Georgie
DIENSTAGMORGEN
Reden wir doch mal über fünf Uhr in der Früh.
Das ist doch die schlimmste Stunde des Tages, habe ich nicht recht?
Und wieso?
Nun, wenn man um fünf Uhr in der Früh
wach ist, kann das mehrere Ursachen haben, und allesamt sind sie schrecklich.
Szenario eins: Man ist auf dem Weg zum Flughafen, um einen frühen Flug zu erwischen. Schrecklich
.
Szenario zwei: Man war die ganze Nacht unterwegs, der Wodkarausch lässt allmählich nach, und man ist gerade wieder nüchtern genug, um zu ahnen, dass man den Tag vermutlich nur mit Kopfschmerztabletten, jeder Menge Kohlehydraten und flüsternd überstehen wird. Schrecklich
.
Szenario drei: Es geht einem lauter Mist im Kopf herum, man liegt wach im Bett, starrt an die Decke und hasst sein Leben. Vielleicht hasst man sich sogar selbst, keine Ahnung. Schrecklich
.
Aber jetzt aufgepasst, denn Szenario vier ist das schrecklichste von allen: Man ist um fünf Uhr in der Früh wach, weil man ein verklemmter Idiot ist, dessen Tagesablauf noch starrer ist als seine Körperhaltung und dessen Leben sich nur zwischen Fitnessstudio und Büro abspielt. Dieser Typ Mensch lebt von Proteindrinks und grünen Smoothies und sagt Sätze wie: Der Körper ist ein Tempel
.
So jemand hat keine Freunde.
Aber Moment mal, ich greife voraus.
Also, es ist fünf Uhr in der Früh, und ich, Georgie Watkins, finde das … irgendwie aufregend.
Ich weiß. Ich weiß
. Noch vor vier Monaten hätte ich meine Lieblingstasche, ein edles Chanel-Teil, verwettet, dass ich mich garantiert niemals im Leben auf die schaurige Uhrzeit fünf Uhr in der Früh freuen würde.
Und doch ist es so.
»Guten Morgen, Ramon«, flöte ich, als ich durch die Drehtür des luxuriösen Hochhauses Ecke 56th und Park Avenue trete, in dem ich zu Hause bin.
Der Portier, der gleichzeitig auch Wachmann und Mädchen für alles ist, schaut hoch und lächelt mich freundlich an. »Ms Watkins. Guten Morgen.«
Normalerweise geht es an dem massiven Empfangstresen zu wie in einem Taubenschlag. Etwa ab sieben nimmt sich ein Heer wohlgekleideter Portiers rasch und effizient der Probleme ungeduldiger Bewohner an, deren Minihunde zur Begrüßung aus ihren Louis-Vuitton-Taschen heraus kurze, hohe Kläfftöne von sich geben.
Aber erst später.
Jetzt ist es weitgehend ruhig in dem luxuriösen Eingangsbereich. Am Tresen hält nur der Nachtportier allein die Stellung, bis die Tagschicht eintrudelt, um den morgendlichen Ansturm zu bewältigen.
Ich klemme mir meine neue Tory-Burch-Abendtasche unter die Achsel und halte Ramon mit Verschwörermiene eine Schachtel hin: »Ich habe Ihnen etwas mitgebracht.«
Ramons Lächeln wird breiter, und seine braunen Augen leuchten auf. »Meine Frau sagt, ich werde noch fett, wenn Sie mich weiter so verwöhnen.«
»Sagen Sie Marta, dass der Daddy-Typ gerade total
angesagt ist«, erwidere ich, stelle die Schachtel auf dem Tresen ab und öffne den Deckel. »Wenn Sie natürlich keine Lust auf einen Bacon-Donut mit Ahornsirup haben …«
Ramon greift in die Schachtel und schüttelt andächtig den Kopf, als er die zuckrige Köstlichkeit herausnimmt. »Noch ganz warm.«
»Na ja, offiziell öffnet der Laden erst um fünf, aber ich bin eine so treue Kundin, da lässt man mich auch ein bisschen früher rein.« Ich betrachte die Auswahl an Donuts und versuche zu entscheiden, ob ich eher in Stimmung für einen mit Schokolade oder mit Puderzucker bin.
Da mein Alexander-McQueen-Minikleid schwarz und somit der Erzfeind von Puderzucker ist, nehme ich mir einen Schoko-Donut, lege meine Abendtasche auf den Tresen und fische mein Handy heraus. 4 Uhr 58.
Noch zwei Minuten.
»Wie geht es Marta mit ihrer dritten Schwangerschaft?«, frage ich, beiße in den Donut und richte den Blick wieder auf Ramon, der seinen bereits hinuntergeschlungen hat und überlegt, ob er sich einen zweiten genehmigen soll. Ich schiebe ihm die Schachtel hin.
»Es geht ihr gut«, antwortet er. »Sie ist ganz begeistert, dass wir endlich ein Mädchen bekommen.«
»Ein Mädchen!«, erwidere ich und drücke über den Tresen hinweg seinen breiten Oberarm. »Glückwunsch, das wusste ich ja noch gar nicht.«
»Das haben wir auch erst gestern erfahren.« Er lächelt selig und kommt offenbar zu dem Schluss, dass diese Neuigkeit einen weiteren Donut rechtfertigt.
»Ach, herrlich, da weiß ich das perfekte
Geschenk«, sage ich und beiße genüsslich ein Stück von meinem Donut ab. »Ich habe vorgestern bei Bergdorf’s diesen unglaublich niedlichen Strampler gesehen, mit einer süßen kleinen roten Schleife …«
»Ja, weil ein Baby genau das braucht«, unterbricht mich eine tiefe Stimme. »Einen Vierhundert-Dollar-Fetzen, den man in die Reinigung geben muss. Machen Sie sich doch nicht lächerlich, Georgiana.«
Ich brauche nicht auf die Uhr zu schauen, um zu wissen, wie spät es ist.
Fünf Uhr.
Auf die Sekunde.
Ich mache mir gar nicht erst die Mühe, den Kopf zu wenden, ich verdrehe nur die Augen, zupfe mit meinen roten Fingernägeln ein Stückchen aus dem Donut und stecke es mir in den Mund. »Ramon, könnten Sie die Wartungsleute bitten, die Temperatur ein bisschen höher einzustellen. Es ist hier gerade etwas kühl geworden.«
Ramon arbeitet schon lange genug hier, um zu wissen, dass ich das nicht ernst meine. Er beachtet mich nicht einmal mehr. Er hat bereits seinen Donut beiseitegelegt und Haltung angenommen, und jetzt salutiert er regelrecht vor dem Neuankömmling.
»Mr Mulroney. Guten Morgen, Sir.«
»Mr Ramirez.« Die Stimme klingt tief und ernst, eine Spur ungeduldig, ohne direkt unhöflich zu sein.
Kennen Sie das Sprichwort, dass man Fliegen am besten mit Honig fängt? Ich bin mir nicht sicher, ob das stimmt. Ich bringe den Jungs am Tresen fast jeden Morgen Donuts, und sie lieben mich. Das weiß ich.
Aber ihn respektieren
sie.
Ich ergebe mich in mein Schicksal und drehe nun doch den Kopf. Unsere Blicke treffen sich, seiner ist ernst und vorwurfsvoll.
Ich setze mein strahlendstes Lächeln auf, einfach weil ich weiß, dass ihn das in den Wahnsinn treibt.
Wie immer, wenn ich mit den Wimpern klimpere, zuckt an seinem Kinn ein Muskel.
»Guten Morgen, Andrew«, begrüße ich ihn zuckersüß.
»Georgiana.«
Ich widerstehe der Versuchung, die Augen zu verdrehen. Mit meinem vollen Namen hat mich nur meine verstorbene Großmutter angesprochen, und das mit ziemlicher Sicherheit nur deshalb, weil sie genauso hieß. Alle anderen nennen mich Georgie. Na gut, nicht alle. Ramon und die anderen Jungs bestehen noch immer darauf, mich Ms Watkins zu nennen, aber ich arbeite daran – zum Beispiel mit täglichen Donuts.
Ich lächle noch breiter und schiebe Andrew die Schachtel hin. »Donut?«
Er verzieht verächtlich die Lippen. Falls noch nicht eindeutig klar geworden ist, wie dieser Mann tickt: Er gehört zu den Typen, die Donuts missbilligen.
Er hält einen langweiligen schwarzen Thermobecher in die Höhe. »Ich habe mein Frühstück dabei.«
»Quinoa mit ein bisschen Spinat und Prahlerei?«
»Proteinshake.«
»Klingt unglaublich
befriedigend.«
Er nippt an der Abscheulichkeit und betrachtet mich aus kalten braunen Augen. »Der Körper ist ein Tempel, Georgiana.«
Na also.
Da schließt sich der Kreis zu meinen vorherigen Ausführungen, welcher Typ Mensch um fünf Uhr in der Früh bereits auf den Beinen ist.
Ich? Ich bin diejenige, die gerade erst von einer feuchtfröhlichen Nacht zurückkehrt, wobei ich das mit 26 glücklicherweise sehr viel besser beherrsche als mit 22 und mich nicht mehr bis zur Bewusstlosigkeit betrinke. Normalerweise belasse ich es bei ein paar Gläsern Champagner und trinke nach zwei Uhr gar nichts mehr, daher bin ich im Moment vollkommen nüchtern. Glücklicherweise, unglücklicherweise … da bin ich mir noch nicht ganz sicher.
Er dagegen?
Nun, mittlerweile ist ja klar, welcher Fünf-Uhr-morgens-Typ er ist. Szenario vier.
Und wer ist er
überhaupt?
Andrew Mulroney, Rechtsanwalt.
Das weiß ich, weil wir am selben Tag in dieses Haus eingezogen sind, und kurz bevor wir in einen heftigen Streit gerieten, wessen Umzugswagen als Erster in der Ladezone des Gebäudes parken durfte, hatte er mir seine Visitenkarte gegeben.
Der dicke weiße Elfenbeinkarton tat kund, dass er ein Jurastudium an einer Universität abgeschlossen hatte, die so edel war wie der Anzug, den er samstags trägt.
Andrew überreichte sie mir derart herablassend, dass ich mir doch tatsächlich eine halbe Sekunde lang wünschte, ich besäße ebenfalls eine Visitenkarte, die aber irgendwie noch besser aussähe als seine. Zum Beispiel mit Goldumrandung oder so. Nein, mit Platin
und so schwer, dass er sie nicht halten könnte. Er würde sie fallen lassen, und dann müsste er vor mir in die Knie gehen, um sie aufzuheben.
Doch im nächsten Moment wurde mir bewusst, dass es nur gut war, dass ich keine Visitenkarte besaß.
Denn … was sollte darauf stehen? Georgie Watkins, professionelles Partygirl
?
Aber ich schweife ab. Obwohl es an jenem schwülen Morgen im Juli bereits sehr heiß war, begann mit diesem Zusammenstoß ein Kalter Krieg epischen Ausmaßes. Ich, das It-Girl aus Wohnung 86A, gegen den zugeknöpften Rechtsanwalt aus Wohnung 79B.
Ich bin mir nicht hundertprozentig sicher, dass ich den Krieg gewinnen werde, aber das werde ich ihm sicher nicht verraten.
Ich mustere Andrew von oben bis unten, obwohl sein Äußeres nur selten Überraschungen bereithält. Der Mann ist die pure Eintönigkeit, wie eine krankhaft ordnungsbedürftige Personifikation von Und täglich grüßt das Murmeltier
.
In der rechten Hand hält er immer den schwarzen Becher mit irgendeiner gesunden Brühe, in der linken die Tom-Ford-Aktentasche und den Armani-Kleidersack mit dem maßgeschneiderten dreiteiligen Anzug.
Andrews kupferfarbenes Haar ist perfekt gestylt, allerdings habe ich den Verdacht, dass es von Natur aus leicht lockig ist und sich der perfekten Anordnung zu widersetzen versucht. Ich kann mir vorstellen, dass ihn das nervt, also macht es mich glücklich.
Mal schauen, was lässt sich noch über meinen Erzfeind sagen?
Er hat ein eckiges, abweisendes Kinn, das makellos rasiert ist. Dunkelbraune Augen, kalter und harter Blick. Über der einen Schulter eine schwarze Sporttasche.
Man könnte eventuell
sagen, dass er sein Outfit variiert, denn er trägt manchmal ein schwarzes und manchmal ein graues Sporthemd. Aber da beide den gleichen Schnitt haben und beide seinen beeindruckend geformten Oberkörper betonen, bekommt er hier keine Punkte für Abwechslung.
Bei seiner unteren Körperhälfte verhält es sich genauso: Die schwarzen Shorts, die er im Sommer getragen hat, haben jetzt im Oktober einer eng geschnittenen Trainingshose Platz gemacht, aber da beide schwarz und von Nike sind, gilt das nicht wirklich als Veränderung.
Die Schuhe dagegen …
Ich schaue ein zweites Mal hin.
Nein, so etwas …
Statt der üblichen schwarzen Sportschuhe trägt er rote
Schuhe. Wie konnte mir das nicht gleich auffallen?
Grinsend richte ich den Blick wieder auf sein Gesicht. Er verdreht ganz leicht die Augen, um mir zu zeigen, dass ihm mein musternder Blick zwar nicht entgangen ist, es ihn aber nicht im Geringsten interessiert.
»Sie waren shoppen, Dorothy«, sage ich fröhlich.
Er starrt mich an. »Ich gehe nicht shoppen.«
Natürlich nicht. Viel zu frivol.
»Nein, natürlich nicht«, entgegne ich und deute auf seine Füße. »Glinda wird Ihnen die besorgt haben.«
Andrew wirft einen Blick auf seine Rolex. »Ich muss los. Schönen Tag noch, Mr Ramirez.«
»Ihnen auch, Mr Mulroney«, erwidert Ramon.
»Ja, viel Spaß«, sage ich, drehe mich um und beobachte, wie sich Andrew zum Eingang unseres Gebäudes begibt. »Was steht heute auf dem Programm? Laufband oder ein bisschen auf dem gelben Ziegelsteinweg herumhüpfen?«
Andrew Mulroney, Rechtsanwalt, antwortet nicht. Er dreht sich nicht einmal um, bevor er durch die Drehtür in den noch dunklen Herbstmorgen hinaustritt.
Na? Das hat doch wirklich zumindest ein bisschen
Spaß gemacht, trotz der unchristlichen Uhrzeit.
Ich drehe mich zu Ramon um, der bereits wieder seinen Donut in der Hand hält. »Jetzt mal ehrlich, müssen Sie sich dermaßen bei ihm einschleimen?«
»Ja, wenn ich einen Weihnachtsbonus bekommen möchte«, erwidert Ramon und deutet ein Lächeln an.
Ich lege die Hand an die Brust und sage, als wäre ich tief beleidigt: »Bei mir schleimen Sie sich nicht ein, und Sie bekommen trotzdem einen Weihnachtsbonus von mir.«
»Bei allem Respekt, Sie sind einfach ein bisschen anders als der Rest unserer Bewohner, Ms Watkins.«
»Soll das heißen, dass Sie mich ab jetzt Georgie nennen?«, frage ich hoffnungsvoll.
Sein Lächeln wird breiter. »Ich wünsche Ihnen einen guten Morgen, Ms Watkins.«
Ich seufze. »Das dachte ich mir schon.« Ich schiebe ihm die Schachtel mit den Donuts über den Tresen. »Geben Sie die den anderen, wenn sie nachher kommen. Und vergessen Sie nicht, Marta einen mitzubringen.«
»Mache ich, und vielen Dank.«
Ich nehme meine rote Abendtasche vom Tresen und gehe rückwärts zum Aufzug, ohne auch nur ein einziges Mal mit meinen ultrahohen Jimmy Choos ins Wanken zu geraten. »Schönes ›Wochenende‹«, sage ich zu Ramon. Heute ist zwar erst Dienstag, aber ich weiß, dass er Mittwoch und Donnerstag frei hat.
Als ich in den Aufzug trete, leuchtet die Taste für den 86ten Stock bereits auf, dank Ramon und der ausgefallenen Technik des Gebäudes. Ich seufze selig und beginne mich darauf zu freuen, gleich ins Bett zu kriechen und ein paar Stunden zu schlafen, bevor ich um vier bei meinem Friseur sein muss.
Und falls mir ganz kurz der deprimierende Gedanke kommt, dass der aufregendste Moment dieses Tages bereits hinter mir liegt?
Dann schiebe ich ihn weg.