Kapitel neunzehn

Vera, die in der Leichenhalle neben Paul Keating stand, nahm diesen ganz speziellen Geruch nach Desinfektionsmittel und Verwesung in sich auf. Sie war nicht zimperlich, nie gewesen, und diese Knochen, die hier auf zwei Tischen lagen, erinnerten nur noch so wenig an lebendige, atmende Menschen, dass sie es schwer gefunden hätte, eine emotionale Regung zu zeigen. An manchen Stellen hingen noch vereinzelte Textilreste, die allerdings so stark zersetzt waren, dass Vera nicht glaubte, dass sie ihnen noch viel erzählen konnten. Als sie eingetroffen war, war Keating nicht allein gewesen. Er hatte sich gerade mit einer Frau unterhalten, die ebenso groß war wie er selbst, aber eine

«Darf ich vorstellen: Valerie Malcolm, die forensische Anthropologin der Universität.»

Vera hatte schon von Valerie gehört und wusste, dass sie einen guten Ruf genoss. Im Vereinigten Königreich blieb eine Leiche in der Regel nicht lange unentdeckt, und um Erfahrungen zu sammeln, mussten forensische Anthropologen ins Ausland gehen. Malcolm hatte lange Jahre in den USA gearbeitet. Durch die zahlreichen unerschlossenen Gebiete und die Wildnis war es dort viel einfacher, Menschen verschwinden zu lassen, und die Leichen blieben deutlich länger unbemerkt. Nun ging die Tür erneut auf, und Billy Wainwright, ihr bevorzugter Spurensicherer, wieselte herein.

«Ich dachte, Sie hätten noch ein paar Tage Urlaub?» Aber Vera war hocherfreut, ihn zu sehen. Jetzt war ihr Team vollständig.

«Ich bin heute Morgen gelandet. Ich weiß doch, dass Sie ohne meine Kompetenz aufgeschmissen sind.»

«Sie hatten wohl genug voneinander, Sie und Ihre Lolita, was?» Vera ließ sich die kleine Stichelei auf der Zunge zergehen. Billy zuckte nur die Achseln und grinste, er zog es vor, nicht zu antworten. Malcolm hatte sich bereits auf die Knochen auf dem ersten Tisch konzentriert und schien den kleinen Schlagabtausch gar nicht mitbekommen zu haben.

«Die erste Leiche ist eindeutig die eines männlichen Erwachsenen», sagte Keating.

«Nicht mehr ganz jung.» Valerie Malcolm sah vom Tisch

«Woher wissen Sie, dass es ein Mann war?» Damit wollte Vera Valeries Einschätzung nicht in Frage stellen, sie war einfach nur neugierig. «Es gibt doch auch große oder schwere Frauen.» Wie mich. Und Sie.

«Anhand der Größe der Knochen. Natürlich gibt es immer eine gewisse Überschneidung zwischen den Geschlechtern, aber in diesem Fall ist es eindeutig, würde ich sagen. Sehen Sie sich den Schädel an und die ausgeprägten Knochen der Augenhöhle. Die Knochen des Gesichtsschädels sind alle größer, als man es bei einem weiblichen Schädel erwarten würde.» Die Anthropologin beugte sich dicht über den Tisch, das Gesicht jetzt sehr nah an den Knochen. Es sah fast so aus, als wollte sie daran riechen, dann aber wurde Vera klar, dass Valerie selbst mit Brille noch kurzsichtig war. Sie betrachtete die Knochen einfach nur sehr eingehend. «Hier sieht man eine kleine Unregelmäßigkeit. Dieser Mann hat sich einmal den Arm gebrochen. Das wäre ein mutmaßliches Erkennungszeichen, das wir bestätigen könnten. Dazu bräuchten wir allerdings die Röntgenaufnahmen, die damals bestimmt gemacht wurden.»

Die konnte ihnen sicher Eleanor besorgen, Robbies liebende Mutter, glaubte Vera. Bestimmt wusste sie noch

«Ich würde sagen, er war etwa eins dreiundachtzig.» Valerie blickte auf. «Passt das?»

«Das weiß ich nicht, aber ich werde eine Verwandte von ihm fragen. Mit der Mutter stehen wir bereits in Kontakt.»

«Und er hatte auch einige Zahnbehandlungen. Das sollte dann jeden Zweifel ausschließen, wenn der Zahnarzt die Unterlagen noch hat.»

«Auch dabei sollte seine Mutter uns helfen können.» Vera schwieg. «Können Sie uns zufällig auch noch etwas über die Todesursache sagen? Oder fordere ich mein Glück damit zu sehr heraus?»

«Ach je.» Die Anthropologin wandte ihre Aufmerksamkeit kurz von dem Skelett ab. «Nun, was das betrifft, müssen wir natürlich vorsichtig sein. Selbst wenn wir Anzeichen einer

«Aber in diesem Fall …» Langsam begann Vera, die Frau zu mögen, ihren Enthusiasmus und diese Leidenschaft für ihre Arbeit. Ihre Präzision. Und die Tatsache, dass sie mit Vera nicht sprach, als hätte sie eine Sechsjährige oder Schwachsinnige vor sich.

«In diesem Fall können wir, glaube ich, mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, dass die Todesursache eine Verletzung des hinteren Schädelbereichs durch stumpfe Gewalteinwirkung war.»

«Der Kerl wurde also hinterrücks mit einem schweren Gegenstand niedergeschlagen.» Vera war sich nicht sicher, ob das zu ihren bisherigen Theorien darüber, was an jenem Juniabend vor über zwanzig Jahren geschehen sein mochte, passte. Sie war inzwischen zu dem Schluss gelangt, dass es sich, wenn John Brace wirklich nichts damit zu tun hatte, um einen Mord im Milieu des organisierten Verbrechens handeln musste: Schwerverbrecher, die alte Rechnungen beglichen. Aber solchen Leuten hätte Robbie doch niemals den Rücken zugewandt, und außerdem griffen die viel eher zu einer Schusswaffe oder einem Messer. Etwas Sterilerem, was auch sicherer war. Dann aber schob sie ihre Vermutungen beiseite und wandte sich dem Leiter der Spurensicherung zu.

«An dieser Leiche ist nur sehr wenig Kleidung erhalten geblieben. Daher vermute ich, dass er hauptsächlich Naturfasern trug, Baumwolle und Wolle, die sich schnell zersetzen. Aber wir haben ja noch seine Stiefel. Aus Leder, Größe 45. Von guter Qualität, aber ich glaube, dass sie schon ziemlich alt waren, als er umgebracht wurde. Hier, die Sohle ist schon recht abgenutzt. Und wir haben einen Gürtel. Die Gürtelschnalle ist geformt wie ein Schiff. Ziemlich markant. Ein Verwandter erkennt die bestimmt, denke ich.»

Vera nickte. Sie nahm sich vor, gleich wenn sie hier fertig war, bei Eleanor vorbeizufahren, wo sie die fürs Erste notwendigen Bestätigungen sicher erhalten würde. In der Zwischenzeit, während sie auf die Röntgenaufnahmen und Unterlagen des Zahnarztes warteten, hatten sie auch so noch genug zu tun. Eleanor wäre bestimmt froh zu erfahren, dass ihr Sohn nicht weggelaufen war und sie im Stich gelassen hatte. Sie wäre froh, diese Knochen endlich beerdigen zu können. Das würde ihr vielleicht noch etwas Frieden schenken in den ihr verbleibenden Jahren.

Nun wandte Billy seine Aufmerksamkeit der zweiten Leiche zu. «Diese Person hier hat hauptsächlich künstliche Fasern getragen, die deutlich weniger zersetzt sind. Damals war in der industriellen Fertigung das Gespür dafür, dass bestimmte Materialien mehrere Generationen lang auf den Mülldeponien herumliegen werden, noch nicht besonders ausgeprägt, und manche Stoffe halten ewig, selbst an so unwirtlichen Orten wie unserem Fundort. Natürlich ist trotzdem ein großer Teil der Kleidung verschwunden.

«Sie? Wollen Sie damit sagen, dass es sich definitiv um eine weibliche Leiche handelt?» Vera warf Valerie Malcolm einen bestätigungheischenden Blick zu.

Die Anthropologin nickte. «Ja, davon würde ich ausgehen. Die Knochen habe ich mir vorhin angesehen. Der Beckenknochen ist noch weitgehend intakt, und die Gesichtsschädelknochen sind kleiner. Insgesamt ist das Skelett erheblich filigraner.»

«Davon abgesehen», warf Billy ein, «glaube ich nicht, dass ein Kerl, sofern wir es nicht mit einem Transvestiten zu tun haben, abends in schwarzer Spitzenunterwäsche ausgehen würde. Es sind zwar nur noch ein paar Fragmente davon übrig, aber bei genauem Hinsehen erkennt man sie deutlich.»

Dann handelt es sich vielleicht also wirklich um Mary-Frances Lascuola. Aber wir haben schon seit etwa Mitte der Achtziger keinerlei Unterlagen mehr über sie gefunden, etwa seit der Zeit, als sie ihre Tochter zur Adoption freigab. Keine Eintragungen wegen Straftaten, keine Unterlagen, dass und was sie gearbeitet hätte. Wo hat sie sich dann all die Jahre über versteckt, bevor sie in einem Abflussrohr bei St. Mary’s Island ihr Ende fand? Oder wurde sie da vielleicht schon um die Zeit entsorgt, als sie von der Bildfläche verschwand, und lag einfach nur immer noch in dem Rohr, als Brace Robbie Marshalls Leiche dazuschob?

«Können Sie eine Aussage darüber treffen, ob sie zur selben Zeit ums Leben kam wie der Mann?»

Malcolm und Keating schüttelten unisono die Köpfe. «Sie wissen doch, wie knifflig es ist, den Zeitpunkt des Todes genau zu bestimmen, selbst bei einer Leiche, die nicht so

«Dann könnte sie auch schon zehn Jahre in dem Abflussrohr gelegen haben, als die zweite Leiche dazukam?»

«Ich wüsste nichts, was dagegen spricht.»

Vera wünschte, die Anthropologin würde nicht so fröhlich klingen. «Ich dachte, so was könnten Sie mit Hilfe von Insekten näher eingrenzen?» Jetzt klammerte sie sich an Strohhalme.

«Sie können sich natürlich gern an einen forensischen Entomologen wenden, aber meiner Meinung nach ist da nach all der Zeit nichts Brauchbares mehr zu erwarten.»

«Von der Frau wurden keine Schuhe gefunden», nahm Billy den Faden wieder auf, «und das kommt mir merkwürdig vor. Sie hatte doch bestimmt welche an, entweder aus Leder oder aus Kunstfaser, und die sollten eigentlich nicht zersetzt sein.»

«Vielleicht ist sie ja nicht in jener Nacht an der Küste ums Leben gekommen. Wenn der Mörder sie zum Beispiel im Kofferraum eines Autos transportiert hat, könnte er die Schuhe vergessen haben.»

«Und dann hat er sie ins selbe Rohr gelegt wie die erste Leiche, nur später?» Die Frage kam von Valerie Malcolm. «Weil er das für ein gutes Versteck hielt?»

«Vielleicht. John Brace hat zugegeben, Marshalls Leiche da hineingelegt zu haben, behauptet aber, von einer zweiten Leiche nichts zu wissen. Wenn er die Wahrheit sagt, und das ist ein verdammt großes ‹Wenn›, dann wurde er vielleicht beobachtet.»

«Und jemand, der zufällig gerade eine weibliche Leiche dabei hatte, die er loswerden wollte, dachte, das wäre doch

Das ignorierte Vera. «Können Sie einschätzen, wie alt die Frau war?»

«Jünger als der Mann», erwiderte Valerie Malcolm, «und deutlich kleiner. Eins achtundsechzig. So in dem Dreh.» Sie sah auf. «Keine Zahnbehandlungen.»

«Und was sagt uns das?» Vera hatte den gleichen Reichtum an Informationen erwartet wie bei der männlichen Leiche und wurde ungeduldig. Sie war enttäuscht, dass es ihnen offenbar nicht gelingen wollte, die Frau auf dieselbe Weise wieder zum Leben zu erwecken.

«Vielleicht hatte sie ja nur bessere Zähne. Mit Fluoriden versetzte Zahnpasta kann den Verfall der Zähne heutzutage ganz erheblich hinauszögern. Oder aber sie hatte keinen Zugang zu zahnärztlicher Versorgung.»

«Todesursache?»

«Ich fürchte, da kann ich Ihnen auch nicht weiterhelfen. Von dieser Leiche haben wir weniger Knochen. Vermutlich haben die Raubfische sie überall verstreut, und die kleineren könnte die Flut durch die Lücken zwischen den Felsblöcken davongespült haben.» Valerie blickte Vera an. «Tut mir leid, dass ich Ihnen nicht besser helfen kann.»

«Ist ja nicht Ihr Fehler, Herzchen. Und bei der ersten Leiche haben Sie wirklich ein wahres Zauberkunststück vollbracht.» Vera sah noch einmal hinüber zu Billy. «Haben Ihre

«Sie wissen doch, dass wir es Ihnen sofort gesagt hätten, wenn wir auf etwas Wichtiges gestoßen wären.» Billy versuchte, verletzt dreinzublicken.

«Aye, Sie vielleicht, aber was den Typen betrifft, der Sie während Ihrer Lustreise vertreten hat, bin ich mir nicht so sicher.»

«Das Team ist noch vor Ort», sagte Billy. «Sie haben die Suche ausgeweitet, sowohl im Rohr selbst als auch draußen am Ufer. Ich fahre da nachher hin. Wenn wir was finden, sind Sie die Erste, die Bescheid bekommt.»

Vera strahlte ihn an.

Später standen sie und Billy noch kurz zusammen vor der Leichenhalle. «Ich brauche hierbei wirklich Ihre Hilfe, Billy.» Sie lehnte mit dem Rücken an ihrem Wagen und genoss den Sonnenschein auf dem Gesicht. «Ich nehme alles, was uns bei der Identifizierung dieser Frau hilft. Sagen Sie Ihren Leuten, sie sollen alle Hebel in Bewegung setzen.»

«Das brauche ich denen nicht erst zu sagen. Nicht meinen Jungs.» Damit ging er, ohne sich zu verabschieden, und ihr wurde klar, dass sie ihn beleidigt hatte. Für diese Taktlosigkeit hätte sie sich am liebsten selbst einen Tritt in den Hintern verpasst.