Juni 1995
Trotz der Dunkelheit und der Tatsache, dass es keine Straßenlaternen gab, konnte die Frau die gesamte sanft geschwungene Bucht überblicken. Manchmal hatte sie das Gefühl, ihr gesamtes Leben im Halbdunkel verbracht zu haben; in ihren Träumen stand sie im Mondschein, im Neonlicht oder schwebte durch das erste Schimmern der Morgendämmerung. Noch immer fühlte sie sich nachts am wachsten.
Sie wartete auf das Geräusch von Schritten, darauf, dass die Person, mit der sie verabredet war, endlich kam. Aus weiter Ferne vernahm sie den Lärm der Stadt: Fetzen von Schlagermusik und schrilles, alkoholseliges Gelächter. Obwohl schon Sonntagabend war, feierten die Menschen einfach weiter, sie strömten aus den Bars und Clubs und trödelten auf den Gehsteigen noch etwas herum, denn es war Juni und das Wetter herrlich, schwülheiß und windstill. Der Vergnügungspark von Spanish City hatte um diese Zeit bereits geschlossen, dort war alles ruhig. An den bunten Lichterketten konnte sie die Umrisse der Fahrgeschäfte erkennen, fröhlich und farbenprächtig in der hellen Mittagssonne und nun, im Dunkeln, hinreißend schön. Der Vollmond warf sein weißes Licht auf die Kuppel des Dome, auf den Leuchtturm in ihrem Rücken und die verführerischen Art-déco-Bögen des Seagull. Wenn ihr wüsstet, dachte sie, ihr ach so Reichen und Schönen in euren Smokings und schimmernden Abendkleidern, die ihr da auf der Terrasse sitzt und Cocktails und Champagner schlürft. Wenn ihr wüsstet, was dort wirklich vor sich geht.
Ganz in Gedanken verloren, hatte sie nicht mehr darauf geachtet, ob er sich ihr näherte. Erst als sie ihn hinter sich spürte, seinen Atem an ihrem Hals, seine Hände auf ihren Schultern, wusste sie, dass er gekommen war.