Von seinem Rollstuhl aus behielt John die Tür im Auge und überlegte, wen sie wohl heute angeschleppt hatten, um vor ihnen zu sprechen. Ein Krankenpfleger brachte einen Becher Tee und stellte ihn neben ihm auf den Boden, obwohl er doch bemerkt haben musste, dass John ihn unmöglich erreichen konnte. John erwog kurz, den Pfleger anzubrüllen, er solle wenigstens ein bisschen Respekt zeigen, kam dann aber zu dem Schluss, dass es die Mühe nicht wert war. Weil Besuch erwartet wurde, stand ein Teller mit Schokoladenkeksen im Büro des Kaplans, aber die würden erst nach dem Vortrag verteilt. Die Belohnung gab es nur, wenn alle sich gut benahmen. Sie saßen in der Kapelle im Halbkreis, eine Gruppe älterer Männer, alle mit den gleichen grauen Gesichtern und den gleichen schlechtsitzenden Klamotten, und John fragte sich, wie es nur dazu hatte kommen können. Er gehörte nicht an diesen Ort. Als er damals hergebracht wurde, hatte die Wut ihn schier zerfressen, eine Wut, die ihn nachts hatte wach liegen lassen, den Kopf voller Rachepläne und Vergeltungsphantasien. Doch die tägliche Routine brachte ihn schließlich zur Ruhe, und mittlerweile lebte er von Mahlzeit zu Mahlzeit und fühlte sich die meiste Zeit über wie betäubt. Als würde er seine Tage in einem ziellosen Halbschlaf verdämmern und nur darauf warten, dass diese Episode endlich vorüber wäre und das Leben wieder anfinge, mit all den kleinen, gelegentlichen Augenblicken der Freude, derentwegen es sich zu leben lohnte. Früher hatte er sich auf diese Vorträge gefreut, sie unterbrachen die Langeweile des Alltags in seinem Trakt. Nun aber hasste er sie, weil sie ihn ans Leben draußen erinnerten.
Die Männer um ihn herum plauderten miteinander, doch ihre Stimmen spülten über ihn hinweg, und trotz des Lärms im Hintergrund hörte er die Ankunft des Besuchs vor allen anderen. Das Geräusch des Schlüssels im Schloss am anderen Ende des Flurs, der mächtige Glockenton, mit dem das Tor sich öffnete und wieder geschlossen wurde, und das leise Klirren, mit dem die Schlüssel zurück in die Gürteltasche gesteckt wurden. Früher war er selbst einmal der Besucher gewesen, den man durch die Tür geführt hatte, aber das war schon so lange her, dass er das Gefühl hatte, sich an einen ganz anderen Menschen zu erinnern. Oder an eine Figur aus einer Geschichte. Nun vernahm er Schritte auf dem frischgeputzten Linoleum, dann wurden die Schlüssel wieder hervorgezogen. Jetzt konnten auch die anderen Männer das Geräusch hören, und ein erwartungsvolles Murmeln hob an. Arme Irre. Jede Woche glauben sie, es würde jemand Interessantes kommen. Eine hübsche junge Frau vielleicht oder ein Anwalt, der eine Idee hat, wie er sie hier rausbringt. Ein Reporter, der ihnen ihre Geschichte abkauft und bereit ist, ein Vermögen dafür zu zahlen. Und jede Woche sind sie wieder enttäuscht.
Der Kaplan trat zuerst durch die Tür. Er wollte es immer allen recht machen, neigte zu nervösem Lachen und roch schlecht aus dem Mund. John hatte Ja-Sager wie den Kaplan in seinem Team gehabt und sich ihrer entledigt, sobald er damit durchkam. Ein Pfaffe musste hier eine ruhige Kugel schieben können, glaubte er. Im Gefängnis konnten einem die Zuhörer nicht weglaufen, und Menschen, die verzweifelt waren, konnte man dazu bringen, an alles zu glauben. Man brachte sie einfach mit Tee in Porzellanbechern und Schokoladenkeksen dazu, den Gottesdienst zu besuchen, und hörte sich die Geschichten von schwerer Kindheit und Unschuld an. Dann wurden sie schon fromm. Einige von ihnen meinten es wohl tatsächlich ernst, sie lasen in ihren Zellen selbst dann in der Bibel, wenn die Wärter nicht hinsahen, und gingen den Prügeleien auf den Fluren aus dem Weg. Aber John wäre jede Wette darauf eingegangen, dass das, wenn sie erst wieder draußen waren, nicht von Dauer sein würde.
Der Kaplan trat nun beiseite und ließ den Besuch ein, bevor er sich umdrehte, um die Tür wieder abzuschließen. Noch ehe John aufblickte, konnte er die Enttäuschung der wartenden Männer spüren. Der Besuch besaß offenbar nichts, was ihr Interesse weckte. Besaß keinen Glanz, der einen Hauch Farbe in ihre grauen Leben hätte bringen können. Kein junges Ding in engen Jeans und einem knappen Oberteil. Kein gut aussehender junger Mann für diejenigen, die andersrum waren. Er drehte den Rollstuhl so, dass er an den Männern vorbeischauen konnte, die ihre Aufmerksamkeit bereits wieder den jeweiligen Nachbarn zugewandt hatten. Die Frau stand gleich neben der Tür in einem Fleck farbigen Lichts; die Sonnenstrahlen, die durch das einzige Buntglasfenster fielen, ließen es aussehen, als stünde sie in einer Pfütze aus rotem Wasser. Sie war korpulent und trug ein zeltartiges, über und über mit violetten Blumen bedrucktes Kleid, jedoch keine Strumpfhose. Die Füße steckten in der Sorte Sandalen, die Wanderer und Kletterer trugen. Allein an der Art, wie sie dastand und ihrerseits die Männer anstarrte, erkannte er, dass dies der letzte Ort auf Erden war, an dem sie sein wollte. Sie war ungeduldig und wünschte sich, dass es bereits vorbei wäre.
Und da regte sich etwas in seinem Gedächtnis. Es war die Art, wie sie dastand, breitbeinig, als bräuchte es ein Räumfahrzeug, um sie vom Fleck zu bewegen; es waren diese braunen Knopfaugen, mit denen sie den Raum scannte. Auf einmal war er wieder in einem Haus in den Bergen und trank Whisky. Hier saß er, eingehüllt in den Geruch nach Zwiebeln und Desinfektionsmitteln, der jeden Winkel der Haftanstalt durchdrang, und konnte doch den Torf im Whisky schmecken und die Wärme des Feuers auf dem Gesicht spüren. Er konnte sich an eine mit Freunden geteilte Leidenschaft erinnern, die ihn seinen Job gekostet und schließlich an diesen verdammten Ort gebracht hatte, weit weg von einem der wenigen Menschen, die ihn je gebraucht hatten. Natürlich hatte er die Frau seitdem wiedergesehen, aber dies war die Erinnerung, die sich ihm eingeprägt hatte. Und da wehte ihn kurz eine Hoffnung an, der Gedanke an eine Möglichkeit zu entkommen. Dass diese Frau hier auftauchte, grenzte an ein Wunder. Er war nicht gläubig, doch gelegentlich, hier in der Kapelle, hatte er um göttliches Eingreifen gebetet, und nun waren seine Gebete offenbar erhört worden. Denn diese Frau war Vera Stanhope. Hectors Tochter, die bei der Polizei arbeitete. Und er besaß Informationen, die er ihr anbieten konnte.