Kapitel siebenunddreißig

Es war gerade erst Mittag, aber Vera fühlte sich, als säße ihr schon ein ganzer Arbeitstag in den Knochen. Sie vermisste ihr Team. Charlie und Holly waren in Durham und versuchten, Adresse und Telefonnummer von Stephen Bradford in Erfahrung zu bringen. Und Joe war zur Gemeindeverwaltung von North Tyneside gefahren. Er war mit einem der Mitarbeiter der Planungsbehörde zur Schule gegangen, und Vera hoffte, dass er vielleicht etwas Klatsch und Tratsch über das Projekt zur Neugestaltung der Küste aufschnappen und nicht zuletzt herausbekommen könnte, inwieweit Judith Brace damit zu tun hatte. Veras Skepsis in Bezug auf Gus Sinclairs Maskerade als Menschenfreund und Förderer der Gemeinde war angesichts der neuen Informationen nur gewachsen, und auch wenn sie nicht erkennen konnte, wie die jüngsten Entwicklungen in Whitley Bay mit dem Mord an Robbie Marshall zusammenhängen sollten, wollte sie doch mehr darüber wissen.

«Ja, richtig.» Sie streckte die Hand aus und nahm ihm die Blätter ab.

«Ich habe alle Berichte durchkämmt, und dies hier sind die einzigen drei Frauen, die in jenem Sommer als vermisst gemeldet wurden und nie wieder aufgetaucht sind. Die anderen haben sich bald nach der jeweiligen Vermisstenmeldung wieder mit ihren Familien in Verbindung gesetzt.»

«Großartig. Danke.» Sie merkte nicht einmal mehr, wie der junge Mann ihr Büro wieder verließ.

Eine halbe Stunde später, nach einem Kaffee und einem Rosinenbrötchen aus der Kantine sowie der Erkenntnis, dass sie durch Willenskraft und Vorstellungsvermögen allein dem Rätsel Mary-Frances nicht auf die Spur kommen würde, sah sie sich die Vermisstenliste an. Pattys Mutter konnte auf Reisen gegangen sein oder ein spätes Studium absolviert, geheiratet und eine Familie gegründet haben. Sie konnte eines natürlichen Todes gestorben sein. Sie hatte in den zwielichtigen Kreisen um John Brace und den Seagull verkehrt, und so schwer konnte es für sie nicht gewesen sein, eine falsche Identität anzunehmen. Ohne Kenntnis ihres neuen Namens war es so gut wie unmöglich, Mary-Frances zu finden. Doch auch die Tote von St. Mary’s Island hatte unter Umständen

Sie machte sich noch einen Kaffee und beugte sich über die vor ihr liegende Liste. Drei Frauen im Alter zwischen siebzehn und sechsundzwanzig. Die erste auf der Liste war die Sechsundzwanzigjährige. Sie hatte in Wallsend gewohnt, was aufgrund der Verbindung zu Robbie Marshall bei Vera die Alarmglocken schrillen ließ, und als Sekretärin bei Parson’s gearbeitet, einem Ingenieursbüro, bevor sie dann ihr erstes Kind bekam. Nach der Geburt litt sie unter postnatalen Depressionen. Eines frühen Morgens verschwand sie und ließ das Baby bei ihrem Mann zurück. Der exakten Beschreibung der Vermisstenanzeige zufolge war sie für eine Frau allerdings sehr groß gewesen, eins zweiundachtzig, und die Knochen, die sie gefunden hatten, konnten nicht zu ihr gehören. Das Baby, das sie zurückgelassen hatte, wäre heute erwachsen.

Die beiden anderen Vermissten waren Teenager gewesen, wie sie unterschiedlicher nicht hätten sein können. Die jüngere von beiden hieß Rebecca Murray. Als sie verschwand, war sie noch zur Schule gegangen und hatte bei offenkundig liebevollen Eltern gewohnt. Auf der Suche nach ihr waren alle Hebel in Bewegung gesetzt worden. Ihr Bild war sogar während der Sendung Crimewatch auf BBC ausgestrahlt worden, ohne Erfolg. Sharon Timlin, die Neunzehnjährige, hatte im Heim gelebt, seit sie zehn war, und war mit sechzehn in eine Sozialwohnung in North Shields abgeschoben worden, um für sich selbst zu sorgen. Als Vera das las, wurde sie wütend. Menschen wie Alison Mackie steckten so viel Arbeit und Mühe in die Suche nach

Eine Telefonnummer von Sharons Verwandten war in den Akten nicht zu finden, und Vera hatte einfach keinen Nerv mehr, sich ein weiteres aussichtsloses Rededuell mit dem Sozialamt zu liefern, deshalb rief sie zuerst bei den Eltern von Rebecca an. Als deren Tochter verschwand, waren sie Anfang fünfzig gewesen; mittlerweile mussten sie also schon in Rente sein. Die Telefonnummer war noch aktiv, und ein munter klingender Mann hob ab. «Alan Murray.»

Vera nannte ihren Namen und Rang.

Schweigen am anderen Ende der Leitung. «Sie haben Rebecca gefunden.» Es hörte sich an, als bekäme er keine Luft mehr.

«Nein!», rief Vera. Auf keinen Fall wollte sie ihnen falsche Hoffnungen machen oder den letzten Funken Hoffnung, den sie vielleicht noch hatten, austreten. «Aber ich würde gern einmal mit Ihnen über sie sprechen. Dürfte ich zu Ihnen kommen?»

Diesmal zögerte er nicht. «Aber natürlich. Bitte, kommen Sie vorbei. Können Sie jetzt gleich kommen?»

«Gern.» Zwar hielt sie es für wahrscheinlicher, dass die zweite Leiche von St. Mary’s Island zu Sharon Timlin gehörte, dem Mädchen aus dem Heim, doch der Mann klang so begierig danach, sie zu sehen, so verzweifelt, dass sie es nicht über sich brachte, ihn zu enttäuschen.

 

Die Murrays wohnten in einer bescheidenen Einfamilienhaussiedlung in Holywell, ein kleines Stück nördlich von

«Sie war unser einziges Kind, wissen Sie.» Die Mutter versuchte es zu erklären, versuchte die Einschränkungen, die sie dem Mädchen auferlegt hatte, zu rechtfertigen. «Da war es doch nur natürlich, dass wir uns Sorgen machten.»

«Dann war es also eher ungewöhnlich, dass Rebecca abends noch allein unterwegs war?» Die Murrays waren mit ihr in den Garten gegangen, ihr ganzer Stolz, eine Art Ersatzkind vielleicht, und nun saßen sie um ein schmiedeeisernes Tischchen herum. Hier war noch alles bunt, und die Blumen verströmten einen schweren Duft, an den Vera sich, als sie später versuchte, sich das Gespräch noch einmal Wort für Wort durch den Kopf gehen zu lassen, erinnern sollte.

«Sie war ein so wundervolles kleines Mädchen.» Das kam wieder von der Mutter. Mrs. Murray selbst war verblasst und so durchschnittlich, dass Vera später Mühe hatte, sich an sie zu erinnern. «Pflegeleicht und immer gehorsam. Später, als sie dann aufs Gymnasium kam, hat sie sich verändert. Wir haben uns mächtig ins Zeug gelegt, damit sie aufs Gymnasium von Whitley Bay gehen kann, denn das hatte den besten Ruf, und Rebecca war doch so intelligent. Hochintelligent. Nicht wahr, Alan? Die Lehrer sagten, sie könne später jede Uni besuchen, die sie will.»

«Aber da ist sie dann in ganz andere Kreise geraten. Schicker und mondäner als wir, nehme ich an. Frühreife Jugendliche. Rebecca veränderte sich. Plötzlich wurde alles zum Kampf. Es genügte ihr nicht mehr, den Abend zu Hause mit uns zu verbringen – auf einmal musste sie ausgehen. Jedes Wochenende ging’s nach Whitley Bay, um dann gegen zwei oder drei Uhr nachts mit dem Taxi zurückzukommen.» Die Mutter legte eine bedeutungsschwere Pause ein. «Betrunken.»

«Ach», meinte Vera, «für mich klingt das nach dem Benehmen der meisten Teenager, die ich so kennengelernt habe. Sie rebellieren. Das gehört doch zum Erwachsenwerden, oder?»

Die Eltern starrten sie an. Sie hatten erwartet, dass eine Polizeibeamtin das Verhalten ihrer Tochter ebenso empörend fand wie sie.

«Bitte schildern Sie mir den Abend, an dem Rebecca verschwand.»

«Das war an einem Freitag. Dem 23. Juni. Sie hatte schon ihre Abschlussprüfungen hinter sich und Ferien.» Jetzt hatte der Vater übernommen. «In der Woche davor hat sie uns mitgeteilt, dass sie einen Ferienjob als Kellnerin angenommen hätte. Das hielten wir für ein gutes Zeichen. Es zeigte, dass sie erwachsen wurde und Verantwortung übernehmen wollte.» Er runzelte die Stirn. «Dann aber stellte sich heraus, dass sie nicht etwa in einem Café kellnern wollte, sondern in einem Club an der Uferzeile. Das hielten wir für unangebracht für eine Siebzehnjährige. Genau genommen hielt ich es sogar für illegal. Sie sagte, sie würde nicht in der Bar arbeiten, sondern im Restaurant; sie wäre alt genug, um

«Und da ging sie dann an jenem Freitagabend hin?»

Die Mutter nickte. «Am Wochenende vorher hatte sie ihre ersten beiden Schichten gehabt, aber das war tagsüber gewesen, über die Mittagszeit und am frühen Abend. An jenem Abend sollte sie erst um acht anfangen. Ich brachte sie mit dem Auto hin. Schließlich wollte ich ja auch keinen Unfrieden mit ihr. Ich fragte, um wie viel Uhr sie Schluss machen würde, und sie meinte, um Mitternacht. Als ich ihr dann anbot, dass ihr Vater sie abholen könne, erwiderte sie, das wäre nicht nötig, weil der Club ihr ein Taxi bezahlen würde. Sie wirkte so fröhlich, als sie ausstieg – winkte und warf mir eine Kusshand zu. Direkt vor dem Club war kein Parkplatz frei, und hinter mir war ein Lastwagen, der schon hupte, also fuhr ich weiter. Ich habe mich nicht mal mehr vergewissert, dass sie da reinging.»

«Und da haben Sie sie das letzte Mal gesehen?» Vera glaubte, dass die Mutter wieder und wieder über diese Szene nachgegrübelt, ihren Schuldgefühlen wieder und wieder neue Nahrung gegeben haben musste.

«Ja. Natürlich konnten wir nicht schlafen. Wir konnten nie schlafen, bevor sie nicht zu Hause war. Als sie um eins noch nicht zurück war, stand Alan auf und rief beim Club an. Dort meinten sie, es müsse ein Irrtum vorliegen, denn Rebecca arbeite nicht abends und nachts. Sie würden die jüngeren Mädchen nie zur Nachtschicht einteilen. Wir glaubten, dass sie uns angelogen hatte, weil sie auf eine Party gehen wollte. Oder mit einem Jungen zusammen war, von dem sie wusste, dass wir ihn nicht mögen würden. Wir glaubten, dass sie am frühen Morgen schon wieder

«Was sie aber nicht tat, und da riefen Sie die Polizei.»

«Ja. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob wir ernst genommen wurden, aber als Rebecca Sonntagabend immer noch nicht wieder aufgetaucht war, machte sich selbst die Polizei langsam Sorgen. Zu dem Zeitpunkt hatten wir schon mit all ihren Freunden und Freundinnen gesprochen. Niemand wusste, was sie vorgehabt hatte.»

«War Rebecca ein kerngesundes junges Mädchen? Keine Knochenbrüche oder Ähnliches?» Vera hoffte, als Antwort zu hören, dass Rebecca ein rechter Tollpatsch gewesen sei und sich beim Skifahren den Knöchel gebrochen hätte.

«Nein, gebrochen hat sie sich nie was.»

«Und die Zähne? Hatte sie gesunde, gepflegte Zähne?»

Die Eltern blickten sie an, als wäre sie verrückt geworden. Im Baum über Vera ließ eine Türkentaube ihren sanften, hypnotisierenden Ruf erklingen.

«Sie hatte perfekte Zähne», sagte die Mutter. «Nicht eine einzige Füllung.»

«Eine letzte Frage noch, dann werde ich Ihnen erklären, weshalb ich hier bin und welche Schritte wir als Nächstes unternehmen.» Vera spürte die Panik der Eltern und gab sich Mühe, mit leiser und gelassener Stimme zu sprechen. Der Ton, den sie aus ihrem Mund kommen hörte, erinnerte sie an den Ruf der Türkentaube. Weich und beruhigend. «Wie hieß der Club, in dem sie an dem Abend vorgeblich arbeitete?»

«The Seagull», sagte Alan Murray. «Er hieß The Seagull.»