28
Sabrina
Sonntagabend, 8. Oktober
»Zum zehnten Mal, du brauchst mich nicht hier raufzubringen.«
»Weißt du, das wäre viel überzeugender, wenn du ein Schoßhündchen hättest und mit leichtem Gepäck reisen würdest«, sagt Matt, während er Junos Leine ein weiteres Mal von meinem Rollkoffer entwirrt. »Wie ich es sehe, hast du eine riesige Hündin, die keine fünf Schritte gehen kann, ohne sich in einem Koffer zu verheddern, der für einen Umzug nach Europa bepackt ist und nicht für einen Wochenendausflug.«
»Du kannst einfach sagen, dass du sauer bist, weil ich dich gezwungen habe, auf den Bauernmarkt zu gehen«, erwidere ich und schnuppere an dem riesigen Strauß, den ich in einem Arm trage, während ich darauf achtgebe, den großen weißen Kürbis im anderen nicht fallen zu lassen.
»Ich bin nicht sauer. Aber ich bleibe dabei, dass du zu viel eingepackt hast. Und Kürbisse sollten orange sein.«
»Weiße Kürbisse sind im Moment total in«, widerspreche ich und lege besagten weißen Kürbis zu meinen Füßen auf den Boden, damit ich meine Schlüssel herausholen kann.
Matt hakt Junos Leine von ihrem Halsband ab, sodass sie als Erste in die Wohnung gelangt. Wir folgen ihr, und obwohl ich es niemals zugeben werde … es sind tatsächlich eine Menge Sachen.
Ich bin normalerweise nicht der Typ für Bauernmärkte. Dafür Lieferservice und Klamotten gern jeden Tag. Aber als Matt und ich heute mit Juno Gassi gegangen sind, sind wir auf einen solchen Markt gestoßen, und irgendwie bin ich seinem Reiz erlegen.
Irgendwie bin ich dem Reiz dieses ganzen Wochenendes erlegen.
Und obwohl ich weiß, dass es wahrscheinlich ein Fehler ist, kann ich mich nicht dazu überwinden, auch nur einen einzigen Augenblick zu bereuen. Nicht die langen, geruhsamen Mahlzeiten, die Champagner-Frühstücke, den Sex, nichts davon.
Es war beängstigend, Matt am Freitagabend mein Herz auszuschütten, aber es hat für den Rest des Wochenendes etwas Wunderbares bewirkt.
Siehe Bauernmarkt.
Außerdem …
Ich werfe Matt einen koketten Blick zu und warte ab, ob er das Thema als Erster zur Sprache bringen wird.
Er sieht mir in die Augen und grinst, während er Junos Wassernapf auffüllt. »Ich bitte dich nicht darum.«
»Aber trotzdem, du willst es.«
»Oh, ich will es«, pflichtet er mir bei und stellt die Schale vor meinen hechelnden Hund. »Aber noch mehr will ich gewinnen.«
Ich schürze die Lippen. Ich gewinne ebenfalls gern. Aber ich mag auch mein Handy. Das Schlimmste ist, es war meine eigene Idee.
Als wir am Freitagabend darauf gewartet haben, dass die Steaks auf dem Grill fertig wurden, ist mir aufgefallen, dass sowohl Matt als auch ich auf unsere iPhones geschaut haben, und ich hatte den Verdacht, dass das mehr aus Gewohnheit war als aus irgendeinem anderen Grund. Ich habe gewettet: Wer kann am längsten ohne auskommen? Dann haben wir sie an Ort und Stelle ausgeschaltet und ausgetauscht, damit keiner von uns in Versuchung kommt, einen heimlichen Blick zu riskieren, während der andere nicht im Raum ist.
Es war seltsam, aber auch überraschend befreiend.
Ich erinnere mich nicht daran, wann ich mir das letzte Mal erlaubt habe, nur im Augenblick zu leben, in welchem auch immer. Es schien viel zu heikel, mit den eigenen Gedanken allein zu sein, ohne Facebook-Ablenkung, ohne hereinkommende E-Mails, wie belanglos sie auch sein mochten.
Es ist aber noch heikler, mit den eigenen Gedanken allein zu sein … und mit seinem schlimmsten Feind.
Nur dass er das nicht ist.
Und wenn ich ehrlich bin, ist er es schon lange nicht mehr.
Zum Teufel, um wirklich ganz ehrlich zu sein, ich weiß nicht, ob er jemals mein schlimmster Feind war und nicht vielmehr meine größte Bedrohung. Die Person, von der ich von Anfang an gespürt habe, dass sie mich vernichten könnte.
Nicht gesehen habe ich bis vor Kurzem, dass die Person mit der Macht, einen zu zerstören, gleichzeitig die Person sein kann, die einen aufbaut. Die Person, die einen dazu bringen kann zu leben, wie man noch nie zuvor gelebt hat. Die Person, die Licht in die Dunkelheit wirft und den Grauschleier wegreißt, sodass das Leben farbenfroh erscheint.
Die Person, die jemanden, der vollkommen zufrieden ist, glücklich machen kann.
Die Person, die mich
glücklich machen kann.
Wovon ich, wie ich mit Bedauern sagen muss, nicht einmal wusste, dass es möglich ist. Ich hatte mich zu sehr an den Gedanken gewöhnt, alles, das besser ist als Hunger und Zorn, sei ein gutes Leben.
Ian hat mir immer ein Gefühl von Sicherheit gegeben, wie ein großer Bruder. Ich dachte, besser könne es nicht werden. Diese letzten Wochen mit Matt haben meine Einschätzung verändert. Hölle, diese letzten vier Jahre mit ihm haben sie verändert. Die Gefühle, die er in mir heraufbeschwört, haben in mir immer den Wunsch geweckt, die Flucht zu ergreifen.
Aber jetzt nicht mehr. Jetzt will ich … bleiben.
Ich wünschte nur, ich wüsste, was als Nächstes kommt. Ich habe das noch nie gemacht. Ich habe mich noch nie in jemanden verliebt, geschweige denn in jemanden, dem Beziehungen genauso gegen den Strich gehen wie mir.
Matt, der keine Ahnung von meinen Gedanken hat, zieht mein Handy aus seiner Gesäßtasche und wedelt verlockend damit herum. »Hm?«
Ich beiße mir auf die Lippen. Ich will dieses Handy wirklich zurück. Ich nehme sein Telefon aus meiner Tasche und halte es hoch. »Wollen wir es einen Pakt nennen?«
»Abgemacht«, willigt er erleichtert ein.
Wir tauschen die Telefone, und ich fülle für jeden von uns ein Glas mit Mineralwasser, während ich darauf warte, dass mein iPhone wieder hochfährt.
»Also, ich habe eine Frage«, beginnt Matt und nimmt das Glas in Empfang, das ich ihm hinhalte. »Du hast ein anständiges Einkommen, und ich weiß aus erster Hand, dass du verdammt gut in deinem Job bist. Aber wie sieht deine Arbeit eigentlich an einem durchschnittlichen Tag aus?«
»Das hängt davon ab, ob ich ein aktives Projekt habe oder nicht. Wenn ich einen Vertrag unterschreibe, ist diese Person meine Priorität. Aber angenommen, der Betreffende braucht mich nicht rund um die Uhr, höre ich mich um, was so los ist und pflege meine Kontakte. Treffen zum Kaffee, zum Lunch, was auch immer. Wenn ich mich dem Ende eines Projekts nähere, denke ich darüber nach, was als Nächstes kommt.«
»Wie ziehst du neue Kunden an Land?«, erkundigt er sich neugierig.
Ich lächele hinterhältig. »Überhaupt nicht. Die Kunden finden mich. Um die Wahrheit zu sagen, ich habe mehr Anfragen, als ich jemals annehmen könnte. Ich darf mir aussuchen, woran ich arbeite.«
Er lächelt. »Was für ein Glückspilz ich bin, dass ich dich in einer Flaute erwischt habe.«
Ich nippe noch einmal an meinem Getränk und wende den Blick ab, nicht ganz bereit, ihm zu sagen, dass es bei mir so etwas wie Flauten nicht gibt. Dass ich, als er mich um meine Hilfe gebeten hat, fast ein Dutzend anderer Anfragen hatte, von denen einige mit Freuden das Dreifache dessen bezahlt hätten, was er für meine Unterstützung bezahlt.
Stattdessen habe ich Matts Job angenommen. Nicht weil der Verdienst der Beste war, nicht einmal weil sein Fall der Interessanteste war. Sondern weil es um Matt
ging.
Weil er mich brauchte.
Bereue ich es? Nein.
Ich wünschte nur, ich könnte es noch einmal machen und mich diesmal nicht in den Mann verlieben. Aber das ist vielleicht nicht möglich. Vielleicht habe ich den ersten Schritt auf diesem Weg schon in der allerersten Nacht mit ihm getan.
Es spielt keine Rolle, nehme ich an. Wie es geschehen ist, ist nicht wichtig. Es zählt nur, dass das Gefühl sich in absehbarer Zeit nicht legen wird und ich entscheiden muss, was zum Teufel ich deswegen unternehmen will.
Es kommt selten vor, dass ich nicht das Gefühl habe, alles vollkommen unter Kontrolle zu haben, und es gefällt mir nicht. Überhaupt nicht.
»Also, wie geht es weiter?«, fragt Matt, der an meiner Theke lehnt. Ich sehe, dass sein Telefon hochgefahren ist, aber seine Aufmerksamkeit gilt immer noch mir. Als sei das, was ich zu sagen habe, wichtig.
»Nun, bis zur Gala bleibt noch mehr als eine Woche Zeit, daher stehe ich offiziell immer noch auf deiner Lohnliste«, antworte ich.
»Und nach der Gala?«
»Dann habe ich die Wahl.« Ich drehe das Glas auf der Theke hin und her. »Ich habe eine Einladung, ein paar Wochen die Gesellschafterin einer irrwitzig reichen Achtzigjährigen in Florenz zu spielen, deren Sohn sich Sorgen macht, sie könnte auf einen Heiratsschwindler hereinfallen. Dann gibt es einen Lottogewinner aus Jersey, der will, dass ich seiner Tochter eine Verabredung mit einem Prinzen verschaffe. Irgendeinem Prinzen. Jemand aus Midtown will, dass ich die Flamme der Woche gebe, um eine Exfreundin eifersüchtig zu machen.«
»Nein«, sagt Matt. »Nicht das Letzte.«
Ich lächele über den Unterton der Eifersucht in seiner Stimme. »Spielt es eine Rolle, dass der Jemand eine Frau ist?«
Er öffnet den Mund, zögert jedoch. Dann schüttelt er den Kopf. »Ich bin immer noch dagegen. Obwohl mir klar ist, dass ich über die Gala hinaus keinen Anspruch auf deine Zeit habe.«
Könntest du aber. Du bräuchtest nur zu fragen.
Aber ich habe nicht den Mumm, ihm das zu sagen, und er hat nicht den Mumm, danach zu fragen.
Oder schlimmer noch, vielleicht will er es gar nicht.
Ich beiße mir auf die Lippe und überlege, ob ich ihn an Jarod Lanhams Interesse an meinen Diensten erinnern sollte. Ich entscheide mich dagegen. Wenn Jarod doch beschließt, mich zu engagieren, und wenn ich beschließe, ihn als Kunden anzunehmen, verdient er die gleiche Diskretion, die ich all meinen Kunden gewähre.
Matt greift nach seinem Handy, und ich tue das Gleiche. Da sind einige Dutzend neue E-Mails. Das war zu erwarten.
Ich entdecke außerdem mehrere Voicemails und Textnachrichten. Das ist unerwartet. Meine E-Mail-Adresse steht auf meiner Visitenkarte – jede Menge Leute haben eine. Meine Telefonnummer haben nur einige auserwählte Mitglieder meines inneren Zirkels. Ian. Kate und Lara.
Alle drei haben mir Nachrichten geschickt. Mehrfach.
Ian: Ruf mich an.
Lara: Gott sei Dank bist du nicht der Typ, der ausflippt. Stimmt’s? Du flippst doch nicht aus, oder? Gib mir Bescheid.
Keine ihrer Nachrichten verrät mir, was los ist. Kate ist hilfreicher.
Kate: Oh mein Gott. Was? Lies das. Und erklär es mir dann.
Ein Link zu einer Tratschseite begleitet ihre Nachricht, und als ich darauf klicke, sagt mir die Überschrift alles, was ich wissen muss.
Der eingefleischteste Playboy der Wall Street steckt sich einen Ring an …
Das Foto dazu zeigt Matt und mich gestern Abend beim Essen, wie wir uns eine Flasche Wein teilen und … nun ja … vertraut miteinander aussehen. Obwohl es mein Fassungsvermögen übersteigt, wie zur Hölle jemand daraus schließen kann, dass wir verlobt sind.
Nachdem ich den Artikel schnell überflogen habe, habe ich meine Antwort. Es ist nichts als ein Fall von gutem, altmodischem Schwachsinn. Eine dem Paar nahe Quelle
hat behauptet, ich hätte ein Kleid gekauft. Falsch.
Wir zögen Saint John’s als Schauplatz für die Zeremonie in Erwägung. Falsch.
Wir hätten bereits Tickets für Neuseeland für unsere Hochzeitsreise gebucht. Falsch.
Matt sei in Tiffany & Co gesehen worden, wie er sich Verlobungsringe angeschaut hat. Super falsch.
Ich lache ein wenig über die Kühnheit des Ganzen. Es erstaunt mich immer wieder, wie viele solcher Dinge erfunden werden. Na gut, diesmal wirkt es sich zu unseren Gunsten aus, aber es reicht trotzdem, um deswegen die Augen zu verdrehen.
Ich sehe zu Matt auf und erkenne an seinem Stirnrunzeln, dass er ähnliche Nachrichten erhalten hat.
Ich beuge mich mit einem neckenden Lächeln vor. »Sieh an. Was für einen Ring hast du denn für mich gekauft? Ich bevorzuge ja die traditionelle Tiffany-Krappenfassung, aber solange er groß ist und funkelt …«
Ich breche ab, als er den Kopf neigt und mir in die Augen sieht. Er wirkt nicht erheitert oder auch nur verärgert.
Er wirkt …
Nun, verflixt. Ich kann es nicht erkennen.
»Hey«, sage ich leise und beuge mich über die Theke, um seine Hand zu berühren. »Es ist bloß ein blöder Artikel in einem Klatschblatt. Die Leute werden ihn vergessen.«
Er nickt, erwidert jedoch nichts.
Ich lächele ein wenig breiter, entschlossen, die plötzliche Verlegenheit zu zerstreuen, die sich herabgesenkt hat. Und wichtiger noch, die Sehnsucht in meinem Herzen auszulöschen. Den Wunsch danach, es möge stimmen. »Sieht so aus, als hätten wir unseren Job ein klein wenig zu gut gemacht, oder? Ich meine, ich weiß, dass ich gut bin, aber nicht einmal mir war klar …«
»Was, wenn wir es getan hätten?«, unterbricht er mich.
Ich runzele verwirrt die Stirn. »Was getan?«
»Geheiratet.«
Mir klappt der Unterkiefer herunter, und mein Magen schlägt einen Purzelbaum. »Damit würden wir die Scharade ein wenig weit treiben, meinst du nicht auch?«
Sein Kiefer verspannt sich, und er schaut zu Boden, bevor er wieder aufsieht. »Was, wenn es keine Scharade wäre?«
Ich lege mir eine Hand auf meinen immer noch flatternden Bauch. »Matt. Du willst nicht heiraten.«
»Nicht im traditionellen Sinn, nein«, sagt er. »Aber ich hätte nichts dagegen, es auf deine Weise zu probieren.«
»Meine Weise?«
»Du weißt schon. Sex. Kameradschaft. Keine emotionalen, chaotischen Szenen.«
Mir bleibt die Luft weg. Irgendwie fühlt sich dieser Moment an wie meine ultimative Fantasie und mein schlimmster Albtraum, alles zusammengenommen zu einem verwirrenden, herzzerreißenden Augenblick. Denn jetzt weiß ich, dass ich so viel mehr will.
»Ich kann nicht«, flüstere ich.
»Warum nicht?«, entgegnet er, seine Stimme drängend, als er näher tritt. »Ich habe die letzten Wochen genossen, und ich weiß, dir geht es genauso. Du hast selbst gesagt, dass du jemanden willst, zu dem du am Ende des Abends heimkehren kannst, und … verdammt, warum kann dieser Jemand nicht ich sein? Wir wissen, dass wir uns streiten würden, aber wir wissen auch, dass der Versöhnungssex großartig wäre. Wir respektieren einander, und keiner von uns müsste so tun, als seien wir die nächste große Liebesgeschichte …«
»Ich kann nicht«, wiederhole ich, verzweifelter diesmal.
Matt runzelt besorgt über meinen Ton die Stirn und streckt eine Hand nach mir aus. »Ist schon gut; ich weiß, dass das plötzlich kommt. Du brauchst Zeit zum Nachdenken und …«
»Nein.« Ich schüttele den Kopf und schließe die Augen. »Ich meine, ja, es kommt plötzlich, aber das ist nicht der Grund, warum ich Nein sage.«
Als ich die Augen wieder öffne, ist sein Gesichtsausdruck verschlossen und undeutbar. »Warum sagst du Nein?«
Ich hole tief Luft. »Weil du mich nicht liebst.«
Matts Augen weiten sich ein wenig vor Schreck. »Nun … nein. Ich meine … das kommt bei mir nicht vor. Aber bei dir auch nicht.«
Ich beiße mir so heftig auf die Unterlippe, dass mir die Augen tränen. Tatsächlich, nein. Meine Augen tränen aus einem gänzlich anderen Grund. Das hier tut weh.
»Sabrina.« Sein Ton ist scharf. »Du liebst mich nicht, oder?«
Ich atme tief durch, als mir klar wird, dass ich es ihm – und mir selbst – schuldig bin, vollkommen ehrlich zu sein.
Mit einem erzwungenen Lächeln ziehe ich die Schultern hoch und lasse sie wieder sinken. »Anscheinend doch. Und da ich jetzt weiß, wie sich das anfühlt, glaube ich nicht, dass ich zu einer Ehe in der Lage bin, die nur auf Freundschaft beruht, wie ich es immer gedacht habe. Ich will … mehr. Ich will eine richtige Ehe. Und ich glaube nicht, dass ich mich mit weniger begnügen kann.«