Eleanor Marshall wartete bereits auf Vera. Vera glaubte, dass sie da in ihrem schmucken Häuschen in Wallsend schon auf sie wartete, seit die Nachricht über die beiden Leichen bei St. Mary’s Island Schlagzeilen gemacht hatte. Bestimmt hatte sie auf ihrem Sessel im Wohnzimmer Posten bezogen, gleich am Fenster mit den gestärkten Gardinen, und den ganzen Tag lang die Straße auf und ab geschaut, bis sie Veras Wagen hatte vorfahren sehen. In der Küche stand sogar ein vorbereitetes Tablett: zwei Tassen auf passenden Untertassen, Instant-Kaffee und eine Schale mit Teebeuteln, auf einem Teller Schokoladenkekse, noch in der Packung, ein Milchkännchen, das darauf wartete, befüllt zu werden. Zweifellos musste der Wasserkocher nur noch eingeschaltet werden. Sicher war Eleanor zu stolz gewesen, um auf dem Revier anzurufen – dafür war sie in der Vergangenheit schon zu oft abgewiesen worden –, aber sie hatte genug Vertrauen in Vera, um zu wissen, dass diese kommen würde, sobald sie Neuigkeiten hatte.

Vor dem Gespräch bereitete Vera den Tee zu. Nach all der Zeit war jetzt auch keine Eile mehr, und Eleanor hatte an der Tür nicht sofort nach Informationen verlangt.

«Sie haben ihn gefunden», sagte die alte Dame. Das Tablett stand auf dem kleinen runden Tisch mit dem bestickten Deckchen. Vera gab beiden Milch in den Tee.

«Wir wissen noch nichts Genaues.» Vera nahm einen Keks. Während einer Ermittlung musste man essen, wenn man die Gelegenheit dazu hatte. «Aber ich hatte gehofft, dass Sie uns dabei helfen können.»

«Hat Robbie sich mal den Arm gebrochen?»

«Ja. Das passierte im Winter, ein paar Jahre bevor er verschwand. Als er aus dem Haus gehen wollte, ist er auf dem Eis ausgerutscht und unglücklich gefallen. Er meinte, er wäre sich vorgekommen wie der letzte Tollpatsch. Danach musste er mehrere Wochen lang einen Gips tragen, er ging aber trotzdem zur Arbeit und erledigte auf der Werft so viel, wie er konnte.»

Vera nickte, um zu zeigen, dass sie wusste, was für ein gewissenhafter Mann Robbie gewesen sei. «Wir bräuchten den Namen seines Arztes. Wo wurde er operiert?»

«Im Rake Lane Hospital. Sein Arzt hieß Dr. King. Soweit ich weiß, ist er schon vor Jahren in den Ruhestand gegangen. Aber die Praxis gibt es noch, sie ist gleich auf der anderen Seite des Parks.»

Vera nickte erneut.

«Und zu welchem Zahnarzt ist er gegangen?» Sie hielt inne. «Sie verstehen doch, dass wir all diese Informationen brauchen, um ihn zu identifizieren?»

«Ich weiß.» Die alte Dame lächelte verschmitzt. «Ich sehe mir immer die ganzen Krimis im Fernsehen an. Bin geradezu süchtig danach. Das ist ziemlich verrückt, wo ich doch weiß, dass er einer Gewalttat zum Opfer gefallen sein muss, aber irgendwie hilft mir das, dem zu entfliehen. Und im Fernsehen kriegt die Polizei den Mörder am Ende immer. Seine Zahnärztin war Moira Armstrong in Howden. Sie ist nun auch schon in die Jahre gekommen, praktiziert aber noch.»

«Wir haben auch einen Gürtel gefunden», sagte Vera.

«Das ist der Gürtel, den wir gefunden haben.» Vera wartete kurz ab, damit Eleanor Zeit hatte, die Information zu verarbeiten, doch die alte Dame hatte schon seit den Lokalnachrichten gewusst, dass man ihren Sohn gefunden hatte. «Wir müssen unsere Befunde natürlich noch mit den Röntgenaufnahmen vom Krankenhaus und den zahnärztlichen Unterlagen abgleichen, aber ich glaube, wir haben Robbie gefunden.» Beide schwiegen. «Er wurde ermordet, Eleanor, aber das haben Sie sich bestimmt schon gedacht. Schließlich hat er sich ja nicht selbst in dieses Rohr im Fels gelegt. Können Sie sich vorstellen, wer ihn hätte umbringen wollen?»

Die alte Dame schüttelte den Kopf. «Er muss wohl noch ein zweites Leben geführt haben, von dem ich nichts wusste. Zu Hause war er ein liebevoller Sohn, und niemand hätte ihm etwas antun wollen.»

«Bestimmt haben Sie in den Nachrichten auch gesehen, dass wir an der Stelle zwei Leichen gefunden haben. Die zweite Leiche gehört mit ziemlicher Sicherheit zu einer Frau. Haben Sie eine Ahnung, wer das gewesen sein könnte? Ich weiß, ich habe Sie schon einmal nach Freundinnen von Robbie gefragt, aber vielleicht ist Ihnen inzwischen ja noch etwas dazu eingefallen. Selbst wenn er sie nicht mit nach Hause brachte, hat er sie vielleicht irgendwann mal erwähnt.»

«Eine geraume Zeit vor Robbie ist eine Frau verschwunden. Möglicherweise ist sie die zweite Leiche. Sie hieß Mary-Frances Lascuola. Sagt Ihnen dieser Name etwas?» Vera ließ Eleanor nicht aus den Augen, um zu sehen, wie sie reagierte, aber die alte Dame blickte nur verwirrt drein.

«Dann traf er sich tatsächlich mit einer Ausländerin? Nein, eine Frau mit diesem Namen hat Robbie nie erwähnt. Daran hätte ich mich erinnert.»

«Mary war Britin», sagte Vera. «Wenn man sie sah, hätte man nichts von ihrem familiären Hintergrund geahnt.»

Doch die alte Dame schüttelte nur wieder den Kopf. Die Geheimnisse, die ihr Sohn vor ihr gehabt hatte, schienen ihr mehr Kummer zu bereiten als die Bestätigung, dass er tot war.

 

«Sie sind also beide auf denselben Namen gestoßen.» Vera nickte Joe und Holly zu, während der Zuckerguss von ihrem Eclair auf den Schreibtisch bröselte. «Ein Schotte namens Sinclair. Sagt der Ihnen was, Charlie?»

Charlie nickte. «Der hatte einen Club namens The Seagull, der echt schick gewesen sein soll. Die Cocktails waren da so teuer, dass man ein Darlehen dafür aufnehmen musste, und wenn man berühmte Fußballer und ihre Frauen, Rockstars und Schauspieler sehen wollte, war es die Adresse. Und am Wochenende übernahm dann die Mafia von Newcastle.»

«Den Seagull hat Judith Brace mir gegenüber auch erwähnt.» Wieder hatte Vera den Club zu seinen besten Zeiten vor Augen. Auf dem Gipfel seines Glanzes. Als junges Mädchen hatte sie immer davon geträumt, einmal dorthin ausgeführt zu werden und auf der Terrasse am Meer Cocktails zu trinken. Jetzt stellte sie sich Hector mit John Brace und seinen Spießgesellen dort vor. Es fiel ihr schwer zu glauben, dass ihr Vater das genossen haben sollte – genau wie sie selbst hatte er sich unter kultivierten Menschen nie richtig wohlgefühlt –, dennoch empfand sie einen absurden Groll.

Holly riss sie aus ihren Gedanken. «Der Frau zufolge, mit der ich gesprochen habe, hat Mary-Frances eine Zeitlang da gearbeitet.»

Vera zog eine Augenbraue in die Höhe.

«Sollen wir das glauben? Wollte sie nicht eher in ihrem alten Job an eine bessere Kundschaft rankommen?»

«Das hätte sie nur mit Sinclairs Einverständnis gekonnt», sagte Charlie. «Dass eine auf eigene Rechnung arbeitet, das hätte er in seinem Club nicht zugelassen. Der hatte die Zügel fest in der Hand, Gus Sinclair, oh ja. Wenn er wollte, konnte er jeden um den Finger wickeln – das war die Seite, die seine Gäste zu sehen bekamen –, aber hinter der Fassade war er skrupellos und rabiat.»

«Mary-Frances war nur kurze Zeit dort», fuhr Holly fort. «Wegen irgendwas ist sie wieder in den Drogensumpf abgerutscht, und am Ende ging sie in eine ambulante Entzugsklinik in Bebington namens Shaftoe House. Das gibt es wohl noch, und sobald wir hier fertig sind, wollte ich da mal hinfahren.»

«So wie’s aussieht, hat Gary Keane in dem Club mal ein Sicherheitssystem installiert», mischte Joe sich nun ein. «Zumindest meinte er, er hätte welche in ein paar von Sinclairs Gebäuden installiert, und da müsste dann doch auch der Seagull darunter gewesen sein.»

«Was macht Sinclair heute? Den Seagull gibt es doch schon längst nicht mehr.»

«Der Club ist abgebrannt», sagte Charlie. «Damals glaubten alle, dass es sich um Versicherungsbetrug handelt. Whitley Bay war dabei, sich zu verändern, und die Kids aus Newcastle und die Jungs und Mädels aus Glasgow, die ihre Junggesellenabschiede feiern wollten, hatten kein

«Aber da muss es doch eine Untersuchung gegeben haben damals.» Vera fragte sich, wieso sie sich nicht an das Feuer erinnern konnte. Ihre Träume von Eleganz hatten sich buchstäblich in Rauch aufgelöst. Wahrscheinlich war sie zu der Zeit mit einem Fall am anderen Ende der Grafschaft beschäftigt gewesen.

Aber Charlie hatte natürlich alle Einzelheiten parat. «Sinclair hatte ein Alibi. Na ja, klar, dass er eins hatte. Der hätte den Club doch niemals persönlich angesteckt.»

«Und das Alibi?»

Charlie grinste breit. «Er war auf einem Wohltätigkeitsball der Polizei, und die halbe Truppe war da und konnte es bezeugen.»

«Aha, Sinn für Humor hat er also», meinte Vera. «Das gefällt mir, wenn Kriminelle Sinn für Humor haben.» Sie nahm sich das letzte Stück Gebäck, bevor es ihr einer wegschnappen konnte. «Und was geschah mit Mr. Sinclair nach dem bedauerlichen Hinscheiden des Seagull?»

«Zunächst mal bekam er eine hohe Versicherungssumme.» Charlie runzelte die Stirn, als versuchte er, sich an die genauen Details zu erinnern, und wirkte enttäuscht, dass er keine exakte Zahl nennen konnte. «Schließlich war der Club erfolgreich, und die jüngsten Geschäftsbücher wiesen einen hübschen Gewinn aus. Dann verschwand Sinclair. Vielleicht hielt er es ja für angebracht, sich eine Weile nicht blicken zu lassen.»

«Wann war das Feuer?» Vera hatte das Gefühl, sich durch

«Das muss ich nachsehen.» Doch sie merkte gleich, dass Charlie sie nur aufzog. Er wusste die Antwort genau.

«Aber Sie doch nicht!» Manchmal brauchte er ein wenig Honig ums Maul. «Nicht der Mann mit dem Gedächtnis, das das eines jeden Elefanten übertrifft.»

«Das war 1995.» Charlie grinste. «Im Hochsommer. Anfang Juli. Die Saison hatte gerade begonnen, auch ein Grund, weshalb die Ermittler Brandstiftung für unwahrscheinlich hielten. Warum sollte man den Club abfackeln, wenn die gewinnträchtigste Zeit des Jahres bevorstand?»

«Damit einen niemand verdächtigt?» Zuweilen wusste Holly einfach nicht, wann sie die Klappe halten sollte. Es war eine rhetorische Frage gewesen. Sie alle wussten, wie Charlies Verstand funktionierte, und jetzt galt es, ihn ungestört mit seiner Erklärung fortfahren zu lassen.

Doch die Unterbrechung schien ihm nichts ausgemacht zu haben. «Und weil eine schlechte Sommersaison ein gutes Motiv für ein kleines Feuerchen geliefert hätte. Für Sinclair war es besser, seine Verluste zu begrenzen, solange alles noch gut für ihn aussah, und die Versicherung zahlte ihn aus, ohne sich allzu sehr zu zieren.» Er trank seinen Tee aus.

«Und es gab keine Gerüchte unter den Kleinganoven, wen Sinclair für die Brandstiftung angeheuert haben könnte?»

Charlie schüttelte den Kopf. «Es gab jede Menge Vermutungen. Aber nichts Belastbares.»

«Da ist also Robbie Marshall, der dafür bekannt war, unter der Hand Strauchdiebe auf dem Land anzuheuern. Er besorgte Schlägertypen für Wildhüter und

«Und da ist noch Gary Keane.» Joe hatte das Gespräch lange stumm verfolgt, doch jetzt klang er ebenfalls aufgeregt. Er sah die Verbindungen, konnte Veras Logik nachvollziehen. «Wenn er die Sicherheitssysteme installiert hat, wusste er auch, wie man sie abschaltet, damit es keine Aufzeichnungen von den Brandstiftern gibt. Vielleicht kannte er sich sogar gut genug aus, um einen elektrischen Defekt auszulösen und auf diese Weise ein Feuer zu verursachen.»

«Ob er mit uns redet, was glauben Sie?»

«Zwei Menschen, die möglicherweise in die Brandstiftung verwickelt waren, sind tot», meinte Joe. «Kann sein, dass er erst noch überzeugt werden muss.»

Keiner sagte ein Wort. Von draußen konnte man den Verkehr auf der Straße hören und die Kinder, die zur Mittagspause auf den Schulhof strömten.

«Nun, ich kann durchaus überzeugend sein, wenn ich will», sagte Vera. «Aber zuerst möchte ich mir diesen feinen Mr. Sinclair einmal ansehen. Bevor ich mit ihm rede, würde ich allerdings gern noch etwas mehr über ihn wissen.»

«Er ist mittlerweile wieder zurück in Whitley Bay.» Holly,

«Stimmt, den Namen hatte ich in Zusammenhang mit diesem Erneuerungsprojekt auch schon gehört, aber nicht mit dem Sinclair in Verbindung gebracht, dem der Seagull gehörte», sagte Charlie. «Ich glaubte, nach dem Feuer hätte er sich dauerhaft in den Norden abgesetzt, und außerdem kam er mir nicht so vor wie jemand, der sich bei Spendenaktionen und Projekten für die Gemeinschaft engagiert.» Er runzelte die Stirn. «Über den heutigen Mr. Sinclair sagen die Leute nur Gutes. Sein Büro liegt in der Nähe des Dome, gar nicht weit von der Stelle, wo früher der Seagull war, und er stellt es allen möglichen Gruppen der Gemeinde zur Verfügung. Mann, ich hätte die Verbindung herstellen müssen.»

«Judith Brace hat erzählt, dass auf dem Grundstück des Seagull jetzt Luxusapartments errichtet werden sollen», meinte Vera. «Es wäre interessant zu wissen, ob Sinclair den Baugrund noch besitzt.»

«Sie meinen, ihm liegt mehr daran, einen möglichst hohen Gewinn für sich rauszuschlagen, als zur Neugestaltung der Stadt beizutragen?» Charlie grinste vergnügt. «Ja, das klingt schon eher nach dem Gus Sinclair, den ich kannte.»

«Vielleicht wurde er ja bekehrt?» Vera gab ihrer Stimme einen leichten Ton, sie hätte es tatsächlich ernst meinen können. «So was soll’s doch geben.» Kurze Stille. «Sogar John Brace behauptet, er wäre mittlerweile bekehrt. Hätte sich in einen treusorgenden Familienmenschen verwandelt.»