Kapitel achtundzwanzig

Früh am nächsten Morgen drängte das gesamte Team in die Einsatzzentrale. Vera, die an der Tür stand und wartete, bis alle einen Platz gefunden hatten, verspürte einen Anflug von Panik und Klaustrophobie, nicht nur weil der Raum so überfüllt war, sondern vor allem weil sie das Gefühl hatte, in der Flut der Neuigkeiten zu ertrinken, und dabei war noch so entsetzlich viel zu tun. Watkins saß ihr im Nacken, er verlangte Antworten, die sie ihm nicht geben konnte. Sie wurde den Eindruck nicht los, dass er sich ihr Scheitern geradezu wünschte.

Noch immer suchten sie nach Robbie Marshalls Verbindungen und Bekannten, und jetzt mussten sie sich auch noch um die Kunden und Freunde von Gary Keane kümmern. Inzwischen hatten sie Beamte aus der ganzen Region hinzugezogen, allerdings würde es eine Weile dauern, bis die Neuen sich als nützlich erweisen konnten. Zunächst

«Können wir kurz miteinander reden, bevor wir anfangen?» Er wirkte nervös, als läge ihm etwas Unangenehmes auf der Seele.

Sie blickte auf ihre Uhr. Noch fünf Minuten. «Wenn’s wirklich kurz ist.»

«Ich wollte Sie nur darüber in Kenntnis setzen, dass Gary einmal etwas für Ihren Vater erledigt hat. Er hat seine Quittungen jahrzehntelang aufgehoben, und da ist auch eine Rechnung an Ihren Vater darunter. Ich habe mich gestern noch kurz in Keanes Büro umgesehen.»

«Aus welchem Jahr denn?»

«1993, also bevor Robbie Marshall verschwunden ist.»

Vera versuchte, sich daran zu erinnern, was sie in jenem Jahr gemacht hatte. Da war sie Anfang dreißig gewesen und bemüht, sich einen Namen als Detective Constable zu machen. Damals war Hector körperlich noch fit gewesen, nur das rote Gesicht und sein hitziges Temperament deuteten auf die Herzprobleme hin, die er später bekommen sollte.

«Glauben Sie, Ihr Vater hat Keane irgendwas installieren lassen? Ein Sicherheitssystem fürs Haus vielleicht? Damals hatten noch nicht viele einen Computer daheim.»

Natürlich wollte Joe Ashworth ihr nur helfen, dennoch ärgerte es sie, dass er sie aus ihren Gedanken riss. Am liebsten hätte sie noch etwas in jenem Jahr verweilt, bei dieser jüngeren Ausgabe ihrer selbst, die das ganze Arbeitsleben noch vor sich hatte. Sie wollte nicht zurück zu der Frau, die sie heute war, alt und fast verbraucht, mit einem Widerling als Vorgesetztem, dem sie Rapport erstatten musste.

Sie glaubte, dass Hector Gary durchaus engagiert haben könnte, allerdings viel eher um ein Sicherheitssystem zu deaktivieren, nicht zu installieren. Damals hatte sie ihren Vater in Verdacht gehabt, aus einer bekannten Brutstätte in den schottischen Highlands Fischadlereier zu stehlen. Die Royal Society for the Protection of Birds hatte eine Kamera installiert, und es gab Ranger, die das Gelände überwachten, doch die Eier verschwanden trotzdem.

«Da wäre noch was.»

«Nur zu.» Ein Grüppchen Verspäteter schob sich an ihr vorbei in die Einsatzzentrale. Diejenigen, die schon früh gekommen waren und warteten, wurden langsam unruhig. Ihr war klar, dass sie bald mit der Besprechung anfangen musste.

«Auf Keanes AB war eine Nachricht vom Professor. Oder zumindest von jemandem, der sich so nannte. Ich habe die Nachricht mit dem Handy aufgenommen. Damit hätten wir eine weitere Verbindung zwischen Keane und den beiden Leichen.»

«Und ob!» Jetzt wusste sie, was als Nächstes zu tun war. Vor allem anderen mussten sie diesen geheimnisvollen Mann ausfindig machen, der einmal zu Hectors Freunden gezählt hatte und just in dem Moment wieder aufgetaucht war, als Gary Keane erstochen wurde.

 

Joe spielte die Aufnahme am Ende der Besprechung vor. Vera hatte gehofft, die Stimme sofort wiederzuerkennen. Immerhin war es möglich, dass sie diesem Mann schon

«Irgendwie kommt mir die Stimme bekannt vor», meinte Joe, «aber so aus dem Zusammenhang gerissen kann ich mich einfach nicht erinnern, wo ich sie schon mal gehört haben könnte.»

Vera kannte die Stimme nicht; sie hatte nicht einmal das dunkle Gefühl, sie irgendwo schon mal gehört zu haben. Der Anrufer sprach das leicht angestaubte Englisch, das ältere Politiker der Tories und Nachrichtensprecher längst vergangener Zeiten gepflegt hatten. Sie war sich nicht sicher, ob heutzutage überhaupt noch jemand ernsthaft so sprach. Vielleicht hatte der Anrufer die gerundeten Vokale absichtlich übertrieben, um Keane einzuschüchtern. Vielleicht lag in seiner Aussprache ja sogar eine leichte Selbstparodie. Den Gedanken, Sinclair könnte der Professor sein, konnten sie allerdings verwerfen. Sinclairs Stimme war heller, und selbst wenn es ihm gelungen wäre, den Akzent zu imitieren, hätte es doch vollkommen anders geklungen.

«Die Jungs von der Technik sollen aus dem Telefon alles rausholen, was sie können, und zwar zack, zack», sagte Vera. «Es sollte uns doch möglich sein, die Nummer des Anrufers rauszukriegen, und dann wissen wir auch, wie er heißt.» Ihr fiel auf, dass sich in diesem Fall bislang eine Menge um Identitäten drehte. So hatten sie das weibliche Opfer aus dem Abwasserrohr noch immer nicht identifiziert. Dafür, dass es Mary-Frances Lascuola war, gab es keinen Beweis. Und jetzt versuchten sie, einen Verdächtigen aufzuspüren, von dem sie nichts als einen Spitznamen kannten. Mit Worten der Ermunterung, die selbst in ihren eigenen

«Mann, das war echt schnell.» Vera war beeindruckt. «Treten Sie nebenberuflich als Zauberer auf?»

Er schaute leicht betreten drein und meinte, dass er mal mit der Leiterin der Kantine ausgegangen sei.

«Mutige Frau!» Doch Vera freute sich für Charlie. Nachdem seine Frau ihn verlassen hatte, war er regelrecht abgestürzt; in diesen Tagen aber wirkte er so munter wie seit Ewigkeiten nicht mehr.

Wie Vera schon vermutet hatte, hatte Holly bei den Haus-zu-Haus-Befragungen am Vorabend nicht viel Erfolg gehabt.

«Das Café neben Keanes Laden hat jetzt offen», sagte Joe. «Vielleicht haben die Mädels da ja jemanden gesehen, der in die Wohnung oder den Laden gegangen ist. Als ich gestern Abend in Bebington eintraf, hatte es noch geöffnet.»

«Dann fahren Sie noch mal in die Anchor Lane, Holly. Nach der ganzen Zeit vorm Computer müssen Sie auch mal raus an die frische Luft. Konzentrieren Sie sich auf die Geschäfte und das Café. Die Händler kennen sich bestimmt untereinander und hätten einen Fremden sicher bemerkt. Fragen Sie vor allem nach dem frühen Abend, als sie die Läden dichtgemacht haben.» Vera überlegte. «Charlie, wir müssen unbedingt unsere beiden geheimnisvollen Unbekannten identifizieren – die weibliche Leiche und diesen Typen, der sich Professor nennt. Das wird ja langsam lächerlich. Wenn unsere Freunde von der Presse

«Und was soll ich tun?» Offenbar nahm Joe es ihr übel, dass er der Letzte auf der Liste war. Vera wollte fast schon vorschlagen, dass er sie begleiten solle – nichts tat sie lieber, als gemeinsam mit ihm eine Spur zu verfolgen –, aber er konnte seine Zeit besser nutzen.

«Sie verschaffen sich einen Überblick über den ganzen technischen Kram. Da gibt es bestimmt einiges auf Keanes Computer: seine Geschäftskontakte, private E-Mails. Ich überlasse es Ihnen, zu entscheiden, was wichtig genug ist, um weiterverfolgt zu werden. Setzen Sie die Prioritäten selbst, aber wie ich schon in der Besprechung sagte, ganz oben steht natürlich, die Nummer rauszukriegen, von der aus der Professor angerufen und Keane diese Nachricht auf Band gesprochen hat.» Vera beglückte nacheinander jedes Mitglied ihres Teams mit einem Lächeln, wie der Scheinwerferstrahl eines Leuchtturms. «Der Erste, der mir sagen kann, wie er heißt, bekommt eine Flasche ganz besonderen Single Malt von mir.» Dann begann sie, ihre Unterlagen zusammenzusammeln. «Falls mich jemand brauchen sollte,

Sie stolzierte aus der Einsatzzentrale und schaffte es gerade noch in ihr Büro, wo sie die Tür hinter sich schloss und die nächste Panikattacke anrollen fühlte. Ein Mangel an Selbstvertrauen, als täte sich ein Schacht unter ihren Füßen auf und sie verlöre jeden festen Untergrund; und dann wäre da nichts mehr als der heftige Luftzug, mit dem sie ins sichere Verderben rauschte. Diese Ermittlungen waren ein einziges Verwirrspiel, nichts war eindeutig, und das machte ihr zu schaffen. Nirgends ein geradliniges Muster, nichts, woran man sich festhalten konnte. Stattdessen setzte sie sich an den Schreibtisch und hielt sich daran fest, wobei sie sich sagte, dass sie nichts anderes tun konnte, als weiterzuarbeiten, bis diese ganze Geschichte endlich ein wenig klarer wurde.

Als sie beim Projektbüro für die Neugestaltung von Whitley Bay anrief, wurde sofort abgenommen, und sie erkannte Sinclairs weichen schottischen Akzent. Mit etwas Glück hieß das, dass Elaine jetzt allein in diesem sündhaft teuren Apartment in Tynemouth am Meer sein würde. Ohne ein Wort zu sagen, legte Vera den Hörer wieder auf und machte sich auf den Weg.

 

Die Sinclairs wohnten im obersten Apartment einer Anlage im viktorianischen Stil, die einen sanften Bogen um einen privaten Kurgarten beschrieb und aufs Meer hinausging. Die Parkplätze waren für die Bewohner reserviert, weshalb Vera den Land Rover an der Landspitze stehen ließ und zu Fuß am Bootsclub und der alten Abtei entlangspazierte. Sie genoss die Bewegung im Sonnenschein und versuchte, den

«Wer ist da?» Die Frau klang vergnügt und nicht im mindesten argwöhnisch.

«Mein Name ist Vera Stanhope.» Ein Räuspern. «Ich bin die Tochter von Hector. Ich komme wegen der Leichen, die draußen bei St. Mary’s Island gefunden wurden.»

Eine Sekunde lang blieb es still. «Sie kommen besser hoch. Oberste Etage. Ich hoffe, die Treppen machen Ihnen nichts aus.» Dann das Klicken, mit dem sich die Haustür automatisch öffnete.

Elaine wartete in der Tür des Apartments. Darauf hätte Vera gut verzichten können. Nun war sie gleich bei ihrem ersten Aufeinandertreffen deutlich im Nachteil: Nach dem Marsch durch den Ort und dem Erklimmen der Treppen schnaufte und schwitzte sie und rang nach Luft. Im Gegensatz dazu sah Elaine regelrecht teuer aus. Das war Veras erster Gedanke. Und sie war gut gealtert. Die Haare dezent getönt und in Locken gelegt. Sie trug ein Blumenkleid, das ihren Kurven schmeichelte, und dazu eine kurze rosa Strickjacke, die die Aufmerksamkeit vom Bauchspeck und den breiten Hüften ablenkte. Dazu jede Menge Gold: dicke Ketten um den Hals und Armreifen an den Handgelenken. Ringe an den meisten Fingern. Goldene Sandalen, die im der Strickjacke entsprechenden Rosa lackierte Zehennägel offenbarten. Das alles ließ Vera Elaine als Vertreterin einer ganz anderen Spezies betrachten. Sie selbst war sich nicht

Elaine trat beiseite, um Vera ins Apartment zu lassen. Durch einen schmalen, ziemlich dunklen Flur ging es ins Wohnzimmer, wo sich das Sonnenlicht durch hohe Fenster auf den gebohnerten Holzboden ergoss. Auch wenn Elaine immer noch für protzigen Schmuck schwärmte, hatte sie trotz ihrer gewöhnlichen Herkunft im Lauf der Jahre anscheinend doch einen gewissen Geschmack entwickelt.

«Was für eine wundervolle Wohnung.» Ohne auf die Aufforderung, doch bitte Platz zu nehmen, zu warten, brach Vera auf einem mit grün-blau gemustertem Stoff bezogenen Sofa zusammen. «Wann sind Sie hier eingezogen?»

«Gleich nach unserer Rückkehr aus Glasgow. Als Gus’ Vater starb, hat er uns etwas Geld hinterlassen. Ich wollte immer zurück in den Nordosten.» Elaine war schlau genug, um zu wissen, dass Vera ihre Vergangenheit recherchiert hatte, detaillierte Erklärungen waren also nicht nötig. Ohne Tee oder Kaffee anzubieten, setzte sie sich Vera gegenüber. Sie war lang genug mit Sinclair zusammen, um die Polizei als den Feind zu betrachten. «Dann sind Sie also immer noch bei der Truppe? Hector glaubte nie, dass Sie dabeibleiben.»

Was Vera ignorierte. «Wir sind ziemlich sicher, dass Robbie Marshall einer der Toten von St. Mary’s Island ist.»

Elaine schien kurz zu erwägen, ob sie so tun sollte, als würde sie den Namen nicht kennen, dann aber blickte sie Vera in die Augen und überlegte es sich anders. «Aha, ich hatte mich schon gefragt.»

«Sie waren damals eine Zeitlang mit ihm zusammen.»

«War Robbie Marshall schwul?»

«Vielleicht. Aber wenn, hat er es sich, glaube ich, nie eingestanden. Das waren andere Zeiten damals. Und ich bin mir nicht mal sicher, ob er überhaupt großes Interesse an Sex hatte. Der einzige Mensch, den er wirklich liebte, war seine Mutter. Ihr lag er geradezu zu Füßen. Ansonsten hatte er eher was von einem Eisklotz. Nur unsere gefiederten Freunde mochte er, die kamen bei ihm gleich an zweiter Stelle.» Sie sah Vera kurz an. «Nicht wie Hector. Für den kamen die Vögel immer an erster Stelle. Ich habe mich oft gefragt, wie Sie sich dabei gefühlt haben müssen.»

«Als Sie Robbie kennenlernten, war er da bei Swan Hunter’s beschäftigt?» Das Thema Hector machte Vera Angst. Sie spürte, wie die Panik zurückkehrte. Aber auf keinen Fall ließ sie zu, dass Elaine das erkannte und ausnutzte.

«Ja, das stimmt.» Elaine lachte leise. «Er war der Leiter der Beschaffungsstelle. Das war genau das Richtige für ihn. Robbie konnte jedem alles beschaffen. Das konnte ihn ebenso in Begeisterung versetzen wie eine neu entdeckte Vogelart.»

Eine Information, die Vera innerlich abspeicherte. «Sie arbeiteten doch damals im Seagull. Lernten Sie Gus über den Club kennen?»

Darauf wette ich. Und zwar in Tyneside und in Glasgow. «Aber Sie kümmerten sich ums Personal?»

«Klingt bedeutender, als es war.» Wieder lachte Elaine.

Vera hatte den Eindruck, dass sie ziemlich oft lachte. Aber vielleicht tat man das ja, wenn man sonst keine Sorgen hatte außer Nägellackieren und Klamottenkaufen, wenn man in einem tollen Apartment mit Meerblick wohnte. «Das Personal einstellen und rausschmeißen, das machten Sie?»

«Ja. Nachdem ich eine Weile für den Club gearbeitet hatte, vertraute Gus auf mein Urteil.»

«Mary-Frances Lascuola …»

«Was ist mit ihr?»

«Sie arbeitete im Seagull.»

Elaine blickte hinaus aufs Meer. «Ich erinnere mich an sie. Aber das war noch vor Robbies Verschwinden. Bestimmt ein paar Jahre davor. Wir haben sie eingestellt, um John Brace einen Gefallen zu tun. Er sagte, sie hätte ihr Leben wieder auf die Reihe gebracht und wir sollten ihr eine Chance geben.» Nun wanderte ihr Blick zurück zu Vera. «John Brace kennen Sie ja. Gehört zu Ihrem Haufen.»

Vera nickte knapp. «Und hatte Mary-Frances ihr Leben wirklich wieder auf die Reihe gebracht?»

«Eine Zeitlang ging alles gut. Ich gab ihr einen Job im Restaurant, als Kellnerin. Die Arbeit machte ihr Spaß, und sie

«Wissen Sie, wo sie hingegangen ist?»

Elaine zuckte die Achseln. «Zurück auf die Straße, nehme ich an. Da sind am Ende die meisten gelandet. Zu stolz, um Geschirr abzuwaschen, aber nicht zu stolz, um den eigenen Körper zu verkaufen.»

«Und wie hat Brace darauf reagiert?» Immerhin war Mary-Frances Patty zufolge die Liebe seines Lebens.

«Was sollte er schon machen? Es war ja nicht Gus’ Fehler, dass John Brace einer Drogensüchtigen mit komischem Namen verfallen war.»

Im Schweigen, das folgte, glaubte Vera die Wellen zu hören, die sich unten am Strand brachen. «Gehörte der Professor nicht auch zu dem ganzen Haufen?»

«Wer? Ich kann nicht behaupten, mich an jemanden dieses Namens zu erinnern.» Doch einen winzigen Moment lang hatte sie gezögert, und um die Augen herum erschien plötzlich ein wachsamer Ausdruck, der Vera verriet, dass Elaine definitiv schon vom Professor gehört hatte.

«Was ist mit einem jungen Kerl namens Gary Keane? Sagt der Ihnen was?» Bis jetzt war es ihnen gelungen, Keanes Namen aus den Nachrichten herauszuhalten. In der Lokalpresse war nur sehr allgemein über das Verbrechen berichtet worden. In der Pressemitteilung hatte nicht einmal gestanden, dass das Opfer tot war. Eine Messerstecherei in Bebington war zwar nicht unbedingt alltäglich, aber dann

«Ja!» Offenbar machte es Elaine viel weniger aus, über Keane zu reden. «Gary war ein Computerfreak, noch bevor es den Ausdruck überhaupt gab.» Sie lächelte. «Aber wenn man ihn in unangenehme Situationen brachte, konnte er höllisch aus der Haut fahren.»

«Wollte Mr. Sinclair Keane auch einstellen? So wie Mary-Frances?»

«Keane war nicht bei uns angestellt – ich glaube, er war selbständig –, aber hin und wieder brachte Gus ihn mit, damit er ein paar Arbeiten für uns erledigte. Meistens ging es um Sicherheitssysteme. Im Seagull gab es eine Menge teures Inventar, deshalb brauchten wir eine anständige Alarmanlage.»

«Gary hat später einen eigenen Computerladen aufgemacht.»

«Ach ja?» Als wäre es ihr vollkommen egal, was aus dem Mann geworden war. «Das ist alles schon so lange her.»

«Hat Mr. Sinclair nach Ihrer Rückkehr nach Tyneside den Kontakt zu Keane wieder aufgenommen?»

«Nein, ich glaube nicht.» Es gelang Elaine, einen Hauch von Überraschung in ihre Stimme zu legen. «Warum auch? Gus ist zu einem kultivierten Privatier geworden.»

«Das Projekt für die Neugestaltung von Whitley Bay scheint einen Großteil seiner Zeit zu beanspruchen.»

«Das macht er aus Liebe zur Sache», sagte Elaine. «Gus sehnt sich danach, Whitley Bay wieder aufblühen zu sehen. Ein finanzielles Interesse an dem Projekt hat er im Grunde nicht.»

«Ach, dafür ist ein Konsortium zuständig. Gus hat da nur einen winzigen Anteil dran und überlässt die Einzelheiten den anderen. Er liebte den Club so sehr, dass ein Teil von ihm den Gedanken nicht ertragen kann, dass da einmal etwas anderes stehen soll. Für die Neubebauung kann er nicht die geringste Begeisterung aufbringen.»

Vera blickte aus dem hohen, eleganten Fenster hinaus gen Norden. Sie konnte St. Mary’s Island sehen, doch die Promenade, an der Sinclairs berühmter Club einst gestanden hatte, lag in der Biegung der Bucht verborgen. «Vielleicht könnte Ihr Mann den Seagull ja wieder aufbauen», meinte sie. «Dann könnte er ihn The Phoenix nennen, wiederauferstanden aus der Asche.»

«Die Zeiten für derartige Clubs sind längst vorbei.» Das kam munter heraus. Elaine hegte offenbar keine sentimentalen Erinnerungen. «Davon abgesehen besitzt er, wie gesagt, nur einen winzigen Anteil. Die Entscheidungen, was mit dem Grundstück passiert, treffen jetzt andere.»

Vera wandte sich vom Fenster ab. «Sie müssen doch wissen, was damals passiert ist, in der Nacht, als der Club abbrannte. Zumindest haben Sie doch bestimmt eine Vermutung.»

Elaine lächelte unbefangen und schüttelte den Kopf. «Die Brandmeister wollten sich auf nichts festlegen. Es könnte ein Kurzschluss gewesen sein, aber sie meinten auch, dass sie Brandstiftung nicht ausschließen könnten. Gus hatte sich in der Stadt einige Feinde gemacht.»

«Gary Keane kümmerte sich bei Ihnen doch um die Elektrik, oder?»

Darauf gab Vera keine Antwort. «Wussten Sie, dass er später die Tochter von John Brace geheiratet hat?»

Elaine schien kurz zu überlegen, was sie sagen sollte. «Ich glaube, ich habe davon gehört.»

«Das Mädchen ist die Tochter von Mary-Frances.»

«Ja, das Gerücht kam mir auch zu Ohren.»

Einige Minuten lang saßen sie sich schweigend gegenüber, dann verspürte Vera eine plötzliche Ungeduld. Dieses ganze Wortgeplänkel war doch reinste Zeitverschwendung. «Gary Keane ist tot. Er wurde gestern am frühen Abend in seinem Apartment in Bebington erstochen.»

«Nein!» Die Reaktion wirkte echt und aufrichtig, ein unverstellter Schock.

«Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?»

Elaine zuckte die Achseln. «Ich habe ihn nicht mehr gesehen, seit wir nach Glasgow gezogen sind.»

«Seit der Seagull abbrannte?»

«Ja, genau.» Elaine überlegte. «Ich wusste nie so recht, was ich von Gary halten sollte. Er war irgendwie komisch. Kam mit seinem Elektrokram besser aus als mit Menschen, hatte ich den Eindruck, auch wenn er sehr charmant sein konnte, wenn er wollte. Er war wie eine dieser Echsen, die ihre Farbe wechseln, je nachdem, worauf sie gerade sitzen. Für jeden war er jemand anders.»

«Was ist mit Angus? Hat er Keane kürzlich noch gesehen?»

«Das weiß ich nicht», erwiderte Elaine. «Falls ja, hat er mir jedenfalls nichts gesagt.»

«Scheint schon ein komischer Zufall zu sein.» Vera hievte

Auch Elaine stand jetzt auf. Ihre Armreifen und Halsketten klirrten. In ihrer Anspannung musste Vera an Handschellen und die Schlinge des Henkers denken.