Zusammenfassung: Wie erklärt man »China«? Zwischen modernen Konzepten und alter Geschichte

In den vorausgegangenen Kapiteln habe ich meine Überlegungen zu »Innen« und »Außen« im historischen China dargelegt. Dabei handelt es sich um nach der Publikation von Was ist China im Jahre 2014 neu gewonnene Erkenntnisse zu »China« und seiner »Peripherie«.

Es soll an dieser Stelle noch einmal betont werden, dass wir in der Vergangenheit bei der Betrachtung von Chinas »Innen« und »Außen« instinktiv immer das moderne China als Referenzrahmen herangezogen haben, um die Geschichte des traditionellen Reiches zu beschreiben. Im modernen System der heutigen internationalen Staatengemeinschaft braucht ein Staat ein deutlich abgegrenztes Territorium. Er verfügt über Grenzen, es gibt einen Zoll und Pässe zur Festlegung der Staatsangehörigkeit. Im Warenverkehr gibt es Binnenhandel und Außenhandel, so dass das »Innen« und »Außen« moderner Staaten relativ klar zu bestimmen ist. Um ein »Staat« im modernen internationalen System zu sein, ist es nicht nur notwendig, über ein deutlich definiertes Staatsgebiet, eine Bevölkerung und eine Regierung zu verfügen, sondern auch international als Staat anerkannt zu sein. Um es mit Anthony Giddens zu sagen, »kann ein Staat nur dann ein souveräner Staat werden, wenn er sich innerhalb eines Systems souveräner Staaten befindet und seine Souveränität von den anderen Staaten anerkannt wird«.268 Wie aber sah dies bei traditionellen Imperien aus? »Unter dem Himmel ist alles Land dem König und alle Menschen sind seine Untertanen« heißt es. Demnach kannte das Imperium kein »Innen« und »Außen«, sondern nur »nah« oder »fern« oder die Vertrautheit der »Han« und die Fremdheit der »Hu« oder »Yi«. Um das grenzenlose Imperium zu beschreiben, wurden in der chinesischen Geschichte häufig Formulierungen wie »Tianxia«, »innerhalb der Meere« (hainei 海内) oder »sechs Richtungen« (liu he 六合) usw. verwendet. In der idealistischen Welt einiger Konfuzianer wirkte dieses Reich wie eines, in dem nah und fern identisch waren, eine egalitäre Welt ohne Grenzen und ohne Unterschiede. Unermüdlich wiederholten sich Aussagen wie »der Kaiser wirkt und regiert, ohne zwischen Innen und Außen zu unterscheiden«. Aber in der Realität war das Imperium, unabhängig von seinem politischen Verständnis oder seiner Gesellschaftsordnung, doch ein Gebilde mit einem Zentrum und nach außen strebenden konzentrischen Kreisen mit klaren und strengen Hierarchien. Einerlei ob in den frühen Zeiten, als man sich das »Tianxia« mit einem Königssitz in der Hauptstadt und den »fünf (oder neun) Zonen der Unterwerfung« vorstellte, oder unter dem späteren System der Tributbeziehungen und Titelvergaben mit seinen Banketten, Tributmissionen und Belohnungen, existierten immer hierarchische Abstufungen. Obwohl gesagt wird, dass das alte chinesische Ritualsystem, wie es in den Außenbeziehungen praktiziert wurde, ein einseitiges »Wunschdenken« bezüglich der eigenen kulturellen Überlegenheit repräsentierte, konnte es doch in einem Reich, das drei, sechs, neun und mehr Ränge unterschied, keine ebenbürtige Behandlung der äußeren Welt geben.269

Auch wenn das moderne China etwas völlig anderes als das alte China ist, ist die moderne Welt natürlich aus einer Veränderung der alten Welt hervorgegangen. Im modernen China hat sich ein Bewusstsein vom Zentrum (Zhongguo 中国 = Land (in) der Mitte) und vom »Mandat des Himmels« gehalten. Das historische Gedächtnis des Tributsystems und der Titelvergaben zeigt manchmal noch seine Fratze. Natürlich müssen wir anerkennen, dass traditionelle Imperien und moderne Staaten, was Zwischenstaatlichkeit, Volksgruppen, Territorium und Identität betrifft, völlig verschieden sind. Wir dürfen uns das historische Reich nicht nach Maßstäben und Begriffen des modernen Staates (»Hoheitsgebiet« lingtu 领土 oder »Einheit« tongyi 统一) vorstellen. Ebenso wenig können wir das alte Reich mit seiner »Großen Einheit« (da yitong 大一统) heranziehen, um den modernen Staat zu interpretieren oder zu rechtfertigen.270 Von der traditionellen »Oberhoheit« zur modernen »Souveränität«,271 von der traditionellen »Grenzregion« zur modernen »Grenzlinie«, von den traditionellen »vier Barbaren« zu den modernen »Staatsbürgern« hat ein grundsätzlicher Wandel stattgefunden, der auch das »Innen« und »Außen« betrifft. Heute versuchen manche, die 56 Ethnien (auch: »56 Blumen« oder »56 Brüder einer Familie«) als einen Zustand der Pluralität, als »Vielfalt in Einheit« zu bezeichnen und damit die Geschichte des modernen China zu rechtfertigen.272 Weil das moderne China eine »weltweit einzige Gesellschaft ist, die innerhalb der Sphäre souveräner Staaten und Nationen die Größe, die Bevölkerung und die politische Kultur des ehemaligen Kaiserreichs des 19. Jahrhunderts beibehalten hat«, gibt es andere, die versuchen, eine spezielle Theorie der »systemübergreifenden Gesellschaft« vorzulegen, um seine Rationalität und seine Legitimation zu begründen.273 Darüber kann man sicherlich diskutieren. Wenn man allerdings weiterhin versucht, moderne innere und äußere Angelegenheiten aus dem traditionellen imperialen Bewusstsein heraus zu regeln und zur Rechtfertigung der Situation der modernen Staaten die Geschichte der antiken Reiche im Kontext eines modernen Staates interpretiert, dann läuft man Gefahr, die Dinge verzerrt oder nur ausschnittweise zu sehen. Viele ethnische, religiöse und territoriale Konflikte der modernen Welt sind auf eine derartige irrationale Beibehaltung alter Vorstellungen und Sichtweisen und eine Rückschreibung der Geschichte aus der Gegenwart zurückzuführen.274 Beispiele aus der chinesischen Peripherie mögen dies verdeutlichen: In vietnamesischen Geschichtswerken wird die vietnamesische Geschichte immer auf das »Zeitalter der hundert Yue« (Bai Yue 百越, Zustand vor der Eroberung durch die Qin-Dynastie, AdÜ) zurückgeführt. Das geht so weit, dass behauptet wird, alles südlich des Jangtse-Flusses sei das Land des Yue-Volkes und sein Territorium reiche »bis zum Westen von Shu, im Norden bis zum Dongting-See und im Süden bis zum Königreich Champa« (zum Beispiel Đào Duy Anh, Geschichte des vietnamesischen Territoriums); und in Korea meint man, dass das Staatsgebiet den nördlichen Teil der heutigen chinesischen Provinz Hebei, das westliche Shanxi und das »Beiping-Gebiet« umfasse, weil Buyeo (auch Puyŏ oder Fuyu), Balhae (chines. Bohai) und Goguryeo allesamt alte koreanische Staaten waren. Weil das Königreich Baekje mit den Jurchen verwandt sei, habe man sogar über Yuezhou südlich des Jangtse-Flusses geherrscht.275 Wenn man sich nun in der Mongolei die Größe des Reiches immer wie zur Zeit Dschingis Khans vorstellen würde und dieses Territorium, nicht nur die Innere Mongolei, sondern ganz Eurasien, als das Hoheitsgebiet des historischen Mongolenreichs betrachtete – gäbe das nicht endlose Konflikte bzw. könnte es dann noch ein Leben in Frieden geben?

Ohne Zweifel leben wir alle im Hier und Heute und können nur aus der Gegenwart auf die Geschichte schauen. Wenn jedoch moderne Konzepte auf historische Fakten treffen, sollten wir uns bewusst sein, dass alle modernen Konzepte in der Geschichte ihre Schärfe verlieren oder zu Widersprüchen führen. Chinas »Innen« oder »Außen« ist beides nicht so klar und eindeutig. Als traditionelles Imperium waren weder »China« noch sein Territorium, seine Völker, seine Religion(en) noch seine Gesellschaftsordnung so einheitlich oder klar zu erfassen. Hier die Schablone eines modernen Staats anzulegen oder die Situation mittels einer Rückprojektion der modernen internationalen Ordnung verstehen zu wollen, kann einfach nicht funktionieren. Kürzlich habe ich das Buch Konzepte der Weltgeschichte des japanischen Wissenschaftlers Shōsuke Murai 村井章介 gelesen. In seinem neusten Werk weist dieser renommierte japanische Gelehrte darauf hin, dass die Bedeutung der »Grenzgeschichte«, also die Geschichte von »Territorium und Staatsgebiet« für Japan folgendermaßen zu erklären ist: Erstens war das Territorium des japanischen Staates nicht so statisch, wie man annehmen könnte. Obwohl Japan nicht die gleichen dramatischen territorialen Veränderungen wie Eurasien erfahren hat, war es doch auch Veränderungen unterworfen (als Beispiel nennt er u. a. Ezo und Ryūkyū); zweitens sind die Beziehungen zwischen den Staatsgrenzen und anderen Grenzen sehr komplex (als Beispiel nennt er u.a. Tōgoku (chines. dongguo 东国), Chinzei (chines. Zhenxi 镇西) und die Vasallenstaaten); drittens sind die Grenzgeschichte und die Geschichte des Territoriums nicht nur auf diese beiden Aspekte beschränkt, sondern zeigen sich auch in anderen Teilgeschichten dieser räumlichen Veränderungen wie der Kulturgeschichte, der Geschichte der Ethnien und so weiter.276 Dies ist ein sehr interessanter Gedanke, zumal das Verständnis von »Ferne« und »Nähe« in Bezug auf das Territorium der traditionellen Dynastien und das »Innen« und »Außen« des »Hoheitsgebiets« moderner Staaten wirklich sehr unterschiedlich ist. So haben wir bei der Erforschung der Geschichte der »Beziehungen zwischen Innen und Außen« ein neues Verständnis dafür erhalten, was »China« ist. Wenn wir dieses »China« im langen historischen Prozess betrachten, stellen wir Folgendes fest:

Erstens hat sich »China« im Laufe der Geschichte herausgebildet. Wenn wir anerkennen, dass das moderne China ein Staat der »Vielfalt in Einheit« ist, dann gilt dies allerdings nur für die Verhältnisse im modernen China. Denn das historische China war zwar vielfältig, aber nicht unbedingt eine »Einheit«. Diese Einheit entsteht erst in einem historischen Prozess und kann durch heutige und künftige Anstrengungen vielleicht erreicht werden. In der Vergangenheit war das Territorium dieses »China« permanent in Bewegung begriffen und Veränderungen unterworfen. Daher sollten Historiker die Geschichte nicht mittels des Territoriums und der ethnischen Gruppen des modernen »China« (Qing-Dynastie, Republik, Volksrepublik China) rückwärts aufrollen. Sie dürfen nicht die historischen Ereignisse, die auf dem Gebiet des modernen China stattgefunden haben, samt und sonders zu chinesischer Geschichte werden lassen. Vielmehr müssen sie vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Umstände die Frage beantworten, wie man denn eigentlich in der Geschichte »zu einem Teil Chinas wurde«. So sind die Kriege zwischen den Han und den Xiongnu während der Han-Zeit, zwischen den Tang-Herrschern und den Turkvölkern, den Song und den Kitan, den Jurchen, den westlichen Xia und dem Königreich Dali als internationale Geschichte zu betrachten, denn zu ihrer Zeit waren dies keine »Bürgerkriege«, sondern »internationale Kriege«.

Zweitens bedeutet dies keineswegs, dass es kein »China« gab. Das politisch-kulturelle Kernland der Han-Chinesen, das sich seit der Qin- und Han-Dynastie herausgebildet hatte, wies eine relativ stabile Kontinuität seiner Gesellschaftsordnung, der Sprache, der Kultur, der Lebensweise und der religiösen Überzeugungen auf. Die Menschen dieses politisch-kulturellen Raums, den man als »China« bezeichnen kann, identifizierten sich damit. Dieses Bewusstsein von »China« sowie eine Unterscheidung in der Vorstellungswelt zwischen »Chinesen« und »Barbaren« bildete sich von der Qin- und Han-Dynastie bis zur Tang- und Song-Dynastie heraus. Daher kann »China« nicht schlechthin als »konstruiert« bezeichnet werden. Seit der Qin- und der Han-Dynastie konnte das Reich einer Dynastie einerseits groß und unendlich sein, um in seiner Blütezeit ein riesiges Territorium, viele ethnische Gruppen und unterschiedliche Kulturen zu umfassen; andererseits aber auch so klein, dass es innerhalb des politisch-kulturellen Kerngebiets relativ homogen war.

Drittens muss man natürlich anerkennen, dass dieses relativ homogene Kerngebiet »China« auch aus einer Durchmischung verschiedenster Völker entstanden ist. Diesen Punkt habe ich mit »Überlagerung und Verfestigung« illustriert.277 Ob es sich um die Xiongnu oder die Baiyue in der Han-Dynastie, um die nördlichen Xianbei und Qiang oder die südlichen Barbarenstämme (Dong, Xi, Pu, Man) im chinesischen Mittelalter, die Turkvölker, die Shatuo, die Uiguren und die Tubo/Tibeter in der Sui- und Tang-Dynastie oder die verschiedenen ethnischen Gruppen in der mongolischen Yuan- und der mandschurischen Qing-Dynastie handelte, führten Kriege, Handel und Migration – zusammen mit staatlich geförderten Assimilierungsbemühungen und Aktivitäten der Bildung und Erziehung durch Beamte und Adel – zu einer kulturellen und ethnischen Vermischung und Integration. Wir brauchen den Begriff »Sinisierung« nicht übermäßig zu tabuisieren, ebenso wenig wie die Tatsache, dass China (insbesondere das Qing-Reich) auch einem »Imperium« glich, das die »koloniale Sache« vorantrieb. Es stimmt, dass China einst diese Art von »Zivilisierung«, die auf der han-chinesischen Kultur beruhte, forciert hat, in der Neuzeit allerdings wurde diese han-chinesische »Zivilisierung« durch die »Zivilisierung« aus der westlichen Welt ersetzt.

Viertens wurde das heutige China (also die »chinesische Nation«) erst in den auf die Song-Zeit folgenden Jahrhunderten, in der mongolischen Yuan-Dynastie, der Ming-Dynastie und ganz besonders während der Mandschu-Qing-Herrschaft mit ihren komplexen Grenzverschiebungen geschaffen, und zwar aufgrund der Herausbildung eines Bewusstseins von China mit einer strengen Trennung von »Innen« und »Außen« und dem Konzept von den »Chinesen« und den »Anderen« während der Song-Dynastie. Darauf folgten dann ausgerechnet zwei Nicht-Han-Dynastien mit ihrer riesigen Expansion des Territoriums. Der Übergang von der Neuzeit (jindai 近代; 1840–1949 in der offiziellen Geschichtsschreibung der VR China, AdÜ) zur modernen Staatlichkeit war von zwei Paradigmen geprägt, der Transformation »vom Reich zum Nationalstaat« und der »Eingliederung der vier Randregionen in die chinesische Nation«. Aus diesem Grund ist die Situation des heutigen »China«, das ein moderner Staat mit Überbleibseln traditioneller kaiserlich-imperialer Vorstellungen ist, derart komplex.

Fünftens trifft das heutige China, das gleichermaßen die Komplexitäten eines modernen Staates und eines traditionellen Imperiums in sich trägt, in der modernen internationalen Ordnung, die auf den neuzeitlichen Nationalstaaten basiert, sowohl »innen« als auch »außen« auf Probleme. In der modernen Ära unabhängiger, souveräner und gleichberechtigter Diplomatie durch Verträge funktioniert das traditionelle Tributsystem der Außenbeziehungen nicht mehr. In einer Ära der Anerkennung des nationalen Selbstbestimmungsrechts werden die internen Anbindungs- und Autonomiestrategien immer wieder herausgefordert. Daher stellt sich die große und heikle Frage, wie sich »China« an diese reale Welt anpassen (oder verändern) sollte.

Shanghai, 12. März 2016 (Rohmanuskript)

Shanghai, 21. April 2016 (Korrekturen)

Chicago, 30. August 2016 (letzte Korrekturen)