Während Holly und Charlie sich auf der Jagd nach dem Professor auf den Weg nach Durham machten, blieb Vera an ihrem Schreibtisch sitzen und ließ die Gedanken durch die Zeiten wandern, in die Vergangenheit und wieder zurück. Sie hätte Hector niemals einen Mord zugetraut, doch inzwischen schlichen sich Zweifel und Verdachtsmomente in ihren Verstand, wie Efeuwurzeln, die sich durch eine Mauer gruben. Heimlich und unbemerkt zunächst, waren sie bald überall und konnten nicht mehr ignoriert oder ausgerissen werden.

Sie nahm den Telefonhörer auf und wählte die Handynummer von Judith Brace. Judith ging sofort dran. Im Hintergrund waren die Geräusche einer vielbefahrenen Straße zu hören.

«Meinen Sie, Sie könnten kurz mal auf das Polizeirevier von Kimmerston kommen, Mrs. Brace? Ich hätte da noch ein paar Fragen an Sie. Wenn möglich noch heute Vormittag.»

Kurze Stille am anderen Ende der Leitung. «Das kommt mir leider gerade überhaupt nicht gelegen. Könnten Sie nicht zu mir kommen? Vielleicht heute Abend?»

In Vera brandete eine geradezu erfrischende Wut auf. Sie war doch kein Dienstmädchen, das man herumkommandieren konnte. «Wenn Sie nicht wollen, dass Ihr Name mit drei Morden in Verbindung gebracht wird, Mrs. Brace, rate ich Ihnen dringend, aufs Revier zu kommen und Ihre geschäftlichen Beziehungen zu mindestens einem der Opfer zu erklären.»

Wieder schwieg Judith, bevor sie antwortete. «Nun,

Sie unterhielten sich in einem der Besprechungsräume. Die waren zwar kahl und zweckdienlich, aber immerhin nicht ganz so unerquicklich wie die Verhörräume gleich neben den Zellen. Vera hatte Judith Brace, die ihr aufrecht und abwehrend gegenübersaß, nicht noch mehr vor den Kopf stoßen wollen.

«Bitte entschuldigen Sie, dass ich Sie herkommen lassen musste, Judith.» Vera hatte bereits Kaffee angeboten und nun, nach der Entschuldigung, taute Judith langsam auf. «Wir sind da nur auf eine wichtige Information gestoßen, und bevor wir in diese Richtung tätig werden, wollte ich natürlich erst nachprüfen, ob sie korrekt ist.»

«Eine Information mich betreffend?» Stirnrunzeln.

«Soweit ich unterrichtet bin, gehörten Sie, gemeinsam mit Elaine Sinclair, zu den Hauptanteilseignern des Seagull. Als wir neulich über den Club sprachen, ließen Sie das mir gegenüber allerdings nicht erkennen. Mehr noch, als ich Sie nach den Freundinnen von Robbie Marshall fragte, legten Sie ganz im Gegenteil sogar nahe, dass Sie Elaine kaum kennen würden.» Vera lächelte ermutigend. «Sicher gibt es dafür eine gute Erklärung, aber Sie verstehen bestimmt, dass wir darüber sprechen müssen.»

«Ich war nur auf dem Papier Anteilseignerin», sagte Judith. «Das hat alles John arrangiert. Um nicht selbst mit Sinclair und dem Geschäft in Verbindung gebracht zu werden.»

«Massiv getäuscht, Inspector.»

«Nachdem Mr. und Mrs. Sinclair zurück nach Tyneside gezogen waren, hatten Sie da wieder Kontakt zueinander? Ich nehme doch an, dass Sie heute in denselben Kreisen verkehren.»

Vera sah, dass Judith versucht war zu lügen, es sich dann aber anders überlegte. «Natürlich unterstütze ich Mr. Sinclairs Bemühungen um die Neugestaltung der Küstenorte hier oben im Nordosten. Gelegentlich begegnen wir uns auch auf einer Besprechung. Aber nein, privat haben wir keinen Umgang miteinander.»

Vera überlegte, was Sinclair, der sich solche Mühe gab, sich in den Landadel einzukaufen, von dieser Aussage wohl halten würde. «Haben Sie in Zusammenhang mit Mr. Sinclairs Erneuerungsplänen auch finanzielle Interessen?»

Wieder bedachte Judith ihre Antwort sehr sorgfältig. «Ich halte einen bescheidenen Anteil an einem der Projekte. Ich glaube an die Idee der Neugestaltung der Küste.» Offenbar gewann sie ihr Selbstvertrauen nun zurück. Vielleicht war ihr klargeworden, dass Vera letzten Endes kaum etwas in der Hand hatte, um sie mit den Morden in Verbindung zu bringen. «Und jetzt, Inspector, muss ich aber wirklich los, wenn Sie keine weiteren Fragen mehr an mich haben.»

 

Zurück in ihrem Büro, glaubte Vera, übereilt gehandelt zu haben. Sie hätte warten müssen, bis ihr konkrete Details zu Judith Brace’ Verwicklungen in die Geschehnisse rund um den Seagull vorgelegen hätten. Als das Telefon läutete, war sie so tief in ihre Grübeleien über den Fall versunken, dass

Es war Paul Keating, der Gerichtsmediziner. «Die Knochen von der zweiten Leiche aus dem Abflussrohr. Diese Frau.»

«Sie wissen, wer sie war?» Ein loses Ende weniger.

«Nicht direkt.»

«Lassen Sie mich nicht raten, Mann. Dazu bin ich nicht in Stimmung.» Obwohl Keating sie natürlich niemals raten lassen würde. Er war ein kräftiger, sehr religiöser Nordire und der am wenigsten zu Späßen aufgelegte Mensch, den sie kannte.

«Bei der Frau handelt es sich nicht um Mary-Frances Lascuola.»

Vera konnte sich gerade noch davon abhalten zu fragen, ob er sich sicher sei. Wenn er sich nicht sicher gewesen wäre, hätte Keating sie nicht angerufen. «Woher wissen Sie das?»

«Uns liegt endlich Lascuolas Krankenakte vor. Kurz bevor sie verschwand, wurde sie mit zahlreichen Knochenbrüchen in die Notaufnahme gebracht. Der Arzt dachte gleich an brutale Gewalt, aber sie erzählte ihm was von wegen sie wäre die Treppe runtergefallen.»

«Sie war Prostituierte. Regelmäßige Prügel gehörten zu den Annehmlichkeiten des Jobs.» Aber stand sie damals nicht unter dem Schutz von John Brace? Oder hat er ihr gegenüber die Beherrschung verloren, weil sie es einfach nicht schaffte, clean zu bleiben? Hat er sie verprügelt?

Keating schwieg einen Augenblick lang. «Jedenfalls weisen die Knochen der zweiten Leiche keine Anzeichen von

«Dann haben wir keine Ahnung, wer die zweite Leiche ist?»

«Tut mir leid, Vera. Ich bin Gerichtsmediziner, kein Zauberkünstler. Ich weiß nicht, was wir noch tun könnten, um Ihnen bei der Identifizierung zu helfen.» Er wartete auf eine Antwort von Vera, doch sie wusste einfach nicht, was sie sagen sollte, und schließlich legte er auf.

Sie saß wie festgewachsen am Schreibtisch. Joe behauptete immer, sie würde komplizierte Fälle lieben. Je schwieriger der Fall, desto mehr Spaß hätte sie daran. Aber warum kehrte dann diese Panik zurück, dieses Gefühl, in einem Strudel aus Informationen zu ertrinken? Doch wenn sie hier herumsaß und grübelte, würde sie sich auch nicht besser fühlen: Jetzt war nicht die Zeit, in Selbstmitleid zu baden. Sie rappelte sich hoch und riss die Tür zum Großraumbüro auf.

«Neues vom Gerichtsmediziner!» Um über das Klappern der Tastaturen und die gedämpften Gespräche hinweg Gehör zu finden, musste sie brüllen. Während die Beamten ihre Tätigkeiten einstellten und die Aufmerksamkeit von den Bildschirmen weg auf Vera richteten, wurde nach und nach alles still. «Die weibliche Leiche aus dem Abflussrohr ist definitiv nicht Mary-Frances Lascuola. Damit haben wir eine neue vordringliche Aufgabe: die Identifizierung der zweiten Leiche. Fangen Sie mit dem 25. Juni 1995 an. An dem Abend verschwand Robbie Marshall. Bitte kämmen Sie die Akten von dem Datum an rückwärts durch. Wir suchen nach jemandem, der um dieselbe Zeit herum vermisst gemeldet wurde. Eine junge Frau. Beginnen Sie an der

Eigentlich wollte sie noch mehr sagen. Dass die junge Frau noch Verwandte haben könnte, die immer noch von der Hoffnung gequält wurden, sie könnte noch am Leben sein. Dass sie sich dafür entschuldigen wollte, dass sie so davon überzeugt gewesen war, die zweite Leiche wäre Mary-Frances Lascuola, dass sie die Bemühungen, sie zu identifizieren, eingestellt hatte. Aber das hätte Zeit gekostet, und Vera wollte, dass ihre Leute sich konzentrierten. Sie brauchte das Ergebnis so schnell wie möglich. Und so kehrte sie in ihr Büro zurück, griff nach ihrer Tasche und verließ das Revier.

 

Als sie in der Siedlung auftauchte, wirkte Patty Keane erfreut, sie zu sehen, stolz darauf, dass es im Haus viel ordentlicher war als bei Veras früheren Besuchen. «Heute Morgen habe ich den Kindern Pfannkuchen gemacht!» Mit fröhlichem Grinsen. «Und es hängt auch schon eine Wäsche auf der Leine.» Sie machte eine Kopfbewegung in Richtung des Gartens hinterm Haus, wo auf einem ungepflegten Rasen eine Wäschespinne stand.

«Ach, Herzchen, ich bin doch keine Sozialarbeiterin, ich komme doch nicht, um Sie zu beurteilen.» Dann jedoch merkte Vera, dass Patty positive Resonanz benötigte. «Aber es ist großartig, dass Sie so gut zurechtkommen und sich wieder besser fühlen. Machen Sie uns einen Tee?»

Den Tee tranken sie im Wohnzimmer, wo an der Wand der riesige Fernseher hing, der Vera an die Einwegspiegel

«Dann sind Sie gekommen, um mir zu sagen, dass sie tot ist?», fragte Patty. «Wie Gary.»

«Ich weiß nicht, ob sie tot ist oder noch lebt, Herzchen. Aber wir wissen jetzt, dass sie nicht die Tote ist, die wir bei St. Mary’s Island gefunden haben.»

Es folgte eine kurze, erschütterte Stille. «Aber wenn sie noch lebt, warum hat sie sich dann nie mit mir in Verbindung gesetzt?» Ein klägliches Jammern.

Vera bemühte sich, darauf eine Antwort zu finden. Was wusste sie schon von Familien und davon, wie Eltern sich zu verhalten hatten? «Vielleicht glaubte sie, dass Sie ohne sie besser dran wären, dass es rücksichtsvoller wäre, Sie ganz auf Ihren eigenen Füßen stehen zu lassen.»

Über Pattys Wangen rannen Tränen. «Ich bin ja wirklich eine beschissene Mutter, aber meine Kinder im Stich lassen, das würde ich nie. Nicht mal Archie, und den würde ich manchmal am liebsten erwürgen.»

«Wir wissen ja noch nicht mit Sicherheit, ob sie noch lebt. Nur dass sie nicht die Tote ist, die wir in dem Abflussrohr gefunden haben.»

Sie saßen nebeneinandergepfercht auf dem Kunstledersofa und umklammerten ihre Becher. Im Nachbargarten kümmerte sich gerade ein Mann um seine ohnehin bereits makellosen Blumenbeete und zupfte abgestorbene Blüten aus den Rabatten.

«Können Sie sich eigentlich noch an sie erinnern?», fragte Vera schließlich.

Patty schüttelte den Kopf. «Ich erinnere mich noch an die Pflegefamilie, aber nur ganz vage. Dann daran, wie ich

«Meine Mutter starb, als ich noch ganz klein war», sagte Vera. «Ich weiß nicht mal, ob meine Erinnerungen an sie real sind oder ob ich mir in meiner Phantasie nur eine Geschichte über sie ausgedacht habe.»

«Ich habe meine Mutter mal auf einem Foto gesehen.» Patty weinte immer noch. Sie zog ein benutztes Papiertaschentuch aus dem Ärmel und wischte sich über die Augen. «Das war in meiner Sozialakte. Manchmal träume ich noch von ihr, aber das ist reine Phantasie, das weiß ich. Ich war noch viel zu klein, als ich in Pflege kam, um mich an sie zu erinnern.»

«Haben Sie das Foto noch?»

«Ja, das liegt oben in einer Schachtel.»

«Dürfte ich es mir einmal ansehen? Das könnte uns bei der Suche nach ihr helfen.» Vera wollte Patty nicht sagen, dass die einzigen Bilder, die sie von Mary-Frances hatten, die waren, die man damals im Gefängnis von ihr gemacht hatte, nach ihrer Verhaftung, und auf solchen Fotos sah jeder aus, als wäre er einem Horrorfilm entstiegen.

«Natürlich.»

Sie kam mit einer kleinen Pappschachtel zurück, in der einmal Pralinen gewesen waren, ein Geschenk von Gary vielleicht. Patty stellte sie zwischen sich und Vera aufs Sofa und nahm den Deckel ab. In der Schachtel lagen ein paar billige Schmuckstücke, wertloser Tand. «Mein Verlobungsring. Hübsch, nicht wahr?» Ultraschallaufnahmen der Babys in ihrem Bauch. Das Foto ihrer Mutter. Vorsichtig nahm sie es heraus und reichte es Vera.

«Sie ist wunderschön, nicht wahr? Ein Jammer, dass ich ihr nicht ähnlich sehe.»

«Aber das tun Sie doch!» Veras Reaktion war aufrichtig, denn sie konnte die Ähnlichkeit sehen. Sie hatte keinen Zweifel daran, dass die beiden Frauen miteinander verwandt waren. Dann konzentrierte sie sich wieder auf das Bild und lenkte ihre Aufmerksamkeit von der Frau im Vordergrund auf die Landschaft dahinter und den weiten Sommerhimmel.

Patty sprach derweil weiter. «Die Sozialarbeiterin bat meine Mutter, ihr etwas für mich zu geben, kurz bevor die Adoption amtlich wurde. Das Foto hier muss zwar, glaube ich, ein paar Jahre davor gemacht worden sein, aber vielleicht mochte sie es ja. Ich hätte so gern einen Brief gehabt. Etwas Persönliches. Aber alles, was ich bekommen habe, waren dieses Foto und das Medaillon.»

«Welches Medaillon?»

Patty kramte in der Schachtel. «Anfangs habe ich es die ganze Zeit getragen, aber dann bekam ich Angst, ich könnte es verlieren, weshalb ich es dann hier aufbewahrt habe.» Sie durchwühlte den Modeschmuck, die Ohrhänger und Armreifen. «Es ist nicht da.»

Patty schüttelte den Kopf. «Sie wissen, dass sie nicht allein in mein Schlafzimmer dürfen. Davon abgesehen stelle ich die Schachtel immer ganz oben aufs Regal. Sogar ich muss auf einen Stuhl steigen, um dranzukommen.»

«Wann haben Sie das Medaillon zuletzt gesehen?»

«Ich bin mir nicht sicher. Sie wissen ja, wie es mir in letzter Zeit so ging, da war ich mir mit gar nichts mehr sicher. Könnte Jahre her sein, dass ich es zuletzt aus der Schachtel genommen habe.» Das Papiertaschentuch war inzwischen nur noch ein Fetzen, dennoch betupfte sie weiterhin die Augen damit.

«Haben Sie es seit dem Einbruch noch mal gesehen?»

Vera konnte zwar nicht erkennen, inwiefern das Medaillon für irgendjemand anderen als Patty einen Wert gehabt haben sollte, doch eine andere Erklärung für sein Verschwinden fand sie nicht, sosehr sie sich auch den Kopf zerbrach.

Patty sah sie an, als wäre sie verrückt geworden. «Warum sollte ein Einbrecher denn so was mitnehmen und nicht den Fernseher oder den Computer? Es war zwar aus Silber, aber weder alt noch besonders wertvoll.»

«Waren da Fotos drin?»

«Nein. Nur eine Locke vom Haar meiner Mutter.»

Vera legte den Arm um Patty und drückte sie, dann

«Das ist Ewigkeiten her! Ich kann mich überhaupt nicht daran erinnern.»

Patty klang jetzt wie ein trotziges Kind, und Vera sprach beruhigend auf sie ein. «Nein, das können Sie natürlich nicht, bei all dem, was in Ihrem Leben in letzter Zeit los war. Hatte Gary noch die Schlüssel vom Haus?»

Patty schüttelte den Kopf. «Als er den Rest von seinem Kram geholt hat, hat er sie auf die Arbeitsplatte in der Küche geworfen.» Dann blickte sie abrupt auf. «Sie glauben doch nicht, dass er hier eingebrochen ist, um das Medaillon zu stehlen? Warum hätte er das tun sollen? Es hatte doch nur eine Bedeutung für mich. Es war ein Teil meiner Vergangenheit. Eine Erinnerung an meine Mutter.»

«Ich weiß es nicht, und vermutlich bin ich auf dem völlig falschen Dampfer. Aber das können wir ja überprüfen. Das Team von der Spurensicherung hat Garys Apartment gründlich durchsucht, und die frage ich mal, ob sie das Medaillon unter seinen Sachen gefunden haben.» Nachdenklich beobachtete sie, wie Patty ihre Schätze zurück in die Schachtel legte, dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit noch einmal dem Foto von Mary-Frances zu.

Auf dem Bild waren keine Gebäude zu sehen, nichts, woraus man hätte schließen können, wo es aufgenommen wurde. Es musste gegen Ende des Frühjahrs gewesen sein, denn auf der Wiese hinter dem Gatter blühten Klee und Butterblumen. Vera musste an das Foto von ihrer eigenen Mutter denken, das mittlerweile in einem alten Rahmen, der nicht