Im Gefängnis von Warkworth wachte John Brace auf und wurde sich bewusst, dass er von Mary-Frances Lascuola geträumt hatte. Der Traum war so lebendig gewesen, dass er glaubte, sie immer noch riechen zu können, ihre Haut und ihren festen Körper noch immer unter seinen Händen zu spüren. Im Traum war auch er jünger gewesen, Anfang fünfzig vielleicht, doch nach all den ausgedehnten Wanderungen in den Bergen körperlich immer noch fit. Nicht alt und machtlos und an den Rollstuhl gefesselt. Im Moment des Aufwachens hatte sein Traum sich mit einer echten Erinnerung vermischt, die Erinnerung genauso zersetzt wie die Leiche der Frau, die Vera Stanhope in einem Abflussrohr bei St. Mary’s Island gefunden hatte. Alles verschiebt sich, dachte er, und nichts ist mehr sicher. Er hatte jeden Glauben an sein eigenes Urteilsvermögen verloren.
Es war Ende Frühling gewesen, eine der guten Phasen. Der Phasen, in denen Mary-Frances clean und gesund gewesen war, als sie vor lauter Dankbarkeit für die Rückkehr in ein normales Leben bereit gewesen war, ihm alles zu geben. Sie arbeitete im Seagull, und als er sie kurz nach Ende ihrer Schicht bei ihr abholte, hatte sie nicht einmal Zeit gehabt zu duschen. Sie hatte noch die Jeans und das Sweatshirt an, in denen sie nach Hause gegangen war – außerhalb des Clubs trug sie nie ihre Arbeitsuniform. Ihr brauchte Sinclair auch kein Taxi zu besorgen, wie er es für die anderen Mädchen tat. Sie wohnte nur zwei Minuten vom Club entfernt. In jener Nacht roch sie noch nach der Arbeit, nach Zigaretten und Parfüm. Es war bereits in den frühen Morgenstunden. Noch nicht richtig hell, aber noch warm.
Er fuhr mit ihr zu einer Stelle, die er auf einer Wanderung mit Hector entdeckt hatte. Ein kleiner Wald an einem Bachlauf; hier hatten Hector und die Bande Nester von Fliegenschnäppern, Wasseramseln und Baumläufern gefunden, die Brace für seine Privatsammlung geplündert hatte. Dort mussten auch einige Beringer ihr Lager aufgeschlagen haben, denn sie fanden die Stangen für die Japannetze. Die feinmaschigen Netze selbst waren aufgerollt und festgebunden, damit die Vögel sich nicht darin verfingen, wenn die Beringer nicht vor Ort waren. Das Wäldchen gehörte zu einem großen Gut, doch die Besitzer hatten es zuwuchern lassen und, um ihr ökologisches Gewissen zu entlasten, für die Naturkundler geöffnet. Früher einmal hatte eine Auffahrt durch die Bäume zu den Ställen hinter dem Herrenhaus geführt, doch der Weg war zugewachsen, und alles, was noch an die Zufahrt erinnerte, waren zwei abbröckelnde Pfeiler. Auf diesem Wege näherte sich dem Haus niemand mehr.
Brace ließ den Wagen in der Böschung neben einem der Pfeiler stehen, nahm Mary-Frances’ Hand und führte sie durch den Wald. Einige Bäume waren schon über und über mit weißen Blüten bedeckt, die durch die Schatten hindurchleuchteten. Im milchigen Licht der Dämmerung hatte er zur Begleitung eines Chors aus zwitschernden Vogelstimmen mit ihr geschlafen. Sie hatte ihn eingefangen, und er wusste nun, wie die kleinen Vögel in den feinen Maschen der Netze sich fühlen mussten. In diesem Augenblick konnte er sich ein Leben ohne sie nicht mehr vorstellen. Bald danach war Mary-Frances Lascuola verschwunden.