26
Sabrina
Freitagabend, 6. Oktober
Nachdem die Sonne untergegangen war, wandelte das Wetter sich schnell von »frisch und belebend« zu regelrecht kalt, aber weder Matt noch mir machte das etwas aus. Stattdessen zogen wir jede Schicht Kleidung an, die wir mitgebracht hatten, bedienten uns an dem Stapel Fleecedecken, die adrett in einem Korb neben der Hintertür lagen, und rollten uns auf der riesigen, gepolsterten Chaiselongue mit Blick aufs Wasser zusammen.
Juno fläzt sich zu unseren Füßen, endlich müde von ihren endlosen Runden am Strand, und selbst mit dem Schwirren von Insekten um das Verandalicht herum und dem gelegentlichen ungestümen Gelächter einer Gruppe von Teenagern weiter oben am Strand ist der Abend der friedlichste, den ich seit Langem erlebt habe.
»Noch etwas Wein?«, fragt Matt und schaut hinab, wo mein Weinglas an seinen Knien lehnt. Mein Kopf ruht an seiner Schulter.
»Nein, ich brauche nichts mehr. Und du?«
»Ich lasse mir Platz für das Dessert.«
Ich stöhne. »Ich kann nicht einmal daran denken, noch mehr zu essen. Dieses Steak war gewaltig, und du hast ein halbes Pfund Butter auf meine Kartoffel gelegt.«
»Das ist die einzige Möglichkeit, die Dinger zu essen. Entweder das oder gebraten.«
»Oder als Püree«, entgegne ich.
»Ich habe Kartoffelpüree noch nie gemocht«, überlegt er laut. »Ich glaube, weil es mich an Thanksgiving erinnert.«
Ich hebe den Kopf, um ihn anzusehen. »Magst du Thanksgiving nicht?«
Er grinst. »Du hast meine Eltern kennengelernt. Was meinst du?«
»Sag mir, dass Felicia die Feiertage nicht bei euch verbracht hat.«
»Erst als ich auf dem College war. Sie waren wahrscheinlich der Meinung, dass es, da ich die meiste Zeit fort war, keinen Sinn mehr hatte, die Scharade aufrechtzuerhalten. Nicht dass sie das überhaupt jemals besonders gut hinbekommen hätten.«
»Gott, du armer Junge«, murmele ich.
»So schlimm war es nicht.«
»Es war ziemlich schlimm«, widerspreche ich mit einem Lachen.
Er sieht mich an, und sein Blick wird ernst. »Deine Kindheit war schlimmer.«
Ich schnappe schnell nach Luft. »Weißt du, vielleicht nehme ich doch noch etwas Wein.«
Ich will aufstehen, aber er legt mir eine Hand auf mein Bein und hält mich fest. »Sabrina.«
»Was?«
»Warum redest du niemals über deine Kindheit, dein Leben vor New York?«
»Weil es ätzend war. Wie du bereits gesagt hast, deine Kindheit war schlimm; meine war noch schlimmer. Ich sehe keinen Sinn darin, über Dinge zu sprechen, die man am besten ruhen lässt. Ian ist der Einzige aus diesem Teil meines Lebens, der übrig geblieben ist.«
Er fährt zusammen. Die Regung ist schwach, beinahe nicht wahrnehmbar, aber genug, um mich stutzen zu lassen. Matt ist doch nicht eifersüchtig auf Ian. Oder?
»Ich wollte nicht andeuten … ich meine nur … ich habe dich damals noch nicht einmal gekannt.«
»Ich weiß, weshalb es ätzend ist, dass ich immer am Rand stehe, als würde ich dafür bestraft werden, dass ich in Connecticut aufgewachsen bin und nicht mit euch beiden in Philadelphia.«
Ich berühre ihn am Arm. »Darum geht es dabei gar nicht. Es geht nicht darum, dass ich Ian mehr vertraue als dir.«
»Okay«, sagt er leise, und meine Brust krampft sich vor Panik zusammen. Er gibt mich bereits auf. Ich sollte erleichtert sein. Stattdessen fühle ich mich … verloren.
»Ist schon gut, Sabrina.« Matts blaue Augen werden sanfter, und er nimmt die Hand von meinem Knie und legt sie mir auf die Wange. »Du brauchst es mir nicht zu erzählen.« Die behutsame Zärtlichkeit in seiner Stimme ist wie ein Rammbock, der die Mauern attackiert, die er vorhin erwähnt hat.
Mein Selbsterhaltungstrieb ist über die Jahre hinweg stark ausgeprägt geblieben, aber mein Bestreben, mein Leben in qualvolle Vergangenheit und vorsichtig gezügelte Gegenwart aufzuteilen bröckelt von Tag zu Tag mehr. Zuerst bei Lara und Kate, jetzt bei ihm.
Ganz besonders bei ihm.
Vielleicht ist es an der Zeit. Vielleicht ist es höchste Zeit.
Ich hole Luft, um mir Mut zu machen. »Es ist keine schöne Geschichte.«
Seine Augen weiten sich vor Überraschung. Dann reicht er mir wortlos seinen Whisky, der stärker ist als mein Wein. Ich lächele und nehme einen Schluck. Es ist nicht unter meiner Würde, mit Mut anzutrinken.
»Es ist auch keine lange Geschichte«, spreche ich weiter und gebe ihm sein Glas zurück. »Ich meine, es ist keine verworrene Saga.«
»Verdammt, genau die liebe ich. Wie alle Männer.«
Ich belächele seinen Sarkasmus und nehme ihn zum Anlass, ein wenig Zeit zu schinden, während ich an einem einzelnen Faden der Decke zupfe.
Er schweigt und wartet. Lässt es mich auf meine Weise erzählen, wenn ich dazu bereit bin.
»Also. Du weißt, dass ich in Philly aufgewachsen bin. Aber es hatte nichts von Liberty-Bell-Flair oder einer schmackhaften örtlichen Spezialität wie Cheesesteak-Sandwich. Wir reden von einem Viertel, von dem du noch nie gehört hast, oder wenn doch, dann wegen seiner Verbrechensrate.«
Ich ziehe kräftiger an dem Faden.
»Mein Dad ist gestorben, als ich noch ein Baby war. Heroin-Überdosis. Aber nach dem, was ich mir über ihn zusammenreimen konnte, als ich älter wurde, ist zu bezweifeln, dass er da gewesen wäre, wenn er überlebt hätte. Ein Vorstrafenregister wegen sexuellen Missbrauchs, fahrlässiger Tötung bei einem Verkehrsunfall und … es gab noch mehr solche abscheulichen Dinge.«
Der winzig kleine Faden, mit dem ich herumgespielt habe, ist jetzt fast dreißig Zentimeter lang, dank meiner Nervosität. Matt legt seine Hand auf meine, schiebt seine Finger zwischen meine und drückt sie. Sprich weiter.
»Eine Weile gab es nur meine Mom und mich. Später kamen dann meine beiden Halbbrüder dazu. Wir haben abwechselnd in beschissenen Häusern und beschissenen Wohnwagen gelebt. Ich glaube nicht, dass ich länger als ein Jahr an einem einzigen Ort gewohnt habe. Meine Mutter mag ihre Drogen recht gern, ihren Alkohol noch mehr. Aber am meisten?« Ich hole Luft. »Am meisten mochte sie ihre Männer. Oder vielleicht mochten die Männer sie.«
»Wie sieht sie aus?«
Es ist eine einfache Frage, und ich nehme an, dass das seine Absicht ist. Ich drücke seine Hand. »Wie ich. Braune Augen statt blauer, aber ansonsten sehe ich genauso aus wie sie.«
Ich spreche nicht laut aus, dass ich jedes Mal, wenn ich in den Spiegel schaue, einen winzigen Blitz der Furcht verspüre, die Ähnlichkeit könnte sich nicht nur auf das Äußere beschränken. Dass ich genauso kalt, opportunistisch und egozentrisch bin.
»Sie war also schön. Was sonst noch?«
»Du machst das gut«, sage ich widerstrebend.
»Nur mit dir.« Er streicht mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
Mein Herz macht etwas Lächerliches, und ich wende den Blick ab, denn ich weiß, dass der harte Teil noch kommt.
»Sie hat es nie lange bei einem Job ausgehalten«, fahre ich fort, meine Worte ein klein wenig überstürzt. »Sie hat ab und zu in einem Kleidergeschäft gearbeitet, ist aber gefeuert worden, weil sie sich an der Ware bedient hat. Oder sie arbeitete in einer billigen Imbissstube und wurde gefeuert, weil sie viel besser darin war, mit den Kunden zu flirten, als ihnen tatsächlich ihre Mahlzeiten zu bringen.«
»Was ist mit dir? Wie bist du zu deinen Mahlzeiten gekommen?«
»Sagen wir einfach, diese Thanksgiving-Feiern, vor denen dir gegraut hat – ich hätte getötet, um meine Mom dazu zu bringen einzugestehen, dass Thanksgiving war.«
Matts Finger drücken meine, diesmal ein wenig fester. »Verdammt, Sabrina.«
»So schlimm war es gar nicht«, sage ich. »Irgendwann war ich alt genug, um herauszufinden, dass einige der größeren Lebensmittelketten Packungen mit Truthahn und Kartoffeln zum Mitnehmen anboten, das volle Programm. Ich habe jeden Penny von meinem Job in einem Dunkin’ Donuts gespart, um genug für meine Brüder zu kaufen, und wenn es ein gutes Jahr war, auch für meine Mom.«
»Und für dich selbst?«
Ich antworte nicht, denn das, was ich ihm erzählen muss, was er wissen muss, dreht sich nicht um die Frage, ob ich als Kind Preiselbeersoße bekommen habe oder nicht.
»Ich habe erwähnt, dass meine Mom ihre Typen mochte.« Meine Worte sind jetzt leise und kommen noch hektischer heraus. »Es steckte mehr dahinter. Sex war ein Mittel für sie, um Dinge zu bekommen, die sie haben wollte.«
Matt stößt einen entsetzten, verärgerten Laut aus.
»Es hat eine Weile gedauert, bis ich herausgefunden habe, was los war. Dass wir, kurz nachdem sie einen Mann mit nach Hause gebracht hatte, einen neuen Fernseher bekamen. Oder dass sie neue Schuhe hatte. Oder ein wenig mehr Geld zum Ausgeben. Ich habe sie dann danach gefragt, und sie hat gelacht und gesagt, es sei ein Darlehen. Oder ein Arrangement. Es wurde schlimmer, als sie immer abhängiger davon wurde, ›hübsche Dinge zu haben‹, wie sie es ausdrückte. In schlechten Wochen war es jede Nacht ein anderer Mann. Ein anderes Arrangement.«
»Oh Gott«, murmelt er betroffen, stellt sein Glas beiseite und fährt sich mit einer Hand übers Gesicht. »Kein Wunder, dass du nicht gern darüber redest.«
»Ja, die Tatsache, dass die eigene Mutter sich an kaum verhohlener Prostitution versucht hat, ist kein gutes Thema für Small Talk.«
Er sieht mich wieder an, seine Augen dunkel und glitzernd. »Hat sie es je von dir verlangt?«
Ich schnappe nach Luft, weil er die Wahrheit so schnell aufgedeckt hat. Von dieser Sache weiß niemand etwas. Nicht einmal Ian.
»Sabrina«, flüstert er.
»Es ist nichts passiert«, beeile ich mich, ihm zu versichern, denn er sieht so aus, als wolle er nach etwas schlagen. »Und sie hat es nicht von mir verlangt, nicht direkt. Aber je älter ich wurde, umso öfter haben ihre Typen es vorgeschlagen. Meine Mutter hat Nein gesagt, aber ich habe ihr Gesicht gesehen, und sie hat nicht Nein gesagt aus Entrüstung darüber, Männer von über vierzig könnten ihre Tochter anfassen. Es war Eifersucht. Konkurrenzdenken. Sie war nie besonders liebevoll, aber danach fühlte es sich zwischen uns wie ein regelrechter Krieg an.«
Ich trank einen Schluck Wein.
»Ich habe mit achtzehn meinen Abschluss gemacht, und nachdem ich die Familie meiner Halbbrüder praktisch mit Gewalt gezwungen hatte, die Vormundschaft für sie zu übernehmen und ihnen ein stabiles Zuhause zu geben, bin ich in den erstbesten Bus gestiegen und habe die Stadt verlassen.«
»Bist du jemals zurückgekehrt?«
»Nie«, antworte ich mit Nachdruck.
»Redest du mit ihr?«
Ich zögere und schäme mich ein wenig für meine Antwort. »Nein. Aber ich schicke ihr jedes Jahr ein Geburtstagsgeschenk. Ich weiß nicht, warum. Es öffnet lediglich Tür und Tor für Schuldgefühle und Bitten um Geld.«
Er atmet tief und geräuschvoll durch die Nase ein, als suche er nach den richtigen Worten. Stattdessen nimmt er mir mein Weinglas aus der Hand und stellt es beiseite. Dann zieht er mich an sich und drückt meinen Kopf an seine Brust.
Sein Herz klopft stetig und tröstlich unter meinem Ohr. Ich spüre seine Lippen auf meinem Haar, und obwohl ich nicht glaube, dass ich in meinem ganzen Leben jemals in einer Umarmung Trost gesucht habe, verstehe ich in diesem Moment, warum Menschen das tun. Ich lasse einen Arm um seine Taille gleiten und schließe die Augen, weil es sich so richtig anfühlt, von ihm gehalten zu werden.
Eine ganze Weile spricht keiner von uns, und wir hängen beide unseren eigenen Gedanken nach. Ich, weil ich erleichtert bin, endlich meine hässliche Vergangenheit entblößt zu haben. Er wahrscheinlich, weil er versucht, das alles zu verarbeiten.
»Ich habe zwei Fragen. Ich fürchte, dir wird vielleicht keine davon gefallen«, ergreift er schließlich das Wort.
Ich lächele, hebe aber nicht den Kopf. »Du weißt definitiv, wie du eine Frau erregen kannst.«
»Die Vergangenheit mit deiner Mutter. Ist das der Grund, warum du bei unserer ersten Begegnung wegen meiner Worte so am Boden warst? Als ich gesagt habe, du seist jeden Penny wert?«
»Hey, jetzt ist es aber gut«, antworte ich und richte mich in eine sitzende Position auf. »Ich war nicht am Boden. Ich war verärgert.«
Er sagt nichts, wartet nur ab.
Ich warte ebenfalls ab.
Er gewinnt.
»Okay, na schön, ja. Du hast einen Nerv getroffen, obwohl es natürlich keine Absicht war.«
»Nun, auch ohne deine Vergangenheit zu kennen, hätte ich das nicht sagen dürfen«, erwidert er und streicht mir übers Haar. »Aber nachdem ich deine Vergangenheit jetzt kenne … würde ich alles für eine Zeitmaschine geben.«
»Um meine Kindheit zu ändern oder um diese Nacht zu ändern?«
»Beides«, antwortet er mit einem Lächeln.
Ich erwidere das Lächeln. »Was ist deine zweite Frage?«
»Ist das Verhältnis deiner Mutter zu Männern der Grund, warum du so gegen feste Beziehungen bist?«
»Ja«, bestätige ich ohne jedes Zögern. »Aber um fair zu sein, wo ich herkomme, gab es nicht viele glückliche Beziehungen. Die meisten Kinder in meiner Klasse stammten aus geschiedenen Ehen, hatten alleinerziehende Elternteile, oder waren in Pflegefamilien. Meine Schule war alles andere als ein malerisches kleines Backsteingebäude an der Hauptstraße.«
Er zuckt zusammen, und ich lache.
»Ach du meine Güte. Du bist in eine malerische kleine Schule an der Hauptstraße gegangen.«
»Genau genommen war es eine Allee.«
»Nun …« Ich knibbele wieder an dem Faden in der Decke. »Wenn meine Bekanntschaft mit dir mich irgendetwas gelehrt hat, dann dass ein hübsches Haus in einem Viertel mit sauberen Straßen nicht immer ein glückliches Zuhause bedeutet.«
»Ganz gewiss nicht«, pflichtet er mir bei. »Aber die Probleme meiner Familie … Gott, ich kann nicht glauben, dass ich mich bei dir darüber beklagt habe.«
»So darfst du nicht denken«, sage ich, schaue auf und suche seinen Blick. »Deine Schmerzen sind ganz genauso berechtigt.«
Wir sehen einander sekundenlang in die Augen, und es ist nichts Unbehagliches daran. Lediglich Verständnis.
»Wir sind irgendwie verkorkst, hm?«, fragt er mit einem traurigen Lächeln.
»Ich bevorzuge das Wort wachsam .« Ich zwinkere ihm zu, um die Stimmung aufzuhellen. »Wir sind einfach schlau genug zu wissen, dass zwei Menschen die Gesellschaft des anderen genießen können, vielleicht sogar Freunde sein können ohne diesen ganzen Schmutz und Schmerz.«
Er schiebt die Hand tiefer in mein Haar und spielt mit den Fingern in den wirren Locken. »Freunde, hm?«
»Hypothetisch. Du weißt schon, in der Theorie. Für Menschen, die einander tatsächlich mögen.«
»Aber das gilt nicht für uns«, murmelt Matt.
»Definitiv nicht«, stimme ich ihm leise zu, während er mich zu einem Kuss an sich zieht, und ich lächele, als ich sein Lächeln spüre.
Der Kuss beginnt leicht und spielerisch, aber mit jeder Berührung unserer Lippen verweilen wir ein wenig länger, geht unser Atem ein wenig schneller.
»Sabrina«, sagt er. »Diese Sache, von der du sprichst, dass zwei Menschen die Gesellschaft des anderen genießen …«
»Ja?«
»Hast du Lust, meine Gesellschaft im Schlafzimmer zu genießen …« Sein Mund wandert an meinem Hals hinab.
Ich bringe ein Nicken zustande, und als Matt aufsteht und mich hochhebt, erfüllt mich die atemberaubende Erkenntnis, dass ich verkehrt lag damit, dass es auch ohne Schmutz und Schmerz geht.
Ich bin mir schrecklich, bin mir furchtbar bewusst, dass … ich mich längst viel tiefer verstrickt habe.
Ich habe mich in mehr als eine Freundschaft verstrickt und bin schmerzhaft verliebt in einen Mann, der meine Liebe niemals erwidern wird.