für den Aufzug und schaue auf sie hinab. »Woher zum Teufel weißt du diese Dinge? Nicht nur, dass er in der Stadt ist und zu Mittag isst, sondern auch wann und wo?«
Sie lächelt. »Als würde ich meine Methoden offenlegen.«
»Du bist verdammt gut in deinem Job«, bemerke ich, als die Aufzugtüren sich öffnen.
»Ich weiß.«
Ich steige ein und drehe mich zu ihr um. »Ich bin dir dankbar dafür.«
Kate verdreht die Augen. »Das weiß ich ebenfalls.«
»Gibt es irgendetwas, das du nicht weißt?«, gebe ich mit einem Grinsen zurück.
»Was ist vor all den Jahren zwischen dir und Sabrina vorgefallen?«, erkundigt sie sich hoffnungsvoll.
Mein Lächeln erstirbt, und die Aufzugtüren schließen sich und ersparen mir eine Antwort. Als könnte ich eine geben.
Ich bin mir nicht mal sicher, ob ich überhaupt weiß, was passiert ist.