Das Team hatte sich in Veras Haus versammelt. Sie saßen um denselben Tisch herum, auf dem Hector einst Vögel und kleine Wildtiere ausgestopft hatte. Auf dem Revier hatte eine offizielle Besprechung stattgefunden, und Holly hatte Mühe gehabt, mit all den Neuigkeiten, die dabei präsentiert wurden, Schritt zu halten. Am Ende hatte sie auf Stift und Papier zurückgegriffen, um ihre Linien und Verbindungen zu ziehen, und trotzdem noch das Gefühl gehabt, vieles nicht mitzubekommen. Vera war den ganzen Nachmittag über unterwegs gewesen und in merkwürdiger Stimmung ins Büro zurückgekehrt. Abgelenkt. Als Holly zögernd fragte, ob alles in Ordnung sei, hatte die Chefin, anstatt wie üblich eine schroffe Antwort zu geben, bloß gelächelt und gesagt: «Ach, Herzchen, ich habe nur einen Ausflug in die Vergangenheit gemacht. Ist nicht immer so besonders schön da.»
Im Büro hatten sie auch schon damit begonnen, die Akten, die Joe bei Eleanor entdeckt hatte, auszuwerten, aber das war frustrierend gewesen; jeder Fund hatte neue Fragen aufgeworfen, statt Antworten zu liefern. Joe hatte über die Einzelheiten nicht sprechen wollen – er meinte, sie sollten alles bis zum nächsten Morgen liegenlassen, wo sie sich dann mit frischer Kraft darauf stürzen könnten –, und Vera hatte unsicher und unkonzentriert gewirkt. Schließlich hatte sie das Kernteam zu sich nach Hause eingeladen. «Wenn ich nicht mehr im Büro bin und erst mal ein paar Flaschen Bier intus habe, kann ich die Dinge bestimmt klarer sehen.» Und so saßen sie jetzt in dem Haus in den Bergen, Veras persönliche Viererbande, und vor ihnen auf dem Tisch lagen Fotokopien von Robbie Marshalls Kontoauszügen ausgebreitet. Vera trank ihr Bier direkt aus der Flasche und hatte den anderen, die ihr Angebot mitzutrinken ausgeschlagen hatten, einen überraschend guten Kaffee gemacht. Ganz oben auf den Papieren lag eine aufgerissene Packung Schokoladenkekse.
Bier und Schokolade hatten Vera offenbar einen frischen Energieschub verschafft und ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Fall gelenkt.
«Nun, Joe, was haben Sie herausgefunden? Irgendwelche Schlussfolgerungen müssen Sie doch gezogen haben. Immerhin haben Sie das ganze Zeugs schon in Eleanors Haus gelesen. Ich hätte gern ein paar konkrete Überlegungen, wie die finanziellen Verbindungen zwischen Brace, Marshall und dem Professor und Gus Sinclair ausgesehen haben könnten. Auch wenn wir wissen, dass sie ab und zu miteinander gefeiert haben, muss da doch noch mehr dahintergesteckt haben. Heute kam mir zu Ohren, dass Sinclair sich beim Landadel eingeschlichen hat, vielleicht hat er damals ja an Brace’ Geschäft, dem niederen Adel Schlägertypen zu vermitteln, teilgehabt. Ist aber natürlich unmöglich zu beweisen.»
Joe rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl hin und her. Holly überlegte, was das zu bedeuten hatte. Joe war doch Veras Liebling und hatte nichts von ihr zu befürchten.
«Auf Marshalls Konto wurde regelmäßig eine hübsche Summe eingezahlt. Die Buchung war nur mit einer Referenznummer gekennzeichnet, aber die hat unser Finanzspezialist bereits entschlüsselt. Sie kam vom Geschäftskonto des Seagull.»
«Was schließen wir daraus?» Vera blickte sich in der Runde um. «Waren Marshall und Sinclair Geschäftspartner, und diese Zahlung war Marshalls Rendite, sein Anteil an den Gewinnen?»
Charlie besah sich eine Kopie des Kontoauszugs. «Ich glaube nicht, dass der Seagull je so hohe Gewinne abwarf.»
«Aber was war es dann?» Vera klang jetzt aufgeregt. Beinahe wie ein junges Mädchen. In dieser Stimmung, fand Holly, sah sie mindestens zehn Jahre jünger aus. «Eine feste Vorauszahlung für Dienste auf Abruf?»
«Möglich wär’s», meinte Charlie und trank seinen Kaffee aus. «Wir wissen aber auch, dass Marshall alles Mögliche regeln konnte. Einen reibungslosen Ablauf des Sinclair’schen Geschäftsimperiums zu gewährleisten war bestimmt nicht ganz billig. Da mussten Cops bestochen werden. Stadträte. Vielleicht waren das die Dienste, die Marshall für Sinclair erbrachte, und die Gelder eine Art Schmiergeldfonds, aus dem Marshall die Leute bezahlen sollte.»
Eine Zeitlang schwiegen alle und warteten auf Veras Reaktion. «Das wäre durchaus vorstellbar», sagte sie schließlich. «Allerdings wüsste ich nicht, wo da das Motiv für den Mord an Robbie Marshall liegen sollte.»
«Außer er hat Sinclair abgezockt.» Holly wollte zeigen, dass sie auch noch da war. «Und das ganze Geld für sich behalten.»
«Aye, vielleicht.» Doch Vera klang nicht überzeugt. «Ich weiß nur nicht recht, ob Marshall so etwas gemacht hätte. Er hatte Spaß daran, Dinge in die Tat umzusetzen und bei denen mitzumischen, die etwas zu sagen hatten. Ich glaube, das verschaffte ihm einen größeren Kick als das Geld. Wie Charlie schon sagte, er konnte alles Mögliche regeln. Dafür war er bekannt.» Sie trank einen Schluck Bier. «Könnte nicht schaden, ein paar von den Leuten, die Marshall in Sinclairs Auftrag ausbezahlte, aufzustöbern. Mal schauen, ob die Theorie der Realität standhält. Fällt Ihnen da jemand ein, Charlie? Irgendein ehemaliger Beamter, der das Geld zwar genommen, nach all der Zeit aber vielleicht doch noch sein Gewissen entdeckt hat?»
Charlie nickte. «Aber die werden Sie nie dazu bringen, offiziell auszusagen. Dass Brace im Gefängnis sitzt, hat denen allen einen Schrecken eingejagt.»
«Mann, im Moment brauche ich vor allem Informationen. Und keine Gerechtigkeit.»
Wieder nickte Charlie.
Vera fuhr fort. «Ich frage mich, ob Sinclair heute noch mit denselben Methoden arbeitet. Ob er jetzt jemand anderen hat, der die Drecksarbeit für ihn macht und die Stadtplaner und Ratsmitglieder schmiert, damit sie ihn sein schönes neues Whitley Bay bauen lassen. Meinem Nachbarn zufolge kauft er gerade die halbe Stadt auf und vermietet sie, als Kapitalanlage. Und das zusätzlich zu dem Bauvorhaben auf dem alten Grundstück vom Seagull.»
«Sie denken, dass er Gary Keane dafür angeheuert haben könnte, oder?» Joe war bislang weitgehend still geblieben, er hatte zugehört, dabei aber ins Feuer gestarrt. Jetzt wandte er sich der Gruppe um den Tisch wieder zu.
«Das ergibt doch Sinn, oder?» Veras Wangen waren vom Feuer ganz rot. «Wir sind davon ausgegangen, dass der Professor etwas mit dem Mord an Keane zu tun hat, weil er ihm auf dem AB die Nachricht hinterlassen hat, dass er ihn sehen will. Aber würde ein Mörder – ein, wie wir denken, intelligenter Mann – wirklich eine Nachricht hinterlassen, von der er weiß, dass wir sie finden? Davon abgesehen, was für ein Motiv sollte er haben? Aber wenn beide Handlanger von Sinclair gewaltsam zu Tode gekommen wären, das wäre doch eine merkwürdige Fügung.» Sie hielt inne, und Holly merkte, dass sie angestrengt nachdachte. «Holly, Sie haben doch mit Keanes Nachbarn gesprochen. Gab’s da irgendeinen Hinweis darauf, dass er etwas mit Sinclairs Machenschaften zu tun gehabt haben könnte? Mit seinem Geschäftsimperium oder diesen Neureichen, die so gern auf die Jagd gehen?»
«Nein, darauf hat nichts hingedeutet», erwiderte Holly. «Natürlich hatte er Ambitionen, aber die gingen eher in Richtung gebildeter Mann von Welt. Gutes Essen und guter Wein. Er ist sogar einer Buchgruppe beigetreten. Und ging mit einer deutlich jüngeren Frau aus. Sie heißt Felicity und ist die Tochter eines Buchhändlers.» Holly musste an Pattys Haus denken, das Chaos und die Kinder. «Ich hatte eher den Eindruck, dass er versuchte, ein anderer Mensch zu werden.»
«Dann hat ja vielleicht er Sinclair abgezockt. Um seinen neuen Lebensstil zu finanzieren. Allerdings kam er mir nicht vor wie jemand, der alles möglich machen kann, so wie Marshall.» Gedankenverloren nahm Vera sich noch einen Keks. «Das könnte jedenfalls ein Motiv sein.»
«Und wie passt John Brace in diese Theorie?» Holly sah Veras Gesicht und sprach schnell weiter. «Damit will ich nicht sagen, dass die Theorie keinen Sinn ergibt, denn das tut sie. Ich möchte nur wissen, ob wir auch alle Teile zusammenfügen können.»
«Ach, Herzchen, manchmal fügen sich die Dinge eben nicht so einfach ineinander. Aber ich wette, dass John Brace Geld von Sinclair bekam, als der Seagull noch lief. Vermutlich über Marshall. Und ich glaube auch, dass er einen Haufen Geld beiseitegeschafft und irgendwo versteckt hat. Immerhin versorgt jemand Pattys Kinder mit Computerspielen und teuren Handys. Wir sollten rausfinden, ob er immer noch geschäftlich mit Sinclair und dessen Partnern verbunden ist. Vielleicht als Investor oder stiller Teilhaber. Und es könnten auch noch andere in die Sache verwickelt sein. Leute, die sicher nicht wollen, dass ihre Verbindung zu Sinclair, Brace oder Keane ans Licht kommt. Wir wissen, dass Brace im Gefängnis gelandet ist, weil er ländlichen Grundbesitzern Schlägertypen vermittelt hat. Zur Zeit des Gerichtsverfahrens wurde niemand sonst damit in Verbindung gebracht, aber er könnte durchaus ein paar von seinen Kollegen mit hineingezogen haben. Noch eine Aufgabe für Sie, Charlie.»
Vera kam ächzend auf die Beine und ging in die Küche, um Nachschub an Bier und Kaffee zu holen. Im Schweigen, das daraufhin entstand, warf Holly einen Blick auf ihr Handy, um zu sehen, ob sie E-Mails bekommen hatte. Kein Empfang. Sie war sich nicht mal sicher, ob Vera überhaupt WLAN hatte.
Da kam Vera auch schon wieder, nahm noch ein paar Kekse aus der Packung und redete weiter, als wäre sie nie weg gewesen.
«Gibt es sonst noch etwas zu besprechen? Oder sollten Sie sich jetzt mal alle vom Acker machen und mir meinen Schönheitsschlaf gönnen?»
«Da wäre noch was.» Das kam von Joe, mit leiser Stimme. «Eine regelmäßige Zahlung per Scheck an eine Privatperson.» Er zog die Kopie eines Auszugs hervor und unterstrich die betreffende Transaktion, bevor er das Blatt auf dem Tisch zu Vera hinüberschob.
Wütend blickte sie auf. «Warum haben Sie mir das nicht sofort gesagt?»
Wieder wand er sich auf seinem Stuhl. Ein kleiner Junge, den man beim Flunkern ertappt hatte. «Ich habe es schließlich auch nicht verheimlicht!»
«Dann hat Marshall Hector also fünfhundert Mäuse gezahlt. Könnte für ein ausgestopftes Tier gewesen sein. Oder Hectors Anteil am Verkauf gestohlener Raubvogeleier.» Plötzlich wirkten beide wie kleine Kinder, die auf dem Spielplatz miteinander rangelten, um die Ehre, um die Wahrung des Gesichts. Holly war peinlich berührt. Dies war keine Unterhaltung, die vor Publikum geführt werden sollte.
«Das war keine einmalige Zahlung», sagte Joe. «Ich habe mir auch die älteren Auszüge angesehen, und jeden Monat taucht ein Scheck über denselben Betrag auf.»
Stille breitete sich aus. Das Feuer sprühte Funken, und von draußen hörte man das entfernte Rumpeln eines Wagens, der den Weg zum benachbarten Hof hochkam.
«Das hat wahrscheinlich nichts zu bedeuten», meinte Joe dann. «Ist schon lange her.»
«Ich glaube, es bedeutet, dass Hector ein Gauner war.» Nun sah man Vera jeden Monat ihres Alters an. «Natürlich wusste ich das schon immer. Die Vögel und das Ausstopfen. Davon war nichts legal. Aber das hier bringt ihn mit Sinclair in Verbindung. Mit allem, was im Seagull abgelaufen ist. Mit Prostituierten wie Mary-Frances.»
«Es tut mir so leid.»
«Seien Sie nicht albern. Es ist ja nicht Ihr Fehler. Es ist meiner, weil ich trotz allem immer noch gut von ihm denken wollte.» Sie stand auf, trotz ihres Gewichts plötzlich sehr flink. «Sie gehen jetzt besser. Ich muss ins Bett.»
Draußen war es dunkel und klar. Mehr Sterne, als man in der Stadt je zu sehen bekam. Joe und Charlie fuhren zusammen zurück, aber Holly war mit dem eigenen Wagen gekommen. Sie blieb einen Augenblick stehen und sah den beiden nach. Das Licht in Veras Haus brannte noch, und die Vorhänge waren nicht zugezogen. Holly beobachtete, wie ihre Chefin sich zurück an Hectors Tisch setzte. Sie war versucht, noch einmal zum Haus zu gehen und Vera anzubieten, mit ihr über ihren Vater zu reden, doch ihr war klar, dass dieses Angebot nicht willkommen gewesen wäre.
Vera begann, sich die Unterlagen anzusehen, die vor ihr lagen. Dann schob sie sie wieder beiseite und stand auf, nahm ein Holzkästchen vom Kaminsims und öffnete es. Holly beobachtete, wie sie einen Packen Fotos herausnahm und sich anschaute, eins nach dem anderen. Dann musste sie die Aufnahme gefunden haben, nach der sie gesucht hatte, denn sie hielt inne und sah sie sich genau an. Holly stand zu weit entfernt, um erkennen zu können, was darauf abgebildet war, doch weil sie fürchtete, von Vera beim Herumschnüffeln ertappt zu werden, ging sie nicht näher an das Fenster heran. Schließlich legte Vera alle Fotos zurück in das Kästchen. Sie wollte sich noch einen Schokoladenkeks nehmen, doch die Packung war leer, und sie knüllte das Papier zu einer Kugel zusammen und warf sie ins Feuer.