An der Pforte hatte Vera den Eindruck, dass sie beinahe schon wie ein Stammgast behandelt wurde. Die Wärter grüßten und fragten, ob sie glaube, dass das Wetter bald umschlagen werde. Sie war früh dran, und Mitglieder des Personals strömten noch durch den Warteraum. Vera begrüßte den Geistlichen, der ihren ersten Besuch hier arrangiert hatte. Neben ihm ging die Leiterin der Ausbildungsstelle, die den Abschlussjahrgang in Englisch unterrichtet hatte. Sie unterhielten sich miteinander und lachten, und Vera überlegte, was der Geistliche wohl davon halten würde, wenn er wüsste, dass seine Bitte um den Vortrag einer ranghohen Ermittlerin vor den Männern des FSB zur Entdeckung zweier Leichen geführt hatte. Dann verebbte der Strom des eintreffenden Personals. Vera hatte das Gefühl, diesmal sehr lange warten zu müssen, und wollte gerade nachfragen, was denn los sei, als ein Wärter kam und sie zum Besuchszimmer führte. Brace war bereits dort. Sie waren im selben Raum wie beim letzten Mal, und er saß im Rollstuhl wieder an der Seite des Tisches, die der Tür am nächsten war. Um ihren Platz einzunehmen, musste sie sich an ihm vorbeiquetschen.

«Bestimmt haben Sie die Nachrichten schon gesehen!» Das platzte aus ihr heraus, noch bevor sie sich überhaupt gesetzt hatte. Auf der Herfahrt war sie fest entschlossen gewesen, wütend aufzutreten, und das lange Warten hatte den Groll echt werden lassen und ihren heiligen Zorn angefacht. «Ich hoffe nur, Sie haben dafür eine verdammt gute Erklärung, John Brace.» Damit ließ sie sich auf den Plastikstuhl fallen

«Davon wusste ich nichts», sagte er schließlich. «Ehrlich, Vera, ich wusste es nicht. Ich war genauso schockiert zu erfahren, dass dadrin noch jemand begraben liegt.»

«Das wollen Sie mir doch nicht im Ernst weismachen? Dass Sie nicht gemerkt haben, dass an exakt derselben Stelle, wo Sie Robbie Marshall verstecken wollten, schon eine Leiche liegt? Kommen Sie, Brace, da fällt Ihnen doch was Besseres ein.» Doch ihre Wut war schon wieder dabei zu verrauchen. Etwas an der Art, wie er da saß und so unerwartet alt und krank aussah, ließ sie innehalten und auf seine Antwort warten. Dann aber fiel ihr wieder ein, dass er schon immer ein Betrüger gewesen war, und das Alter würde ihn jetzt wohl auch nicht mehr ändern.

«Ich habe wirklich nichts gesehen. Es war dunkel, und ich habe mich da nicht länger als nötig rumgetrieben.»

«Dann ist es also reiner Zufall, dass Sie und noch so ein Dreckskerl sich dasselbe Versteck für eine Leiche ausgesucht haben?» Sie gestattete es sich, laut zu werden.

«Ich weiß, das klingt verrückt, aber ich habe auch keine Erklärung dafür. Die erste Leiche könnte doch schon Jahre da gelegen haben, als ich mit Robbie auftauchte. Wir wissen beide, wie schwer es ist, den Todeszeitpunkt einer Leiche zu bestimmen, wenn sie schon so lange irgendwo rumliegt.»

Vera sah ihm fest ins Gesicht. «Ihnen ist schon klar, dass Sie immer noch unser Hauptverdächtiger sind, und zwar für beide Morde? Die kleinste forensische Spur, und Sie sind so gut wie verurteilt.»

«Aber natürlich gibt es forensische Spuren von mir. Ich

Vera war sich nicht sicher, ob sie darauf eine Antwort hatte. Frustriert stand sie auf. Sie war in der Hoffnung auf Antworten nach Warkworth gekommen. Und alles, was sie erhalten hatte, waren noch mehr Fragen.

An der Tür blieb sie noch einmal stehen und blickte über die Schulter zu ihm zurück. «Die zweite Leiche könnte nicht vielleicht die von Mary-Frances Lascuola sein?»

Er ließ einen Augenblick verstreichen, bevor er darauf etwas erwiderte. «Woher zur Hölle soll ich das wissen? Wir hatten was miteinander. Ich hielt sie für etwas Besonderes. Sie hat meine Tochter geboren. Aber sie war heroinsüchtig und kam von der Droge nicht los, und damit konnte ich nicht umgehen. Wir haben uns schon Jahre vor Robbie Marshalls Verschwinden aus den Augen verloren. Meiner Meinung nach ist es durchaus möglich, dass sie in einem Rohr in Whitley Bay ihr Ende gefunden hat. Wahrscheinlich sogar. Aber selbst wenn, habe ich damit nichts zu tun.»

Auf dem Parkplatz holte Vera ihr Handy aus dem Handschuhfach und sah nach, ob sie neue Nachrichten bekommen hatte. Eine SMS von Dr. Keating, dem Gerichtsmediziner. «Ich habe jetzt angefangen, die Knochen zu untersuchen. Wenn Sie am Nachmittag in die Leichenhalle kommen, kann ich Ihnen vielleicht schon was sagen. Valerie Malcolm, eine forensische Anthropologin, wird auch dabei sein.» Dann noch eine Voicemail von Brace’ Exfrau. Entschieden und völlig leidenschaftslos. «Ich habe heute Morgen die Nachrichten gesehen, Inspector. Ich muss mit Ihnen reden. Ich bleibe zu Hause, bis Sie kommen.»

 

«Haben Sie neue Informationen für mich?» Vera blickte der Frau in die Augen.

«Informationen? Nein! Warum?»

«Weil Sie mich angerufen und gebeten haben, bei Ihnen vorbeizuschauen. Ich stecke mitten in einer Mordermittlung. Sie waren lang genug mit einem Ermittler verheiratet, um zu wissen, dass ich für Höflichkeitsbesuche keine Zeit habe.» Vera deutete mit einem Kopfnicken auf den blauen Becher, der vor ihr auf dem Tisch stand. «Ich bin ja echt bereit, für eine anständige Tasse Kaffee so einiges zu tun, aber meine Zeit zu verschwenden gehört nicht dazu.»

«Aber Sie haben doch Robbie Marshall gefunden.»

«Dafür liegt uns noch keine Bestätigung vor. Wir haben eine Leiche gefunden.» Vera zögerte. «Zwei Leichen.» Jetzt blickte sie auf. «Haben Sie vielleicht eine Ahnung, wer die zweite Leiche sein könnte?»

«Darüber wollte ich mit Ihnen sprechen.»

«Sie haben eine Ahnung, wer in dem Rohr begraben worden sein könnte?»

«Immerhin sitzt er im Gefängnis, weil er mit dem Tod eines Wildhüters namens Glen Fenwick zu tun hatte.» Das wurde viel zu leicht vergessen, fand Vera. Brace war nicht nur ein korrupter Bulle gewesen, der seine Stellung missbraucht hatte, um sich schamlos zu bereichern; er hatte nebenbei auch noch ein eigenes Geschäft mit der Vermittlung von üblen Schlägertypen an Großgrundbesitzer auf dem Land aufgezogen, und als Folge davon war eine wunderbare Frau nun Witwe.

«Nein! Er wollte doch nur, dass die Kerle Fenwick einschüchtern, sie sollten ihn nicht umbringen. Die sind ausgerastet, waren komplett zugedröhnt mit Alkohol und Drogen. John war am Boden zerstört, als er erfuhr, was sie getan hatten.» Judith hielt kurz inne. «John würde niemals jemanden umbringen. Und Robbie Marshall hätte er erst recht nicht umgebracht, ganz gleich, wie der Anlass oder die Umstände auch gewesen sein mochten. Eines sollten Sie über John wissen: Er ist ein sehr sentimentaler Mensch. Ich weiß, alle glauben, er hätte mich meines Geldes wegen geheiratet, aber das stimmt nicht. Eine Zeitlang haben wir uns wirklich geliebt, bis dann alles schiefging. Und für John bedeutet Freundschaft noch viel mehr als eine Ehe. Er hätte sein Leben für Robbie Marshall gegeben, aber umgebracht hätte er ihn niemals.»

Vera fiel wieder ein, mit welcher Wärme Brace von seiner Tochter gesprochen hatte, und dachte, dass Judith vermutlich sogar recht hatte. Er war wirklich ein äußerst sentimentaler Mensch. «Alles deutet darauf hin, dass einer

Judith überlegte kurz. «Tut mir leid, aber ich habe Ihnen die Wahrheit gesagt, als ich meinte, dass ich Robbie kaum kannte. In der ersten Zeit unserer Ehe habe ich mir wirklich Mühe gegeben, gut mit Johns Freunden auszukommen. Manches, was er mit ihnen unternahm, hat mir sogar Spaß gemacht. Die Wanderungen in den Bergen. Die ganze Bewegung und die frische Luft. Und abends landeten wir dann in irgendwelchen Pubs, meilenweit von der Zivilisation entfernt.»

«Dann haben Sie sicher auch Hector kennengelernt?»

«Großer, kräftiger Kerl? Immer fröhlich und aufgekratzt?»

War Hector fröhlich und aufgekratzt? Vielleicht wenn er so ein hübsches junges Ding wie dich beeindrucken wollte. Ein reiches, hübsches junges Ding. Und ja, er war kräftig damals, bevor der Alkohol ihm den Verstand verfaulen ließ und er vergaß, genug zu essen.

Judith sprach weiter. «Aber der ganze Mist, der noch so dazugehörte. Der Handel mit Vogeleiern. Das Häuten und Ausstopfen toter Tiere. Diese Vorstellung, dass der Rest der Welt nicht verstehen würde, dass sie die wahren Hüter der Natur wären. Das alles kam mir ziemlich lächerlich vor. Das hat mir schon nicht gefallen, bevor mir klarwurde, dass es illegal und gefährlich ist.»

«Dann waren die Freunde also zu dritt: John, Robbie und Hector.» Vera merkte, dass die Frau ihr langsam sympathisch wurde, ja, dass sie sogar anfing, sie zu mögen. «Aber sie nannten sich selbst doch die Viererbande, es muss also noch jemanden gegeben haben. Den Professor. Haben Sie ihn jemals kennengelernt?»

Judith schüttelte den Kopf. «Ich glaube, der kam nicht

«Die drei meinten, er würde runterkommen, nicht hoch?»

«Ich glaube schon, ja.» Judith runzelte die Stirn. «Das ist alles schon so lange her.»

Was bedeuten würde, dass er möglicherweise Schotte ist, aber das hilft uns bei seiner Identifizierung auch nicht gerade weiter. Vera glaubte, dass Judith recht hatte und die Gruppe wirklich lächerlich gewesen war. Erwachsene Männer, die Geschichten à la Enid Blyton spielten, mit Abenteuern in den Bergen, Picknicks und ausgeklügelten Tricks und Kniffen, um nur nicht geschnappt zu werden. Mit diesem merkwürdigen Verständnis von Ehre. Doch ihr groteskes Getue hatte letztlich todernste Konsequenzen gehabt: zwei Leichen, die jemand zwanzig Jahre lang in einem uralten Abwasserrohr dem Verrotten überlassen hatte.

«Die zweite Leiche ist kleiner. Möglicherweise von einer Frau. Können Sie sich nicht doch vorstellen, wer das gewesen sein könnte? Hatte Robbie Marshall eine Freundin?» Denn Vera war der Gedanke gekommen, dass Robbie an jenem Abend ja vielleicht die Arbeit mit dem Vergnügen verbunden hatte.

Einen Augenblick lang herrschte Stille. Judith sah aus, als würde sie sich ernsthaft bemühen, sich zu erinnern. «Jedenfalls hat er nie jemanden mitgebracht, wenn er mit John raus in die Berge gefahren ist. Ich hatte immer den Eindruck, dass ich mich geehrt fühlen sollte, an diesen Ausflügen teilnehmen zu dürfen. Ich glaube, ich war die einzige Frau, die sie je eingeladen hatten. Aber einmal, an

«Und hatte sie auch einen Namen?»

«Nun, natürlich hatte sie einen Namen. Aber ob ich mich an den noch erinnern kann, steht auf einem ganz anderen Blatt.» Da war sie wieder, die alte Reizbarkeit.

Vera wartete einfach ab.

«Sie war ganz schön aufgedonnert», erzählte Judith. «Löwenmähne und riesige Möpse. Nicht unbedingt nuttig, aber der Vorstellung hat sie auch nichts überlassen. Ich war ziemlich überrascht. Ich hatte Robbie immer für den ruhigen Typ gehalten. Nicht schüchtern, aber in Gesellschaft doch eher zurückhaltend. Manchmal sogar eiskalt. Er hat sich zum Beispiel nicht die geringste Mühe gegeben, gut mit mir auszukommen. Jedenfalls stellte ich mich schon mal darauf ein, die Frau so richtig von oben herab zu behandeln, aber dann fand ich sie wirklich nett. Sie brachte uns alle zum Lachen. Ich trank keinen Alkohol, weil ich gerade erst erfahren hatte, dass ich schwanger war. Das war das erste Mal, und alles war unfassbar aufregend und besonders. Bis dahin hatte ich es nur John erzählt. Die anderen haben allerdings für mich mit getrunken.» Sie brach ab, und Vera merkte, dass sie jetzt wieder in dem kleinen Restaurant saß und das Geheimnis ihrer Schwangerschaft auskostete. «Sie hieß Elaine. Den Nachnamen hat sie mir

«Haben John und Robbie sie darüber kennengelernt? Über ihre Arbeit?» Vera fragte sich, ob Elaine wohl Johns geheimnisvoller Informant gewesen sein könnte, die Person, mit der er sich am Abend von Robbies Verschwinden getroffen haben wollte.

«Kann sein», erwiderte Judith. «Aber Elaine hatte nichts mit den Gästen zu tun. Sie war so eine Art persönliche Assistentin des Eigentümers. Und konnte einige herrliche Geschichten über die Dinge erzählen, die in dem Club so abliefen.»

«Elaine also. Und Sie sind sicher, dass Sie sich nicht an den Nachnamen erinnern können?»

«Ziemlich. Wie gesagt, ich glaube, ich habe ihn sowieso nie erfahren. Und das war auch das einzige Mal, dass ich ihr je begegnet bin. John hat sie danach zwar noch ein paarmal erwähnt, immer in Verbindung mit Robbie, aber ich bezweifle, dass die zwei noch zusammen waren, als Robbie verschwand.»

«Haben Sie eine Ahnung, bei welchem Club sie gearbeitet hat?» Langsam glaubte Vera, dass die Fahrt nach Ponteland sich am Ende doch gelohnt haben könnte.

Wieder herrschte ein Weilchen Stille. «Er hieß The Seagull», sagte Judith schließlich. «Den gibt es aber nicht mehr. Der wurde schon vor langer Zeit abgerissen. Damals hatte es da gebrannt. Zwar ist er nicht völlig abgebrannt, aber aufgebaut wurde er auch nicht wieder. Am Ende war er bloß noch ein Schandfleck.»

Vera konnte sich nicht zuletzt deshalb so gut an den Club erinnern, weil Hector sich immer über den Namen

Judith fuhr derweil fort. «Soweit ich weiß, sollen an der Stelle jetzt Luxusapartments errichtet werden. Der Club stand direkt am Meer, der Ausblick wird umwerfend sein.» Dann schwieg sie wieder, erneut schien sie im Geiste in die Vergangenheit zurückgekehrt zu sein, zu den ersten Jahren ihrer Ehe, als sie noch an John Brace geglaubt und alles für möglich gehalten hatte. «Aber damals war es der glanzvollste Club. Ein Stück gehobener als viele andere Treffpunkte im Ort. Minderjährige Säufer oder die Typen, die bloß auf der Suche nach Sex waren, wollten da überhaupt nicht hin. Im Seagull gab es hervorragende Cocktails und ein richtiges Restaurant. Dort gab es Live-Musik – meistens Jazz – und eine Terrasse, von der aus man zusehen konnte, wie die Flut reinkommt.»

«Ja, ich erinnere mich.» Und Vera sah das Gebäude wieder vor sich, das weiße Schimmern des elegant geschwungenen Baus aus den 1930er Jahren mit der blauen Neonmöwe an der Seite. Mehr Kalifornien als Tyneside. Aber drinnen