Holly machte Laura Webb über einen Freund von Charlie ausfindig, der früher bei der Sitte gewesen war. Sie wohnte noch immer in Whitley Bay, doch als Holly an die Tür des Reihenhäuschens klopfte, machte ihr niemand auf. Vor den Häusern lagen kleine Vorgärten, die auf die schmale Straße hinausgingen, und auf dem Nachbargrundstück saß eine junge Frau im Gras und beaufsichtigte ihr spielendes Kind.
«Um diese Zeit ist sie bestimmt bei der Arbeit.» Die Nachbarin machte einen sehr freundlichen Eindruck.
«Ach so?» Holly wusste nicht recht, was sie darauf sonst sagen sollte. Der Ordner mit den Anzeigen gegen Laura wegen unerlaubter Prostitution war mehrere Zentimeter dick, doch in den letzten Jahren war sie nicht mehr aufgegriffen worden. Bestimmt war sie inzwischen auch zu alt, um sich den Lebensunterhalt noch auf der Straße zu verdienen. Abgesehen davon wirkte das Viertel hier ausgesprochen rechtschaffen.
«Ja, ihr gehört das Yogazentrum an der Metrostation. Da sollten Sie sie eigentlich antreffen, allerdings gibt sie vielleicht gerade einen Kurs. Aber wenn Sie warten müssen, können Sie nebenan einen Kaffee trinken.»
Also fuhr Holly zurück zur Uferzeile, ließ den Wagen stehen und ging zu Fuß die breite Allee Richtung Metrostation hoch. Sogar sie konnte sich noch an Zeiten erinnern, als sich die Menschen auf dieser Straße dicht gedrängt hatten, vor allem an Feiertagen. Da wurde schon zum Frühstück mit dem Trinken begonnen und den Rest des Tages von einer Bar zur nächsten weitergetorkelt. Um die Mittagszeit tauchten die ersten Stripperinnen auf, und in den Bars hatten die Kellnerinnen so wenig an, dass man fast schon meinen konnte, sie strippten ebenfalls. Damals zog Whitley Bay Junggesellenabschiede an, überall liefen Frauen mit Heiligenschein und Flügelchen und Männer in Korsetts und Netzstrümpfen herum; sie kamen in Minibussen und übernachteten in den billigen Pensionen. Einige ihrer männlichen Kollegen nannten die South Parade die «Po-Parade» und machten extra Umwege, um die Promenade entlangfahren und die Teenie-Mädchen begutachten zu können, die zum ersten Mal übers Wochenende ausgingen und durchfeierten, in Röckchen, die nichts der Phantasie überließen, und auf Absätzen, auf denen sie daherwankten, als wären sie Kinder, die in den Klamotten der Mutter Verkleiden spielten.
Heute aber waren die meisten Bars und Clubs geschlossen, die Fenster mit Rollgittern oder Hartfaserplatten verrammelt. Die Straße hatte ihre dreiste Keckheit und den anzüglichen Humor ebenso verloren wie ihre Vulgarität. Man sah mehr «Zu verkaufen»-Schilder von Immobilienmaklern als Neonlichter. Vor dem Blue Lagoon lag eine abgeknickte Plastikpalme, und alle Pensionen wiesen freie Zimmer aus und warben um Saisonarbeiter. Holly nahm an, dass schon bald die ersten Bauunternehmen anrücken und die leerstehenden Bars und Hotels in begehrte Wohnungen verwandeln würden. Auch in den anderen Straßen hatte die Gentrifizierung bereits begonnen. Selbst am unteren Ende der South Parade gab es schon einen schicken neuen Italiener und etwas, das sich Gastropub nannte.
In der Metrostation spannte sich ein Glasdach über die Gleise und beide Bahnsteige, das früher einmal wirklich prächtig ausgesehen haben musste, doch inzwischen fehlte ein Großteil der Scheiben, und auf allen Metallstreben waren Stifte zur Abwehr der Tauben angebracht. Die Tickets wurden mittlerweile von Maschinen verkauft, aber die Gebäude, in denen einst das Bahnpersonal und der Wartesaal untergebracht waren, standen noch. Es gab einen Uhrenturm, ein Rundbogenportal sowie Fotos von den Menschenmassen, die vor dem Krieg von den Bahnsteigen zum Meer geströmt waren. Jetzt aber warteten nur ein paar ältere Frauen auf den Zug nach Newcastle und schwatzten über das Fernsehprogramm des vergangenen Abends.
Ein Teil des überflüssig gewordenen Schalterraums war in ein Café umgewandelt worden, vor dem Tische und Stühle standen. Dort saß eine dicke Frau und trank einen Latte macchiato, während der Hund zu ihren Füßen Wasser aus einer Schüssel schlabberte. Das Yogazentrum lag gleich nebenan, und gerade als Holly darauf zuging, öffnete sich eine Tür, aus der eine Gruppe Menschen in Leggings und T-Shirts quoll und den Bahnsteig bevölkerte. Im Eingang stand eine Frau, von der Holly annahm, dass es Laura sein müsse, und winkte ihnen zum Abschied nach. Dann wandte sie sich an die junge Ermittlerin.
«Wollen Sie sich anmelden? Unser Anfängerkurs beginnt in einer halben Stunde. Wir sind zwar schon ziemlich voll, aber für Sie findet sich bestimmt noch ein Plätzchen.» Geschäftstüchtig und freundlich. Sie musste inzwischen Mitte sechzig sein, sah aber immer noch umwerfend aus: Wangenknochen, um die jede Frau sie beneiden musste, das Gesicht wie gemeißelt, sehr kurz geschnittenes Haar. Als Holly ihr nicht gleich antwortete, fuhr sie fort: «Es ist alles ziemlich harmlos, zumindest am Anfang. Sie brauchen keine Angst zu haben.»
«Sind Sie Laura Webb?»
«Ja.»
«Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen?» Holly zeigte ihren Dienstausweis vor, wobei sie versuchte, die Diskretion zu wahren. Sie standen immer noch im Eingang des Zentrums, der auf den Bahnsteig hinausging, und die Frau mit dem Hund konnte jedes Wort mithören. «Wir haben die Hoffnung, dass Sie uns weiterhelfen können.»
«Worum geht es denn?»
Holly zögerte, doch die Frau vor dem Café schien das Gespräch überhaupt nicht wahrzunehmen. «Um die beiden Leichen, die in der Nähe von St. Mary’s Island gefunden wurden. Davon haben Sie doch gehört?»
Laura nickte. «Die Kursteilnehmer sprechen von nichts anderem mehr.» Sie führte Holly ins Gebäude, das nach dem grellen Sonnenlicht unter dem Glasdach des Bahnhofs schattig und kühl wirkte. Der Holzboden war frisch gebohnert, und weit oben in den einander gegenüberliegenden Wänden waren runde Fenster eingelassen. Laura entrollte zwei Yogamatten und setzte sich auf die eine, die Beine seitlich angewinkelt. Mit einem Kopfnicken wies sie auf die andere, und Holly setzte sich ebenfalls. Sie fragte sich, was Vera jetzt wohl gemacht hätte und ob sie es geschafft hätte, nach dem Gespräch wieder aufzustehen. Ein Zug ratterte in den Bahnhof ein und hielt.
«Ich versuche, eine Frau namens Mary-Frances Lascuola zu finden. Sie scheint Mitte der Achtziger einfach verschwunden zu sein.»
«Glauben Sie denn, sie könnte eine der beiden Leichen sein?» Laura hatte den Kopf zur Seite gedreht und blickte Holly nicht direkt an. Sie saß beinahe reglos da, und mit dem Kopf, der in die eine Richtung gewandt war, und den Beinen, die in die andere zeigten, sah es aus, als hätte sie eine Yogaposition eingenommen.
«Möglich wäre es. Aber sicher wissen wir noch nichts.»
«Ich kannte Mary-Frances», sagte Laura. «Natürlich wissen Sie Bescheid über meine Vergangenheit, sonst wären Sie nicht hier. Mary und ich haben eine Zeitlang zusammen gewohnt und gearbeitet. Bestimmt kennen Sie das, wenn man eine Weile lang das Leben mit einem anderen Menschen teilt und sich dann wieder aus den Augen verliert. Kennengelernt haben wir uns in einem Wohnheim für Haftentlassene in Shields, und dann haben wir zusammen eine Wohnung gemietet, gar nicht weit von hier. Wir waren beide fest entschlossen, clean zu bleiben.» Sie legte eine Pause ein. «Für eine Weile hatten wir sogar richtige Jobs, als Kellnerinnen in einem Club direkt am Meer. Der hieß The Seagull.»
«Nun, zumindest Sie sind ja clean geblieben.» Holly fand es schwer, sich diese starke, souverän wirkende Frau als Heroinsüchtige vorzustellen, die Männer auf der Straße aufgabelt, um Geld für den nächsten Schuss zu bekommen.
«Damals nicht. Jedenfalls nicht lang. Mary war diejenige, die angefangen hatte, ihr Leben wieder auf die Reihe zu bringen. Ich kam von der Droge nicht los.» Die Stimme der Frau verriet keinerlei Emotion. Es war, als spräche sie über eine völlig Fremde. «Den Job im Seagull war ich im Handumdrehen wieder los – ich war viel zu unzuverlässig. Mary hat ihn noch eine Weile behalten, dann aber wurde auch sie rückfällig und an die Luft gesetzt. Das Letzte, was wir zusammen machten, war der Besuch einer Entzugsklinik in Bebington. Das war eine Tagesklinik, ohne stationäre Plätze, und wir teilten uns immer noch die Wohnung. Für mich war die Therapie dort ein Erfolg. Für Mary allerdings nicht. Sie brach ab, und danach habe ich sie nie wiedergesehen.»
«Wann war das?»
Laura zuckte die Achseln, als hätten Jahreszahlen nichts zu bedeuten. Holly glaubte, dass sie an die Freundin zurückdachte, die aus ihrem Leben verschwunden war.
«Haben Sie mal bei dem Club nachgefragt?» Holly versuchte sich dieses chaotische Leben lose miteinander verbundener Existenzen hier unten am Meer vorzustellen: Saisonarbeiter, Herumtreiber, ehemalige Straftäter. Kein Wunder, dass es so leicht für Mary-Frances gewesen war, einfach zu verschwinden.
«Nein. Ich habe mir aber auch keine besonders große Mühe gegeben, sie zu finden. Heroinsüchtige sind egoistische Geschöpfe, und ich war voll und ganz darauf konzentriert, selbst wieder auf die Beine zu kommen.»
«Wie hieß diese Entzugsklinik?»
«Shaftoe House. Das ist so ein riesiger viktorianischer Kasten mitten in der Stadt. Früher einmal gehörte das Haus einem Grubenbesitzer, dann wurde es Teil einer Nervenklinik. Dort hilft man Süchtigen auch heute noch beim Entzug, inzwischen aber wird es von einer wohltätigen Einrichtung geleitet.» Laura schloss kurz die Augen. «Einen Nachmittag in der Woche gebe ich dort einen Yoga- und Meditationskurs.»
«Uns wurde gesagt, dass Mary-Frances gestorben wäre», meinte Holly, «aber wir können keine offizielle Bestätigung dafür finden. Benutzte sie noch andere Namen?»
Laura schüttelte den Kopf. «Als ich sie kannte, nicht. Sie war richtig stolz darauf, Halbitalienerin zu sein. Wir anderen fanden das exotisch und spannend.»
«1983 bekam sie ein Baby. Kannten Sie Mary-Frances bereits während der Schwangerschaft?»
«Nein, als ich sie kennenlernte, hatte sie das Kind schon weggegeben. Manchmal sprach sie von der Kleinen. Sie wissen schon, diese sentimentalen Gespräche, die man spät nachts zuweilen führt. Sie stellte sich vor, wie die Kleine wohl aussah, ob sie schon in den Kindergarten ging. Manchmal konnte man erkennen, dass sie sich schuldig fühlte, aber im Grunde wusste sie, dass es richtig gewesen war, sie zur Adoption freizugeben.»
«Hat sie Ihnen auch was über den Vater erzählt?»
Jetzt drehte Laura langsam den Kopf und blickte Holly zum ersten Mal in die Augen.
«Den korrupten Bullen, meinen Sie.»
Obwohl sie wusste, dass es albern war, wurde Holly rot. Es war, als stünden sie und ihr ganzer Berufsstand am Pranger. «Kannten Sie ihn?»
«Er kam ein paarmal zu uns in die Wohnung, wedelte mit seinem Geld herum und entführte Mary in irgendein schickes Hotel.» Nun war ein Zug aus Newcastle gekommen, und von draußen hörte man die Stimmen der Fahrgäste: junge Burschen im Teenageralter, die schimpften und fluchten. «Immer musste er angeben, immer raushängen lassen, dass er das Sagen hatte und was Besseres war als wir. Er war bekannt für seine Versprechungen, im Gegenzug für Sex die Anzeigen gegen uns fallenzulassen. Die Mädchen kannten ihn alle.»
«Wie hat er Mary-Frances behandelt? War er ihr gegenüber jemals gewalttätig?»
Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen. «Nein! John Brace war ein Mistkerl, der alle wie den letzten Dreck behandelte, aber Mary hat ihm, glaube ich, wirklich etwas bedeutet.»
«Obwohl er mit anderen Frauen Sex haben wollte?»
«Ach, darin hätte er keinen Widerspruch gesehen.» Laura schien nach den richtigen Worten zu suchen. «Er hatte das Gefühl, dass ihm das zustand. Weil er ein Kerl war und ein Bulle. Das war so eine Art abgedrehte Machtphantasie. Und außerdem waren es andere Zeiten damals, nicht wahr?»
Holly dachte, dass sie das überhaupt nicht beurteilen konnte. «Dann haben Sie Mary-Frances also das letzte Mal im Shaftoe House gesehen, bevor sie verschwand?»
«Genau. Danach hatte ich manchmal noch den Eindruck, ich hätte sie irgendwo kurz gesehen. Einmal, in Newcastle, ging ich gerade die Northumberland Street entlang und glaubte, sie in einiger Entfernung erkannt zu haben. Aber es war kurz vor Weihnachten, und die Straßen waren so voll, dass man sich kaum umdrehen konnte. Ich hab’s nicht geschafft, sie einzuholen. Ein andermal war ich mit der Metro unterwegs, und da ist in Cullercoats eine Frau ausgestiegen, die mich an sie erinnert hat, aber ich konnte sie nur von hinten sehen. Wahrscheinlich hatte ich einfach nur vor mich hin geträumt. Mich von den Gespenstern meiner Vergangenheit einholen lassen.» Laura lächelte. «Mittlerweile belästigen sie mich nicht mehr so oft wie früher.»
«Haben Sie damals auch einen gewissen Robbie Marshall kennengelernt? Das war ein Freund von John Brace, der bei Swan Hunter’s beschäftigt war.»
Offenbar musste Laura ein Weilchen nachdenken, bevor sie antwortete. «Kann sein. Der Name kommt mir bekannt vor. Aber das ist lange her. Und damals kannte ich eine Menge Männer.»
«Fällt Ihnen sonst noch jemand ein, mit dem ich sprechen sollte? Andere Frauen, die vielleicht mehr über Mary-Frances wissen könnten? Familie?»
«Ihre Eltern starben, als sie Anfang zwanzig war. Ich glaube nicht, dass es noch mehr Familie gab.» Laura blickte auf ihre Uhr. «Der nächste Kurs wird gleich eintrudeln. Ich muss ihnen die Tür aufmachen.»
«Was ist mit Freundinnen? Kolleginnen, mit denen sie im Seagull gearbeitet hat?»
Doch Laura war jetzt abgelenkt. «Mit denen hatte ich kaum was zu tun. Wie gesagt, ich wurde schon nach ein paar Monaten wieder rausgeschmissen. Außerdem habe ich da auch nicht richtig reingepasst.» Sie schwieg kurz. «Selbst wenn ich besoffen war oder auf Drogen, hat mir so manches, was da ablief, nicht gefallen. Da gab’s reiche Angeber, die einen auf Filmstar machten und meinten, sich mit ihrem Geld alles kaufen zu können, was sie wollten.» Stirnrunzelnd fügte sie hinzu: «Aber Sie könnten ja mal den Typen fragen, dem der Schuppen gehörte, ob Mary mit einer von den Angestellten näher befreundet war. Das ist ein Schotte namens Sinclair. Der tollste Kerl von Whitley Bay, wenn man seiner eigenen Publicity glaubt. Mittlerweile gibt er sich geläutert, ist Gemeinderatsvorsitzender und Mitglied in jedem Ausschuss, den er finden kann.» Sie zögerte und ergänzte dann noch: «Ich habe ihn allerdings immer für einen ziemlichen Widerling gehalten.» Mit einer einzigen geschmeidigen Bewegung stand sie auf. «Ich bezweifle zwar, dass er sich nach all der Zeit noch erinnert, aber fragen kostet ja nichts.»
Holly mühte sich ab, ebenfalls wieder auf die Füße zu kommen. «Wissen Sie, wo ich ihn finden kann?»
«Vielleicht in seinem Büro beim Dome. Beim Projekt für die Neugestaltung der Uferzeile tritt er als Berater auf. Versucht, die Vergangenheit des Orts wieder aufleben zu lassen.» Das klang abfällig. «Oder seine eigene.»