Richard III. und Macbeth sind Verbrecher, die an die Macht gelangen, indem sie die rechtmäßigen Herrscher ermorden, die ihnen im Weg stehen. Shakespeare war aber auch an einem noch bedrohlicheren Problem interessiert, wenn nämlich legitime Herrscher aus geistiger und emotionaler Schwäche tyrannisches Verhalten zeigen. Die Schrecken, die sie über ihre Untertanen und am Ende über sich selbst bringen, sind Folgen eines psychischen Verfalls. Sie mögen kluge Ratgeber und Freunde haben, mit gesundem Instinkt zur Selbsterhaltung und Verantwortungsgefühl, und doch ist es für diese Menschen äußerst schwer, sich der aus Wahnsinn geborenen Tyrannei entgegenzustemmen. Zum einen, weil sie nicht damit rechnen, aber auch, weil sie aus langjähriger Loyalität gewohnt sind zu gehorchen.
Im England von König Lear handelt der alternde König zwar mit dem zügellosen Mutwillen eines tyrannischen Kinds, aber zunächst wagt niemand zu widersprechen. Nach der Entscheidung, sich zur Ruhe zu setzen – »Sorgen und Müh von Unsern Jahrn zu schütteln,/Sie jüngren Schultern aufzulasten« (König Lear, I, 1, 39-40) –, versammelt er den Hofstaat und verkündet seinen Willen, also seine unumstößliche Entscheidung, das Königreich in drei Teile zu teilen und sie seinen Töchtern zu übergeben, je nach dem Maß ihrer Fähigkeit, ihn zu umschmeicheln:
Sagt, meine Töchter
(Da Wir uns jetzt entkleiden wolln von Macht,
Von Landbesitz und Sorge für den Staat),
Von welcher solln Wir sagen, sie liebt Uns
Am meisten? Auf daß Unsre reichste Großmut
Dort trifft, wo zur Natur Verdienst ein Recht hat.
(I, 1, 48-53)
Die Idee ist wahnsinnig, doch niemand greift ein.
Möglicherweise schweigen die Zeugen dieses grotesken Wettstreits, weil sie ihn für ein rein formales Ritual halten, das allein der Eitelkeit des Autokraten, der auf seinen Thron verzichtet, schmeicheln soll. Schließlich hat einer der höchsten Adligen, der Graf von Gloucester, gleich zu Beginn des Dramas erklärt, er habe schon eine Landkarte mit dem sorgsam aufgeteilten Königreich gesehen. Und zu diesem Zeitpunkt von Lears langer Herrschaft ist vielleicht jeder an den unbändigen Willen des Königs gewöhnt, sein eigenes Loblied singen zu hören. Während sie innerlich die Augen verdrehen, sitzen sie um den Tisch und leisten den geforderten »Lippendienst« (Macbeth, V, 3, 27), sagen ihm, wie gesegnet sie seien, in seinem Schatten zu stehen, wie sehr geblendet von seinen Tugenden, und dass sie ihn höher schätzen als »Augenlicht, Freiraum und Freiheit« (I, 1, 56).
Als aber Lears jüngste Tochter Cordelia, sein Liebling, sich weigert, das hässliche Spiel mitzuspielen, wird alles plötzlich todernst. Von Cordelias prinzipientreuer Weigerung erzürnt – »ich liebe Eure Hoheit/Nach meiner Schuldigkeit; nicht mehr, nicht minder« (I, 1, 92-93) –, enterbt und verflucht Lear sie. Daraufhin regt sich von einer einzigen Person, dem Grafen von Kent, offener Widerstand. Der loyale Kent beginnt mit der gebotenen Höflichkeit zu sprechen, aber Lear bringt ihn abrupt zum Schweigen. So lässt der Graf alle Zeremonie beiseite und spricht seine Klage geradeheraus:
Alter Mann, was tust du?
Meinst du, daß Pflicht sich scheut zu reden, wenn
Macht kniet vor Schmeichelei? Gradheit ist Ehrenpflicht,
Wenn Majestät zum Narrn wird. Bleib im Herrscheramt;
Und, mit reiflichster Überlegung, hemm
Die ekelhafte Hast.
(I, 2, 146-151)
Es gibt noch andere Erwachsene am Hof. Die älteren Töchter des Königs, Goneril und Regan, und ihre Ehemänner, die Herzöge von Albany und Cornwall, beobachten die Szene. Doch keiner von ihnen oder sonst irgendjemand äußert auch nur leisen Protest. Allein Kent wagt auszusprechen, was alle sehen, dass »Lear verrückt ist« (I, 1, 146). Für seine Offenheit wird der, der die Wahrheit ausspricht, bei Todesstrafe auf ewig aus dem Reich verbannt. Und noch immer ergreift niemand das Wort.
Lears Hof steht vor einem ernsten, vielleicht unlösbaren Problem. In der fernen Vergangenheit des Stücks, etwa im achten Jahrhundert vor Christus, scheint England keinerlei Institutionen oder Ämter wie Parlament, Kronrat, hohe Beamte oder Hohepriester zu besitzen, die die Königsmacht beschränken könnten. Mag der von seiner Familie, den loyalen Vasallen und seinen Dienern umgebene König auch um Rat fragen und ihn sogar empfangen, die Entscheidungsgewalt liegt allein bei ihm. Äußert er seine Wünsche, verlangt er Gehorsam. Das ganze System setzt jedoch voraus, dass er bei Verstand ist.
Selbst in Systemen, in denen zahlreiche mäßigende Institutionen verankert sind, hat der höchste Entscheidungsträger fast immer enorme Macht. Was aber geschieht, wenn er für sein Amt geistig nicht geeignet ist? Was, wenn er Entscheidungen zu treffen beginnt, die Wohl und Sicherheit des Reichs gefährden? Im Fall von König Lear ist der Herrscher vielleicht nie ein Muster an Stabilität oder emotionaler Reife gewesen. Als Goneril und Regan, die zynischen älteren Töchter des Königs, über die Verfluchung Cordelias sprechen, stellen sie fest, im Alter verstärkten sich nur jene Eigenschaften, die sie schon lange beobachtet hätten: »Das ist bei ihm die Altersschwäche; aber er hat sich eh und je nie recht selbst gekannt«, sagt die eine, und die andere ergänzt: »Selbst in seinen besten und gesündesten Jahren war er zu hitzköpfig« (I, 1, 293-295).
Die Enterbung ihrer Schwester Cordelia stellt für Goneril und Regan keine Bedrohung dar. Im Gegenteil, da sie ihren Anteil am Königreich erhalten, liegt sie in ihrem Interesse. So unternehmen sie nichts, um den tyrannischen Zorn des Vaters zu mildern, obgleich ihnen klar ist, dass er sich jederzeit auch gegen sie stellen kann. Es sind die »jahrelang eingewurzelte[n] Gewohnheiten« seines Geistes wie auch die Wirkung des Alters, mit denen sie zurechtkommen müssen: »Dann müssen wir von seinem Alter nicht nur die Unzulänglichkeiten jahrelang eingewurzelter Gewohnheiten gewärtigen, sondern obendrein noch diesen ungebärdigen Eigensinn, den gebrechliches und cholerisches Alter so mit sich bringt« (I, 1, 295-298). Was sie besonders beunruhigt, sind seine »unberechenbare[n] Ausbrüche« (I, 1, 299) wie jener bei der Verbannung Kents. Es ist extrem gefährlich, wenn ein Staat von einer Person regiert wird, die rein impulsiv handelt.
Goneril und Regan sind höchst unsympathische Figuren, die nur an sich selbst denken. Ihnen ist aber klar, dass sie vor einem ernsten Problem stehen, und so ergreifen sie rasch Maßnahmen, um wenigstens die eigenen Interessen zu schützen, wenn schon nicht die des Königreichs. Obwohl ihr Vater beschlossen hat, die eigentliche Regierung ihnen und ihren Ehemännern zu übertragen, hat er eine Armee von 100 bewaffneten Dienern behalten. Seine Töchter entziehen diese sofort seiner Kontrolle, damit er keine übereilten Schritte unternimmt. Zunächst reduzieren sie die Zahl auf 50, dann auf 25, und dann weiter: »Was braucht’s denn fünfundzwanzig, zehn, bloß fünf«, fragt Goneril, und Regan fährt fort: »Was braucht’s nur einen?« (II, 4, 258-260). Das ist hässlich, und es wird noch hässlicher. Der Entzug der Verfügungsgewalt folgt der Erkenntnis, dass ein zügelloser Narzisst, der das Befehlen gewohnt ist, keine noch so kleine Armee kontrollieren sollte.
Als Lear überhastet und selbstzerstörerisch zu handeln begann, waren Cordelia und Kent die Einzigen, die sein tyrannisches Verhalten anprangerten. Beide taten es aus Loyalität zu dem Menschen, den ihre Worte am meisten erzürnten, den sie liebend schützen wollten. Mit ihrer Verbannung und Lears Abdankung kann nichts mehr das Land vor dem Zerfall schützen. Der Zerfall begann mit der egoistischen Laune des Königs, aber nicht er – dem die Macht entzogen ist und der dem Wahnsinn verfällt – ist es, der die Tyrannei errichtet. Es sind vielmehr seine böswilligen älteren Töchter, die keinerlei Respekt für das Gesetz und die Grundregeln menschlichen Anstands zeigen.
Kents Loyalität zu Lear führt ihn dazu, in Verkleidung und unter Lebensgefahr als Diener seines gefallenen Herrn zurückzukehren. Doch es ist zu spät, um die Katastrophe abzuwenden, die der König sich selbst bereitet hat. Kent ist mundtot gemacht, Cordelia verbannt. Der einzige Mensch, der noch offen sagen kann, was für alle sichtbar wurde, ist der Narr, ein satirischer Unterhalter – vergleichbar mit einem Late-Night-Comedian –, dem die sozialen Konventionen das zu äußern erlauben, was sonst unterdrückt oder bestraft würde. »Ich bin mehr, als du jetzt bist; ich bin ein Narr, du bist nichts« (I, 4, 187-188), sagt er zu Lear. Unter der neuen Herrschaft von Lears Töchtern ist sogar diese begrenzte Form der freien Rede verboten. Goneril macht ihrem Vater klar, dass sie die Frechheit seines »Alles-darf-er-Narr[en]« (I, 4, 194) nicht länger tolerieren wird, und auch Regan bleibt stur. Der gemeinsam mit dem verrückten König in den Sturm vertriebene, frierende und elende Narr verschwindet in der Mitte des Stücks für immer.
Bei Lear gibt es anders als bei Richard III. oder Coriolan keinen Einblick in seine Kindheit, zu den möglichen Anfängen seiner Persönlichkeitsstörung. Wir sehen nur einen Mann, der schon sehr lange gewohnt war, in allem seinen Willen zu bekommen, und der keinen Widerspruch erträgt.
Inmitten seines Wahnsinns, als er mit einem Blinden und einem Bettler in einer Hütte sitzt, ist sein Größenwahn noch immer da: »Wenn ich so stier, schau, bebt der Untertan« (IV, 6, 107). Doch bei aller Umnachtung blitzt immer wieder die bittere Erkenntnis auf: »Die haben mich umschwänzelt wie die Hundchen.« Jeder habe seine Weisheit gepriesen, erinnert er sich, als er in Wahrheit noch ein grüner Junge war. Hier kommen wir seinem Narzissmus am nächsten: »›Ja, ja‹ und ›nein, nein‹ zu sagen zu allem, was ich sagte! Deine Rede sei ja, ja, und nein, nein war auch keine gute Theologie« (IV, 6, 96-101).
Nichts an einer solchen Erziehung konnte Lear darauf vorbereiten, den wahren Zustand seiner Familie, seines Reiches oder auch seines eigenen Körpers zu erkennen. Er ist ein Vater, der seine Kinder zerstört; ein Herrscher, der nicht zwischen aufrechten, ehrlichen Untertanen und korrupten Schuften unterscheiden kann; ein König, der die Bedürfnisse seines Volkes nicht erkennen, geschweige denn befriedigen kann.
Im ersten Teil des Stücks, als Lear noch auf dem Thron sitzt, sind diese Menschen völlig unsichtbar. Es ist, als habe der König ihre Existenz niemals wahrgenommen. Beim Blick in den Spiegel hat er stets eine überlebensgroße Person erblickt, »jeder Zoll ein König« (IV, 6, 106).
Daher rührt sein grausames Erwachen, als er frierend und von Fieber geschüttelt endlich versteht, dass er von Schmeichlern umgeben war, die ihn belogen haben:
Als der Regen kam, daß er mich naß macht, einst, und der Wind kam, daß ich schnattre, als der Donner nicht wollt schweigen auf mein Bitten, da hab ich sie ertappt, da hab ich sie geschmeckt. Geh mir doch weg, bei denen heißt’s doch nicht ein Mann, ein Wort: die sagten, ich wär doch ihr ein und alles; ’s war gelogen, ich bin nicht fieberfest.
(IV, 6, 100-104)
»Die sagten, ich wär doch ihr ein und alles.« Für einen so extremen Solipsisten ist es sogar eine Art moralischer Triumph, zu erkennen, dass er letztlich denselben körperlichen Gebrechen ausgeliefert ist wie jeder andere.
Shakespeares Stück betrachtet recht nüchtern den bitteren Preis für diese recht bescheidene Selbsterkenntnis. Lear beharrt darauf, ein Mensch zu sein, »an dem gesündigt mehr wurd, als er sündigt« (III, 2, 60), aber er ist nicht ganz unschuldig daran, dass seine beiden älteren Töchter Unmenschen sind, die ihn umbringen wollen. Er ist gewiss nicht unschuldig am furchtbaren Schicksal seiner jüngsten Tochter, deren moralische Integrität er verschmäht und deren Liebe er nicht verstanden hat. Offensichtlich hat er auch nicht begriffen, zwischen der Grundanständigkeit von Gonerils Ehemann Albany und dem Sadismus von Regans Ehemann Cornwall zu unterscheiden, und er hat sein Königreich geteilt, ohne zu ermessen, dass dies sehr wahrscheinlich Krieg zwischen beiden herrschenden Parteien bedeuten würde.
Erst als Lear in den Sturm hinauswandert, sieht er das Leid der Heimatlosen in dem Land, das er viele Jahrzehnte lang regiert hat. Während der Regen auf ihn niederprasselt, stellt er eine gewichtige Frage:
Ihr Armen, nackt und elend, wo ihr auch seid,
Die ihr im Prasseln steht gnadlosen Sturms,
Wie wollt hauslosen Haupts und leeren Leibs
In blankbloß-löchriger Zerlumptheit ihr euch wehrn
Vor Wettern, wild wie diesem?
(III, 4, 28-32)
Doch noch während er die Frage stellt, weiß er, dass es zu spät für ihn ist, irgendetwas gegen ihr Leiden zu unternehmen: »Oh! Daran hab/Ich nie genug gedacht« (III, 4, 32-33). Und was er jetzt denkt – dass die Reichen sich dem aussetzen sollen, was die Elenden spüren, um etwas von ihrem überschüssigen Reichtum mit ihnen zu teilen –, ist wohl kaum eine neue ökonomische Vision für das Land, das er regierte.
Die monströse Selbstbezogenheit, die Lears fatale Entscheidungen antrieb, verschwindet nicht, weil er dem Unglück ausgesetzt ist; sie ist das Leitprinzip seiner Wahrnehmung. Als er einem obdachlosen Bettler begegnet, kann er sich nur vorstellen, das Unglück des Mannes habe dieselbe Ursache wie sein eigenes: »Hast alles deinen zwei Töchtern gegeben?/Und bist so weit gekommen?« (III, 4, 48-49). Da er sicher ist, dass die Antwort ja sein muss, verflucht Lear die undankbaren Töchter des armen Mannes. Und als der verkleidete Kent ihn aufklärt – »Er hat keine Töchter, Sir« –, explodiert Lear vor Wut: »Tod, Ketzer! Nichts hätt Natur zertreten können/Zu solchen Trümmern als herzlose Töchter« (III, 4, 67-69). Lear hat alles verloren, und doch denkt er noch immer wie ein Tyrann, der keinen Widerspruch duldet: »Tod, Ketzer!«
Gegen Ende des Stücks, als Lear zumindest teilweise den Verstand wiedererlangt, die Narrheit seines Handelns erkannt und Cordelia um Verzeihung gebeten hat (die nach England zurückgekehrt ist, um für ihn zu kämpfen), fällt es ihm weiterhin schwer, die Egomanie abzustreifen, die das ganze Unglück verursacht hat. Als er mit Cordelia von Truppen unter dem Kommando des skrupellosen Edmund gefangengenommen wird, lehnt Lear entschieden die Forderung seiner Tochter ab, vor ihre Schwestern geführt zu werden: »Nein, nein, nein, nein!« (V, 3, 8). Warum erwägt er nicht einmal den Versuch, um Gnade zu bitten? Weil er im Bann einer schmerzlichen, realitätsfernen und auf ihre Weise extrem egoistischen Wahnvorstellung steht, er werde im Kerker mit seiner jüngsten Tochter endlich das finden, wonach er sich schon immer gesehnt hatte: sein Alter »auf ihre sanfte Pflege baun« (I, 1, 123-124). Nun sagt er zu Cordelia:
Wir zwei allein wolln singen, Vögeln gleich im Käfig;
…
so wolln wir leben
Und beten, singen, alte Sagen uns erzählen
Und lachen über goldne Schmetterlinge
Und arme Schufte hörn vom Hof palavern;
Und reden auch mit ihnen, wer gewinnt
Und wer verliert; wer steigt, wer fällt; und tun so, als
Verstünden wir’s Geheimnis aller Dinge,
Als wärn wir Gottes Späher.
(V, 3, 9-18)
Selbst wenn Cordelia diese Fantasie teilen würde, ist sie zu realistisch, um dies irgendwie für möglich zu halten. Als sie in den Kerker geführt wird, wo sie der fast sichere Tod erwartet, schweigt sie, so sichtbar wie quälend.
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Im Wintermärchen, das Shakespeare gegen Ende seines Lebens schrieb, kehrte er zu der Idee zurück, dass ein legitimer Herrscher, der dem Wahnsinn verfällt, wie ein Tyrann zu handeln beginnt. Im Fall von Leontes, dem König von Sizilien, ist die Ursache kein seniler Zorn, sondern eine plötzliche Paranoia in Gestalt der Überzeugung, seine Ehefrau Hermione, die kurz vor der Entbindung steht, habe die Ehe gebrochen und das Kind sei nicht von ihm. Leontes verdächtigt seinen besten Freund Polixenes, den König von Böhmen, der seit neun Monaten auf Besuch in Sizilien ist. Er äußert diese Überzeugung zuerst gegenüber seinem Ersten Ratgeber Camillo, der verzweifelt versucht, den König von seiner fixen Idee abzubringen: »Herr, bester, lassen Sie/Sich von so krankem Denken heilen, und/Schnellstmöglich, denn es ist gefährlich.« Leontes beharrt auf der Wahrheit seiner Anklage, und als der Ratgeber erneut widerspricht, explodiert er vor Zorn: »O doch – du lügst, du lügst!/Ich sag, du lügst, Camillo, und ich haß dich« (Das Wintermärchen, I, 2, 295-299). Der eifersüchtige König präsentiert keinen Beweis, nur sein striktes Beharren.
Ein Tyrann muss keine Tatsachen oder Beweise liefern. Er erwartet, dass seine Anklage genügt. Wenn er sagt, jemand habe ihn betrogen, ausgelacht oder bespitzelt, muss es so sein. Jeder, der ihm widerspricht, ist ein Lügner oder ein Idiot. Das Letzte, was der Tyrann will, ist eine unabhängige Meinung, auch wenn er sie scheinbar einfordert. Was er in Wahrheit verlangt, ist Loyalität, und mit Loyalität meint er nicht Integrität, Ehre oder Verantwortung. Er meint die prompte, uneingeschränkte Bestätigung seiner Ansichten und die Bereitschaft, seine Befehle ohne Zögern auszuführen. Wenn ein paranoider, narzisstischer Autokrat einen Beamten um seine Loyalität bittet, ist der Staat in höchster Gefahr.
Als Camillo also Leontes’ irren Verdacht nicht teilt, wirft dieser ihm Unehrlichkeit, Feigheit oder Nachlässigkeit vor. Nicht nur, dass er ihn als »groben Klotz, hirnlosen Lumpen,/Ja oder meinungslosen Leisetreter« beschimpft (I, 2, 300-301); der König fordert von seinem Ratgeber absolute Loyalität. Für Leontes gibt es dafür einen perfekten Test. Er befiehlt Camillo, Polixenes zu vergiften.
Nun ist der Ratgeber in großen Schwierigkeiten, und er weiß es. Sein königlicher Herr ist nicht nur wahnsinnig, sondern auch extrem gefährlich. Aufrichtige Versuche, ihn abzulenken, haben seinen Zorn nur umso heftiger entfacht, und Camillo weiß, dass er selbst getötet wird, wenn er sich dem Befehl des Königs widersetzt. Kurz überlegt er, ihn auszuführen: »Die Tat zu tun/Führt zu Beförderung« (I, 2, 355-356). Camillo ist ein anständiger Mensch, kein opportunistischer Schuft; aus diesem Grund wagt er es, dem König zu widersprechen. Doch er will nicht zum Märtyrer werden. Es bleibt ihm nur noch eine einzige Option: Er warnt Polixenes, und bei Nacht fliehen die beiden eilig aus Sizilien mit den Dienern, die der böhmische König bei seinem Staatsbesuch mitgebracht hatte.
Flucht ist eine verzweifelte Option, von der es kein Zurück gibt, und sie ist beileibe nicht jedem möglich. Als Hauptratgeber des Königs besitzt Camillo die Autorität, die Stadttore öffnen zu lassen, und Polixenes’ Schiffe warten bereits im Hafen. Camillo hat vermutlich seinen ganzen Besitz zurückgelassen, dazu den hohen verantwortungsvollen Posten, den er seit Langem innehatte, aber offenbar muss er sich um keine Familie sorgen, und der Herrscher, dem er gerade das Leben gerettet hat, wird ihn schützen und unterstützen. Entscheidend in diesem Augenblick der äußersten Not ist es, »der Dringlichkeit der Zeit zu folgen« (I, 2, 464), wie Camillo sagt, und außer Reichweite des Tyrannen zu gelangen.
Der armen Hermione ist das aber nicht möglich, und bis zu seinem Wutausbruch hat sie auch keine Ahnung, dass ihr Ehemann sie mit immer größerem Misstrauen und Groll betrachtet hat. Während sie auf die bevorstehende Mühsal der Geburt wartet, hat sie sich um ihren jüngsten Sohn Mamillius gekümmert, mit ihrer Freundin Paulina geschwatzt und war dem besten Freund ihres Ehemanns eine anmutige Gastgeberin. Tatsächlich hat Leontes sie gedrängt, Polixenes zur Verlängerung seines ohnehin ausgedehnten Aufenthalts in Sizilien zu bewegen. Und all ihre lieblichen Gesten zu diesem Zweck sind vom paranoiden Leontes als Beweise ihrer Untreue gedeutet worden. Als Camillo versucht, seine Ängste zu zerstreuen, schäumt er:
Ist Flüstern nichts?
Wange an Wange legen? Nasenspiele?
Mit feuchten Lippen küssen? Sich mit Seufzen
Im Lachgalopp hart zügeln? – (untrügliches Zeichen
Wankender Treue!) Sich wie Fohlen rempeln?
In Winkeln schmolln?
(I, 2, 283-288)
Wie viel davon wirklich stimmt, ist weniger wichtig; es ist das, was Leontes zu sehen glaubte, und es reicht ihm, um sie schuldig zu sprechen.
Die Flucht von Polixenes und Camillo bestätigt diese Überzeugung und verstärkt Leontes’ Gefühl, zum Narren gehalten worden zu sein. Es scheint ihm jetzt glasklar, dass Camillo, dem er vertraute, Polixenes’ Mitverschwörer war, »sein Kuppler«. Er kommt zu dem Schluss, es gebe einen »Anschlag … auf mein Leben« (II, 1, 46-47), und befiehlt die Einkerkerung seiner Ehefrau. »Sie ist ’ne Ehebrecherin!« (II; 1, 78), verkündet er dem schockierten Hof. Zunächst versuchen seine Höflinge wie zuvor Camillo, den Vorwurf zu entkräften und einem Verleumder anzulasten: »Sie sind mißbraucht durch einen Intriganten,/Der drum verflucht sei« (II, 1, 141-142). »Hoheit, so rufen Sie die Königin zurück, ich bitt Sie«, sagt einer und ein anderer: »Herr, seien Sie sich klar, was Sie/Da tun, daß nicht Ihr Richterspruch/Gewalttat wird« (II, 1, 126-128).
Leontes ignoriert es und wirft ihnen vor: »Ihr schmeckt so kaltsinnig der Sache nach/Wie mit ’ner Leichnamsnase.« Ihn interessieren ihre Einwände nicht, noch braucht er ihre Zustimmung: »Ach, was debattiern/Wir hier mit Ihnen, statt daß wir dem eignen,/Mächtigen Antrieb folgen?« (II, 1, 151-164). Seinem Antrieb folgen, heißt seinem und nur seinem, des Königs, Impuls zu gehorchen:
Wir brauchen
Von Ihnen keinen weitern Rat. Die Sache selbst,
Der Vor- und Nachteil, alle Planung liegt
Bei Uns allein.
(II, 1, 168-171)
Aus Sicht des Hofes betrifft die »Sache« – der Vorwurf eines Komplotts gegen das Leben des Herrschers, die Flucht des Ersten Ratgebers und die Inhaftierung der Königin – natürlich nicht Leontes allein, aber auf eine für Tyrannen charakteristische Weise hat er den ganzen Staat mit sich selbst gleichgesetzt.
Sein einziges Zugeständnis, und zwar nur um »andere [zu] beruhigen«, liegt darin, Boten »nach Delphi zu Apollons Tempel« zu schicken (II, 1, 183, 191). Die ansonsten schweigenden Höflinge stimmen zu.
So wie in König Lear eine Frau – die jüngste Tochter des Autokraten – den entscheidenden, öffentlichen Schritt vollzieht, dem herrischen Verlangen des Vaters entgegenzutreten, widersetzt sich auch im Wintermärchen eine Frau dem Willen des Tyrannen am stärksten. Die prinzipienfeste Herausforderin ist nicht Leontes’ Ehefrau Hermione, obwohl sie sich mutig und eloquent verteidigt, sondern ihre Freundin Paulina. Sie besucht die Königin im Kerker und schlägt ihr vor, den eben entbundenen Säugling dem König zu zeigen, um ihn wieder zur Raison zu bringen. Als der Wärter sich berechtigte Sorgen macht, das Kind ohne Befehl aus dem Gefängnis zu lassen, beruhigt Paulina ihn wortgewandt:
Herr, kein Grund zur Angst;
Das Kind war eingesperrt im Mutterschoß
Und ist nach Recht und als Naturprozeß
Draus freigeborn befreit, nicht anteilhaft
Am Zorn des Königs, noch mitschuldig am –
So’s ihn denn gäbe – Fehltritt der Königin.
(II, 2, 58-63)
Für einen kurzen, vielsagenden Moment erkennen wir die bürokratische Struktur, die alle Regime kennzeichnet und die besonders zum Tragen kommt, wenn das Handeln des Staatsführers zur Sorge Anlass gibt.
Bei einer Abweichung von üblichen Verfahrensweisen muss eine hochgestellte Person – und als adlige Ehefrau von Leontes’ Ratgeber Antigonus ist Paulina von allerhöchstem Rang – vortreten und die Verantwortung übernehmen. »Fürchten Sie nichts; auf meine Ehre, ich/Werd zwischen Ihnen stehen und der Gefahr«, beruhigt sie den Wärter erneut (II, 2, 65-66).
Rasch erfahren wir, dass es allerdings guten Grund zur Furcht gibt. Der Tyrann kann nicht schlafen: »Nicht tags noch nachts mehr Ruh.« Sein Sohn Mamillius ist nach der Anklage gegen Hermione krank geworden, und neben der Sorge um den Jungen bewegen Leontes ständige Rachegedanken. Polixenes und Camillo sind außer seiner Reichweite, »gefeit« wie er sagt, aber die »Eh’brecherin« ist in seiner Macht: »Sagen, sie wär weg,/Verbrannt im Scheiterhaufen«, würde ihm zumindest zum Teil den Schlaf zurückgeben (II, 3, 1-8).
Es verwundert nicht, dass Leontes’ Höflinge beim Auftritt Paulinas mit dem Säugling ihr den Eintritt verwehren wollen. Statt sich zu fügen, bittet sie um ihre Hilfe: »Barmt ihr um sein Tyrannen-Toben mehr/Als um das Wohl der Fürstin?« (II, 3, 28-29). Auf ihre Erklärung, er habe nicht schlafen können, erwidert sie: »Ich bring ihm seinen Schlaf« und beschuldigt sie, seinen Wahnsinn damit gar noch zu befeuern:
Leute wie ihr
Sind’s, die wie Schatten um ihn schleichen und
Aufseufzen, wenn er sinnlos stöhnt, Leute wie ihr
Die seine Schlaflosigkeit nährn.
(II, 3, 33-36)
Sie verfolgt eine äußerst kühne Strategie – den König aus seinem Wahnsinn zu stoßen, indem sie ihn zwingt, ein Kind zu halten, das er verstockt für das eines andern hält – und scheitert damit. Leontes’ Raserei wird dadurch nur umso mehr angefacht. Er befiehlt, den »Bankert« zu verbrennen, und droht dann Paulina, auch sie verbrennen zu lassen. »Mir ganz gleich«, antwortet sie unerschrocken und spricht einige der herrlichsten Worte der Auflehnung bei Shakespeare:
Der Ketzer ist, wer’s Feuer ansteckt, nicht
Die, die darin brennt.
(II, 3, 114-115)
Tyrannei bedeutet eine Umkehrung der gesamten Struktur von Autorität: Die Legitimität wohnt nicht mehr im Zentrum des Staates, sie liegt bei den Opfern seiner Gewalt.
Paulina hat bereits vom »Tyrannen-Toben« des Königs gesprochen und ihm ins Gesicht gesagt: »Ich bin …/… so redlich,/Wie Sie verrückt sind« (II, 3, 69-71). Doch es zeigt, wie schwer der Vorwurf der Tyrannei wiegt, dass sie sich zurückhält:
Ich nenn Sie nicht Tyrann;
Doch diese Grausamkeit an Ihrer Gattin –
Und nichts als Klagegrund vorstelln zu können
Als Ihren winkelschiefen Wahn – schmeckt sehr
Nach Tyrannei und wird Sie ehrlos machen.
(II, 3, 115-118)
Leontes wiederum lässt diese Klage nicht einfach durchgehen und sagt zu den Höflingen: »Wär ich Tyrann/Wie lang wär wohl ihr Leben? Wär ich einer/Würd sie’s nicht wagen, mich’s zu heißen« (II, 3, 115-123). Vielleicht hatte Paulina die Wirkung ihrer Worte wohl bedacht: Nach seiner Reaktion kann Leontes unmöglich seinen Befehl wiederholen, sie verbrennen zu lassen. So lässt er sie nur aus dem Saal verbannen.
Paulinas Leben wird verschont, aber Leontes’ Wahnsinn und seine tyrannischen Impulse sind ungezügelt. Da er ihren Ehemann Antigonus verdächtigt, Paulina dazu angestiftet zu haben, ihm den Säugling zu bringen, nennt er den Ratgeber einen Verräter. Um zu beweisen, dass er keiner ist, muss Antigonus das Kind töten. Leontes befiehlt ihm:
Heb’s jetzt auf,
Meld mir in dieser Stunde noch Vollzug,
Und gut bezeugt, sonst nehm ich dir dein Leben Und was du sonst noch dein nennst.
(II, 3, 134-137)
Es gibt keinen regulären Prozess, keinen Respekt für zivilisierte Normen, keinen Anstand. In einer Gesellschaft, wo Verdacht und Gewissheit nicht zu unterscheiden sind, beweist man seine Loyalität, indem man die mörderischen Befehle des Tyrannen ausführt.
Doch es herrscht noch ein Rest an Moral in Sizilien. Leontes’ Tyrannei ist die Folge eines plötzlichen, unerklärbaren Absturzes in den Wahnsinn; kurz zuvor war er noch ein respektierter, völlig legitimer Herrscher, keine pöbelnde Witzfigur. Deshalb ist er nicht von Opportunisten umgeben, sondern von anständigen Leuten, die gewohnt sind, ihre Meinung zu äußern, wie Camillo und Paulina schon bewiesen haben.
Und obwohl seine Höflinge schockiert und verängstigt sind – »Lügner allesamt!« nennt Leontes sie –, sind sie auch jetzt noch nicht vollends zum Schweigen gebracht. »Wir haben Ihnen allzeit treu gedient/Und bitten, dies zu achten« (II, 3, 145-148), sagt einer von ihnen, der den König auf Knien bittet, seinen grausamen Befehl, den Säugling zu verbrennen, zurückzunehmen. Widerwillig gibt Leontes nach, befiehlt aber Antigonus, das Kind an einen fernen Ort zu bringen und dort auszusetzen.
In der nun folgenden verwickelten Romanzenhandlung hat dieser geänderte Befehl bedeutsame Folgen. Er führt zum Tod des Antigonus – durch die berühmte Szenenanweisung »Rennt ab, von einem Bären verfolgt« (III, 3, 59) – und schließlich zur wundersamen Wiederbegegnung mit Leontes’ Tochter Perdita nach sechzehn Jahren. Doch obwohl Leontes seinen Befehl, das Kind zu töten, abwandelt, hat sich an seiner Einstellung und seinem Verhalten wenig geändert. Das genau ist die Pointe: Die herkömmlichen Mechanismen der Mäßigung sind nahezu wirkungslos, sobald der Staat in die Hände eines labilen, zügellosen und rachsüchtigen Tyrannen fällt. Vernünftige Ratschläge stoßen auf taube Ohren, Zweifel werden beiseitegeschoben, offener Protest scheint die Sache nur schlimmer zu machen.
Da er entschlossen ist, sich an der Ehefrau zu rächen, von der er sich betrogen glaubt, stellt Leontes Hermione wegen Hochverrats vor Gericht. »Man sprech Uns frei/Vom Vorwurf Tyrannei, da Wir so offen/Nach Recht verfahrn«, erklärt er, als er die Gefangene aufruft (III, 2, 4-6). Das offene Verfahren mag unter dem Aspekt von Public Relations besser sein als das Gift, mit dem er seinen besten Freund umbringen lassen wollte, aber jeder in Shakespeares Welt wusste sehr wohl, dass es nur einen denkbaren Urteilsspruch gab. Der Herrscher kontrollierte die Institutionen, die seinen wildesten Behauptungen den Stempel der Wahrheit aufdrückten. Dies ist ein Schauprozess nach Art Heinrichs VIII. oder, in unserem Zeitalter, wie bei Stalin.
Und doch gibt es einen kleinen, aber wichtigen Unterschied: Im Wintermärchen ist die des Verrats angeklagte Person geistig nicht so gebrochen, dass sie das imaginäre Verbrechen zugibt. Im Gegenteil, mit Würde und Anmut entlarvt sie die »Gerechtigkeit« des Tyrannen:
Da, was ich sagen will, nur das sein kann,
Was dieser Klage widerspricht, und sonst
Kein Zeugenwort hier für mich spricht als das,
Was von mir selbst kommt, wird’s mir nicht viel helfen,
Wenn ich »nicht schuldig« sage.
(III, 2, 21-25)
Dennoch ist sie überzeugt,
Wenn denn göttliche Mächte
Aufs Tun sehn von uns Menschen – und sie sehn drauf –,
Dann trau ich fest, daß Unschuld die Falschklage
Erröten läßt und Tyrannei erzittert
Vor leidender Geduld.
(III, 2, 27-31)
Was wäre, wenn die Tyrannei vor der Geduld erzitterte? Es gibt Formen des Widerstands, deren Macht nicht darin besteht, gegen die Ungerechtigkeit zurückzuschlagen – wozu Hermione ohnehin nicht in der Lage wäre –, sondern zu ertragen und darauf zu warten, dass der Unterdrücker sich persönlich rechtfertigt und vielleicht sogar moralisch erwacht. Der in Selbsttäuschung und selbstgerechter Empörung befangene Leontes kann diese Macht nicht erkennen, geschweige denn vor ihr zittern. Als er weitere Anklagen gegen seine Frau vorbringt, eine absurder als die andere, hört Hermione auf, sie auch nur begreifen zu wollen: »Sie sprechen Worte, die ich nicht verstehe:/Zielscheibe Ihres Alptraums ist mein Leben.« Leontes’ Antwort trifft ungewollt den Kern des Problems: »Ihr Treiben ist mein Alptraum« (III, 2, 79-81). Wenn der Tyrann träumt, es gebe Betrug oder Verrat, dann gibt es Betrug oder Verrat.
Deshalb ist es nahezu aussichtslos, die solipsistischen Fantasien zu durchbrechen. Die Boten kehren von Apollos Tempel mit dem versiegelten Orakel zurück, das beim Öffnen und Verlesen vor Gericht nichts von der Mehrdeutigkeit besitzt, die solchen Botschaften für gewöhnlich zu eigen ist:
»Hermione ist keusch, Polixenes untadelig, Camillo ein treuer Untertan, Leontes ein eifersüchtiger Tyrann, sein unschuldiges Kind rechtlich gezeugt, und der König soll ohne Erben leben, wenn das, was er verloren hat, nicht gefunden wird.«
(III, 2, 131-134)
Doch selbst jetzt obsiegt die fixe Idee des Tyrannen. »Kein Fünkchen Wahrheit im Orakelspruch«, erklärt er starrsinnig und lässt das Gerichtsverfahren fortsetzen (III, 2, 138).
Erst als die Nachricht eintrifft, sein Sohn Mamillius sei aus Angst und Verzweiflung über das Schicksal seiner Mutter gestorben, erleidet Leontes einen Schock, heftig genug, um seinen Wahnsinn zu beenden. Er deutet den Tod seines Sohns als schreckliches Zeichen von Apollos Zorn über seine Ungerechtigkeit und will sofort handeln, um wenigstens einen Teil des Schadens wiedergutzumachen, den er angerichtet hat: »Ich will mich mit Polixenes versöhnen,/Neu meine Frau umwerben, Ehrenmann Camillo/Rückrufen, ihn als treu erklärn« (III, 2, 153-155). Doch so einfach ist es nicht. Hermione ist bei der Nachricht vom Tod ihres Sohns zusammengebrochen, und nun tritt die verzweifelte Paulina hinzu, mit harten Worten. Zuvor hatte sie sich bemüht, ihre scharfe Zunge zu bändigen: »Ich nenn Sie nicht Tyrann«, doch nun lässt sie alle Mäßigung fahren und stellt Leontes zur Rede: »Was für erlesne Foltern hast du für mich, Tyrann?« (III, 2, 173). Tyrannei und Eifersucht haben ihn nicht nur dazu verführt, Camillo zum Mord an Polixenes anzustiften, seine neugeborene Tochter den Krähen vorzuwerfen und seinen Sohn zu opfern. Sie haben nun, als dunkles Meisterstück, auch den Tod seiner Ehefrau nach sich gezogen.
Der Hof ist bestürzt von Paulinas brutaler Offenheit. Doch das Trauma hat den Menschen und den Herrscher Leontes verändert. Er empfängt die Wahrheit und akzeptiert seine Schuld an der Zerstörung. Das Stück zeigt ihn nicht als vom Thron Gestoßener und wie Lear als heimatloser Elender sein früheres Reich durchwandern. Er bleibt König von Sizilien, beginnt sich aber in Reue und Selbstanklage zu üben. Erst nach 16 Jahren – die Zeit selbst tritt als Chor auf und bittet das Publikum, sich vorzustellen, es habe so lange geschlafen – geht die Geschichte weiter. Auch jetzt ist Leontes noch immer in tiefster Reue gefangen. Seine Höflinge drängen ihn, sich endlich zu vergeben, neu zu heiraten und dem Reich einen Thronerben zu schenken. Doch Paulina, praktisch in der Rolle seiner Therapeutin, zwingt ihn unbeirrt zu erkennen, was er getan hat, und unverheiratet zu bleiben:
Auch wenn Sie alle Fraun der Welt sich freiten
Oder von jeder je das Gute nähmen,
Um die vollkommne Frau zu schaffen – die, die
Sie mordeten, bleibt unerreicht.
(V, 1, 13-16)
»Ja. Mordete!/Die, die ich mordete!«, antwortet Leontes, »Ich tat’s, doch schwer/Trifft’s, wenn du mir sagst, daß ich’s tat« (V, 1, 13-18). Er willigt ein, niemals ohne Paulinas Zustimmung zu heiraten.
Schließlich schafft es das Wintermärchen, den König mit seiner verlorenen Tochter und durch einen spektakulären Coup de Théâtre auch mit seiner tot geglaubten Frau zu vereinen. Im gedämpften Raum von Paulinas Galerie wird ihm Hermiones Statue präsentiert. Scheinbar durch ein Wunder wird die Statue lebendig, steigt vom Sockel und umarmt ihren Ehemann und ihre Tochter.
Doch nichts kann die Erinnerung an die Tyrannei gänzlich tilgen, nichts kann die in Isolation und Elend verbrachten sechzehn Jahre zurückbringen, nichts kann die süße Unschuld von Freundschaft, Vertrauen und Liebe wiederherstellen. Als Leontes voller Erstaunen seine Frau erkennt, fallen ihm als Erstes die Zeichen ihres Alterns auf: »Doch sie war,/Paulina, nicht so voller Falten, keineswegs/So alt, wie sie hier scheint« (V, 3, 27-29).
Jenseits der durch Tyrannei vergeudeten Jahre mag es neues Leben geben, aber dieses Leben ist nicht dasselbe wie früher. Der kleine Mamillius, der vor Trauer starb und eben nicht in der Schwindel erregenden Folge glücklicher Wiedervereinigungen magisch zum Leben erweckt wird, ist wohl das schmerzlichste Sinnbild für all das, was durch Tyrannei unwiederbringlich zerstört wurde.
Dennoch erlaubt sich das Wintermärchen mehr als jedes andere Stück Shakespeares den Traum einer zweiten Chance. Diese Erneuerung nach der Katastrophe wird erst möglich durch eine der kühnsten und unwahrscheinlichsten Fantasien des Dramatikers: die bedingungslose, aufrichtige Reue des Tyrannen. Sich diese innere Wandlung vorzustellen, fällt fast so schwer wie die Vorstellung, eine Statue würde zum Leben erweckt.