20
Sabrina
Samstagabend, 30. September
Matts Mund ist warm und fest auf meinem, und jeder Impuls, den ich habe, ihn daran zu erinnern, dass wir keinen Sex vereinbart haben, verfliegt, als er mit der Hand sanft meinen Hinterkopf umfasst und mich enger an sich zieht.
Seine Lippen stupsen meine auseinander, und meine reagieren und heißen den Kuss willkommen, als sei ich dafür geschaffen worden. Dafür geschaffen, ihn zu küssen.
Matts Zunge berührt meine, und ein kleines Stöhnen entschlüpft mir …
Genau in dem Moment wird die Haustür geöffnet.
»Oh! Ach du meine Güte!«
Ich stoße Matt weg, verblüfft von der Hitze, die mir in die Wangen schießt. Oh, so fühlt es sich also an zu erröten. Das habe ich nicht mehr gespürt seit … einer Ewigkeit.
Ich drehe mich um, und eine schlanke blonde Frau grinst mich an. »Matthew Cannon, ich habe dich eine Frau nicht mehr so in Verlegenheit bringen sehen, seit du mit Brianne Ross zum Schulball gegangen bist und ihr etwas ins Ohr geflüstert hast, bei dem ihr Gesicht ein dunkleres Rot angenommen hat als das von Tomatensoße.«
Ich drehe mich zu Matt um. »Was hast du ihr zugeflüstert?«
Matts Mutter stößt ein entzücktes Lachen aus. »Oh, ich kann verstehen, warum er Sie mag. Sie müssen Sabrina sein. Und ich bin natürlich Maureen Cannon, Matts Mutter.«
Eigentlich ist da nichts Natürliches daran, wenn man bedenkt, dass ich gerade eben in der Einfahrt eine Frau kennengelernt habe, die sich Matt gegenüber genauso mütterlich benommen hat. Aber ich spreche den Gedanken nicht aus. Natürlich
nicht.
»Mutter«, sagt Matt und beugt sich vor, um seine Mom auf die Wange zu küssen, bevor er durch die Tür tritt. »Schön, dich zu sehen.«
Sie legt die Arme um ihn und drückt ihn schnell an sich. »Ich bin so froh, dass du hier bist. Okay, Sabrina, kommen Sie rein, kommen Sie rein. Ziehen Sie Ihren Mantel aus und lassen Sie sich einen Drink geben.«
»Felicia ist da«, sagt Matt, während er mir aus meinem Trenchcoat hilft. »Bridget hat angerufen, daher wird es noch einen Augenblick dauern, bis sie reinkommt.«
»Oh, die arme Bridget«, erwidert Maureen mit einem bedauernden Seufzer, während sie Matt meinen Mantel abnimmt. Sie sieht mich an. »Das arme Ding hat kurz vor der Hochzeit beträchtlich zugenommen.«
»Mom.« In Matts Stimme schwingt ein sanfter Tadel mit.
»Ich sage das nicht, um gemein zu sein!«, beharrt Maureen. »Sie kann nichts dafür, dass sie von der Figur her nach ihrer Mutter kommt.«
Es ist ein zickiger kleiner Seitenhieb, so viel steht fest, aber es scheint nicht viel Bosheit dahinterzustecken. Es ist eher so, wie ich rivalisierende Schwestern übereinander habe reden hören – kleine Spitzen hier und da, um das eigene Ego zu stärken, aber keine echte Gehässigkeit. Fast so, als habe sie sich einfach mit der Anwesenheit der Frau bei Familientreffen arrangiert.
Maureen dreht leicht den Kopf in Richtung eines Flures auf ihrer rechten Seite. »Gary! Dein Sohn ist da!«
Eine Männerstimme antwortet sofort. »Matt! Komm kurz rein – ich will dir etwas zeigen.«
Matt wirft mir einen entschuldigenden Blick zu. »Er hat einen neuen Laptop. Zehn Mäuse, dass er mir nichts zeigen will, er will mich nur fragen, wie man ihn benutzt, während er so tut, als würde er mir etwas beibringen.«
Ich lächele zum Zeichen, dass ich mit seiner Mutter zurechtkommen werde. »Hoffentlich kommst du mit Computern besser zurecht als mit Geschichte.«
Maureen stößt ein Lachen aus, während Matt ein Haha-Gesicht macht und den Flur zu seinem Vater entlanggeht, wo auch immer der ist.
»Er hat Ihnen davon erzählt, wie?«, erkundigt Maureen sich, während sie mir bedeutet, ihr zu folgen. »Das hatte ich ganz vergessen. Es war wirklich witzig, sein Gesicht zu sehen, als ihm klar wurde, dass er in Britischer Geschichte eine Drei bekommen hatte. Ich dachte, er würde ohnmächtig werden.«
»Seine erste Drei?«
Sie verdreht die Augen. »Das Erste überhaupt, das keine Eins plus war. Obwohl er immer ein wenig härter für alles arbeiten musste, was sich nicht um Zahlen drehte. In dieser Hinsicht ist er wie sein Dad. Ein Taschenrechner als Gehirn, aber wenn’s ums Lesen und Schreiben geht, ist er lediglich Durchschnitt.«
»Das habe ich gehört!«, ruft Matt von irgendwo.
»Setzen Sie sich, setzen Sie sich«, sagt seine Mutter und ignoriert ihren Sohn, während sie mich in ein mit Accessoires überladenes Wohnzimmer führt. »Was kann ich Ihnen zu trinken anbieten? Wein, einen Cocktail, Limonade?«
»Weißwein wäre wunderbar«, antworte ich und lege meine Handtasche auf eine Bank neben der Tür. »Sie haben ein wunderschönes Haus.«
Ich sage es mehr aus Höflichkeit als aus irgendeinem anderen Grund. Es ist nicht so, als sei das Haus der Cannons nicht schön, es ist nur … protzig.
Der Boden im Eingang besteht aus weißem Marmor, und der Kronleuchter hat die Größe eines Kleinwagens. Vielleicht habe ich mich auch nur an die minimalistische Einrichtung der meisten New Yorker Wohnungen gewöhnt, aber hier scheinen überall
Sachen zu sein. Hübsches Zeug – hinreißende Prunkstücke, hohe Vasen, frische Blumen, schmückende Schatullen, goldgerahmte Kunstwerke an den Wänden.
Aber trotzdem … Zeugs.
Ich würde nicht so weit gehen, das Haus als erdrückend zu bezeichnen, aber ich kann mir nicht vorstellen, hier zu leben. Oje, was das betrifft, kann ich mir auch nicht vorstellen, dass Matt hier gelebt hat. Ich habe noch nie viel über Matts Vergangenheit nachgedacht, aber das hier hätte ich definitiv nicht erwartet. Nicht die Üppigkeit und schon gar nicht die anscheinend offene Natur der Ehe seiner Eltern.
Das liefert mir einen kleinen Einblick in den Mann, den ich vorher nicht hatte, und ich weiß absolut nicht, was ich mit den neuen Informationen anfangen soll. Ich weiß nur, dass der angespannte Mann, der mich heute Abend abgeholt hat, ganz anders ist als der verwegene Charmeur, den ich seit Jahren kenne. Und jetzt frage ich mich, welcher der echte Matt ist.
Ich überlege, ob er es überhaupt selbst weiß.
Es ist schwer zu glauben, dass der Mann sich so normal entwickelt hat, wie das der Fall ist, obwohl ich annehme, dass die Entscheidungen seiner Eltern doch zumindest einen dauerhaften Eindruck hinterlassen haben: sein Misstrauen gegenüber Beziehungen und Ehe.
»Matt hat erzählt, dass er Sie über einen beiderseitigen Freund kennengelernt hat«, beginnt Maureen, als sie mit einem Glas Weißwein für jede von uns zurückkehrt und auf den Sitz neben sich auf einem weißgoldenen Zweiersofa klopft.
Ich nehme neben ihr Platz und schlage die Beine übereinander. »Ja. Ich bin mit einem seiner Kollegen aufgewachsen.«
»Ian, nicht wahr?«
Ich nicke.
»Er ist ein gut aussehender Mann, na ja, das ist Kennedy auch, wobei seine Eltern ein wenig unterkühlt sind. Vor allem seine Mutter. Stellen Sie sich vor, wir waren vor einigen Jahren bei der gleichen Wohltätigkeitsveranstaltung wie sie, und ich dachte, dass es nett wäre, wenn wir einander kennenlernen würden. Aber lassen Sie sich gesagt sein, diese Frau …«
Ich klinke mich aus dem Gespräch aus, während sie über die charakterlichen Schwächen von Kennedys Mutter plappert, und reagiere nur mit einem gelegentlichen Nicken oder »Hmm-hmm.«
Es ist nicht so, dass Maureen Cannon ein schlechter Mensch wäre. Sie ist freundlich und scheint ihren Sohn aufrichtig anzuhimmeln. Aber sie ist auch egozentrisch, ein wenig schwatzhaft und, obwohl es mich nichts angeht, ich kann eine Frau, die ihren Mann betrügt, nicht recht mögen.
Selbst wenn er sie ebenfalls betrügt.
Armer Matt. Ich frage mich, wie lange er schon Bescheid weiß. Er hat erwähnt, dass seine Mutter mit seinem Little-League-Trainer geschlafen habe, und ich kann nur hoffen, dass er es erst lange nach der Affäre erfahren hat. Es wäre die Hölle gewesen für ein Kind, damit aufzuwachsen.
Meine Mutter hatte auch ziemlich viele Partnerwechsel, aber zumindest hatte sie genug Verstand, niemals zu heiraten.
»Entschuldigen Sie, jetzt habe ich die ganze Zeit geredet«, sagt Maureen und berührt mich am Arm. »Erzählen Sie mir etwas von sich. Ich gestehe, dass ich Sie gegoogelt habe, aber ich habe nicht viel über Ihre Familie herausgefunden.«
Meine Familie?
Meine Toleranz Maureen Cannon betreffend sinkt ein bisschen. Ich nehme an, in gewisser Weise sollte ich erleichtert darüber sein, dass sie mir die Fassade abgekauft hat, die ich für mich selbst errichtet habe. Dass sie mich als eine der Ihren ansieht.
Es überrascht mich nicht. Ich habe verdammt noch mal dafür gesorgt, dass die Leute genau das sehen, was ich ihnen zeigen will: eine gebildete, gefasste, erfolgreiche Frau, die die richtigen Kleider trägt, die richtigen Leute kennt und Small Talk ordentlich beherrscht.
Trotzdem fühlt sich das Ganze heute Abend leicht widerwärtig an. Vielleicht weil ich stark vermute, dass sie nicht annähernd so freundlich wäre, wenn sie meinen echten Hintergrund kennen würde.
»Ich stamme aus Philadelphia.« Ich nippe an meinem Wein.
»Oh, Philly!«, sagt sie mit gespieltem Entzücken. »Fahren Sie oft dorthin?«
»Nein.«
»Also ist Ihre Familie … Sie sind nicht mehr …«
»Mom.«
Ich schaue erleichtert auf, als Matt den Raum betritt, zusammen mit Felicia und einem älteren Mann, der offensichtlich sein Vater ist.
Matt hat die Augen seiner Mutter, alles andere von seinem Vater. Gary Cannon sieht exakt so aus, wie ich mir Matt in dreißig Jahren vorstelle.
Ich stehe auf, um ihn zu begrüßen, und er drückt mir fest die Hand. »Herzlich willkommen.«
»Danke für die Einladung, Mr Cannon.«
»Gary, bitte.« Er sagt es mit einem Lächeln, aber mein erster Eindruck ist trotzdem, dass er zwar das Äußere mit Matt teilt, aber längst nicht seinen Charme. Er hat etwas Hölzernes, Müdes an sich.
Wer weiß, vielleicht sind es Jahrzehnte voller Stress, weil er mit einer Frau schläft, während er mit einer anderen verheiratet ist?
Matt schenkt sich einen Drink aus einer der Flaschen auf dem Sideboard ein, während Felicia und Maureen über die Hochzeit von Felicias Tochter plaudern. Das Gespräch ist so zuckersüß, dass mir die Zähne wehtun.
Matt fängt meinen Blick auf und verdreht die Augen. Ich reagiere mit einem schnellen Lächeln. So seltsam und unerwartet die ganze Situation ist, hat es doch etwas eigenartig Angenehmes, bei alldem Matts Partnerin zu sein.
Ganz zu schweigen davon, dass es überraschend tröstlich ist zu begreifen, dass ich nicht die Einzige bin mit einem Background, der nicht so perfekt ist wie in einer Fernsehserie.
»Maureen«, unterbricht Gary die Einschätzung seiner Frau hinsichtlich der Fallstricke, die es birgt, wenn Felicias Tochter bei der Hochzeit keine glutenfreie Mahlzeit anbietet. »Wann essen wir?«
Maureen ignoriert die Unhöflichkeit ihres Mannes, aber ihr Lächeln ist ebenso brüchig, wie es breit ist. »Die beiden sind gerade erst angekommen, Gary. Sie sind bestimmt nicht anderthalb Stunden gefahren, um in aller Eile wieder aufzubrechen.«
Matts Gesichtsausdruck deutet an, dass ihm nichts lieber wäre als das, aber er sagt nichts, sondern nimmt nur einen Schluck von seinem Drink.
»Ich dachte, wir nehmen die Hors d’oevres auf der Terrasse. Das Feuer brennt, und wir haben gerade diese neuen Heizstrahler installieren lassen. Ich habe einen schönen gebackenen Brie …«
»In Ordnung«, unterbricht Gary sie und geht zur Tür.
Felicia folgt ihm und tätschelt dabei liebevoll, fast mütterlich Matts Arm.
Ich schaue zu Maureen hinüber, um festzustellen, ob es ihr etwas ausmacht, dass die Geliebte ihres Mannes sich ihrem einzigen Sohn gegenüber wie eine zweite Mutter benimmt, aber sie lächelt mich nur an. »Noch ein Glas Wein, meine Liebe?«
»Ja«, antwortet Matt für mich. »Vielleicht lieber gleich die ganze Flasche.«
Maureen stößt ein ahnungsloses Lachen aus, als sie wieder in die Küche geht.
Matt kommt auf mich zu, seine Miene undeutbar. »Alles okay?«
»Ich kann nicht bestreiten, dass dies als einer der seltsamsten Abende in die Geschichte eingehen wird, die ich je erlebt habe, aber ich fühle mich gut unterhalten.«
Ich bin erleichtert, als er lächelt. »Ich hätte dir alles erzählen sollen. Aber ich hatte Angst, du würdest nicht mitkommen.«
»Darauf kannst du wetten«, antworte ich, während ich seinem Vater und Felicia folge. »Aber ein Tipp für die Zukunft, wenn es eine echte Freundin ist, die vielleicht nicht so verständnisvoll sein wird …«
»Ich weiß, ich weiß. Die Blumen überspringen und Schmuck wählen.«
»Eigentlich …« – ich stelle mich auf die Zehenspitzen und küsse ihn auf die Wange – »… haben mir die Blumen gefallen. Sehr sogar.«
Ich trete hinaus auf die Terrasse, um meine Verlegenheit über meine Spontanität zu verbergen. Was ist los mit mir? Ich benehme mich viel zu sehr wie eine echte, vernarrte Freundin und nicht wie eine nur angebliche Freundin. Es ist sehr … verwirrend.
Die Heizstrahler, die Maureen erwähnt hat, schirmen den Außensitzbereich der Cannons auf wunderbare Weise gegen die herbstliche Kühle ab. Ich geselle mich zu Matts Familie an die Feuerstelle, gleichzeitig erfreut und alarmiert, als er sich neben mich setzt, so nah, dass unsere Knie sich berühren.
Erfreut, weil ich die Intimität des Augenblicks mag.
Alarmiert … weil ich auch ihn
mag.