Zurück auf dem Revier, war Vera angespannter, als Joe sie je erlebt hatte. Noch immer brodelte es in ihr nach dem Gespräch mit Sinclair und dessen Frau, doch zugleich war sie fiebrig und rastlos, sah nun endlich die Lösung des Falls heraufdämmern. Joe, der bei der Besprechung ganz vorn saß, machte sich Sorgen, dass die ganzen Emotionen – die Wut – einen Herzinfarkt auslösen könnten. Eine Frau in Veras Alter und mit Veras Gewicht sollte sich nicht mehr so aufregen. Ihr Arzt hatte sie bereits gewarnt wegen ihres Blutdrucks, und sie nahm Tabletten, sofern sie sich die Mühe machte, überhaupt daran zu denken.
«Wir haben die zweite Leiche von St. Mary’s Island also nun identifiziert. Obwohl das Mädchen tadellose Zähne hatte – ich wette, ihre Eltern waren Pedanten und sorgten dafür, dass ihre geliebte Tochter keine gezuckerten Getränke oder ungesunden Lebensmittel zu sich nahm –, machte ihr Zahnarzt mal ein Röntgenbild, und Dr. Keating hat bereits bestätigt, dass es mit den Zähnen im Schädel übereinstimmt.» Sie holte tief Luft und sah sich im Besprechungsraum um. «Unser zweites Opfer heißt Rebecca Murray, war siebzehn Jahre alt und das einzige Kind ihrer Eltern, die sie anhimmelten. Eine lebenslustige junge Frau, die gern auf Partys ging und erst spätnachts heimkam, weshalb der Fall, als sie von ihren besorgten Eltern sehr schnell als vermisst gemeldet wurde, von unseren Kollegen damals nicht besonders ernst genommen wurde. Mich jedenfalls hat es nicht viel Mühe gekostet herauszufinden, dass sie am Wochenende, bevor sie verschwand, Robbie Marshall begegnet ist, im Seagull, der dann offenbar ein Rendezvous zwischen ihr und einem Geschäftsmann organisiert hat.»
Joe musste an seine Tochter denken, seine Jess, und fragte sich, wie er sich wohl fühlen würde, wenn er sie als vermisst melden und niemand sich groß darum kümmern würde. Jess verlor leicht die Beherrschung, sie war eigensinnig und kämpfte schon jetzt um ihre Unabhängigkeit. Nur wenige Jahre noch, dann würde sie abends ausgehen und sich mit Taugenichtsen treffen wollen. So schnell er konnte, schob er den Gedanken wieder beiseite und richtete seine Aufmerksamkeit zurück auf Veras Worte.
«Joe hat mit seinen alten Schulkameraden bei der Gemeinde gesprochen. Was können Sie uns über Sinclairs Rolle in diesem Erneuerungsprojekt berichten?»
«Soweit es die Genehmigungen betrifft, ist dabei alles mit rechten Dingen zugegangen. Er hat große Summen in das Projekt investiert und versucht, auch andere Leute davon zu überzeugen, Geld reinzustecken.»
«Elaine hat einen ganz anderen Eindruck erweckt», sagte Vera. «Sonst noch etwas?»
Joe schüttelte den Kopf. «Keine Hinweise auf Korruption, keine Gerüchte über Ratsmitglieder, die einen Koffer voller Geld bekommen hätten.»
«Wahrscheinlich muss er sie gar nicht bestechen. Alles, was nach Erneuerung riecht, trifft bei denen auf offene Ohren. Und die Baugenehmigungen sind auch viel einfacher zu bekommen als früher. Wenn Sinclair so viel Mieteigentum im Ort besitzt, hat er natürlich auch ein persönliches Interesse daran, das Projekt zum Erfolg zu führen.»
Joe sah, dass Vera nun wieder etwas ruhiger war. Die Wut darüber, wie Rebecca Murrays Eltern damals behandelt wurden, war größtenteils verraucht, und sie genoss es, vor dem Team zu stehen und ihre Weisheit mit ihnen zu teilen.
Jetzt fuhr sie fort. «Holly und Charlie haben die Spur unseres geheimnisvollen Professors verfolgt, und nun können wir auch ihm einen Namen geben. Es handelt sich um Professor Stephen Bradford, seines Zeichens preisgekrönter Dichter und ehemaliger Dozent an der University of Durham.» Sie blickte Holly an. «Sie sind nicht überzeugt, dass er in den Fall verwickelt ist, Holly?» Es klang wie eine Kampfansage.
«Er muss darin verwickelt sein», erwiderte Holly. «Zumindest in die Sache mit Gary Keane. Warum hätte er sonst eine Nachricht auf Keanes AB hinterlassen sollen? Aber es fällt mir schwer, ihn mir als Mörder vorzustellen. Er hat so viel zu verlieren.»
«Könnte er nicht der Kerl gewesen sein, der sich in Rebecca Murray verguckt hat? Dieser Geschäftsmann, der sich von Robbie Marshall hat einladen lassen?» Denn das wäre eine Möglichkeit, glaubte Joe, all die verschiedenen Fäden zusammenzuführen. Und genau das brauchten sie – etwas, das diesem ganzen Chaos einen logischen Zusammenhang verlieh.
«Nein, dazu kannte Elaine Sinclair den Professor zu gut. Sie sagte, sie hätte den Kerl, der ihre junge Kellnerin angesabbert hat, vorher noch nie gesehen.» Vera, die rastlos auf und ab getigert war, hockte sich nun an der Stirnseite des Raums auf einen Schreibtisch und ließ die bloßen Beine baumeln. An den Füßen schlappten die Sandalen, die sie immer trug, die mit den Gummisohlen und den Klettverschlüssen.
Joe, der beim Anblick ihrer dreckigen Füße kurz schlucken musste, gab nicht auf. «Mit ihrer Behauptung, das Mädchen wäre mit einem Fremden losgezogen, könnte Elaine den Professor doch auch schützen wollen.»
Darüber dachte Vera nach. «Aye, da könnten Sie recht haben. Ich war selbst nicht ganz überzeugt, dass sie die Wahrheit sagt, als sie meinte, sie hätte den Kerl noch nie zuvor gesehen.» Nun wandte sie sich an Charlie. «Das sollten Sie vielleicht mal mit Ihrem Kontakt an der Uni abklären, ob es jemals Beschwerden von Studentinnen gab.»
Charlie nickte.
«So wie ich es sehe, ändert die Identität der zweiten Leiche alles, was wir uns bisher als Motiv überlegt haben.» Jetzt hielt Vera die Beine still, sie kreuzte die dicken Knöchel und verharrte angespannt in dieser Haltung. «Ich weiß einfach nicht, wie John Brace da reinpasst. Als wir noch dachten, dass es seine Geliebte ist, die Mutter seines Kindes, die da mit Marshall zusammen in dem Rohr lag, war es noch etwas anderes; aber nun sieht es so aus, als hätte er nichts mit dem zu tun, was damals passiert ist.»
«Abgesehen davon, dass er zugegeben hat, Marshalls Leiche da reingelegt zu haben», wandte Joe ein. «Da muss er doch auch mit dem Mord an dem Mädchen was zu tun gehabt haben. Dass die Leichen zu unterschiedlichen Zeitpunkten ins Rohr gelegt wurden, das glaube ich einfach nicht. Das ist der Stoff, aus dem Märchen sind.»
«Vielleicht wollte er den Mord an Rebecca vertuschen, für seine alten Kumpel Marshall und Sinclair.» Hollys Worte kamen nur zögerlich heraus. «Immerhin war Rebecca ja doch nicht so clever, wie sie glaubte, und ist in Marshalls Falle getappt, und vielleicht wehrte sie sich dann, als unser Unbekannter sie sexuell bedrängte. Vielleicht hat er sie umgebracht, damit sie aufhört, um Hilfe zu schreien.»
«Aber wieso musste Marshall dann auch sterben?», heulte Vera frustriert auf. Sofort herrschte Stille im Raum. Mit gemäßigterer Stimme fuhr sie fort: «Marshall hat todsicher nicht damit gedroht, zur Polizei zu gehen. Ihm lag bestimmt genauso viel daran, den Vorfall zu vertuschen, wie dem Kerl, der den Mord begangen hat. Joe, ich möchte, dass Sie morgen früh als Erstes nach Warkworth hochfahren und mit Brace reden. Über mich weiß er einfach zu viel. Ich habe ihn zu nah an mich rankommen lassen. In den Akten habe ich nichts gefunden, wonach er in den Fall der vermissten Rebecca Murray involviert gewesen wäre, aber da stünde selbst dann nichts, wenn er das Ganze geleitet hätte. Er war ein viel zu schlauer Ermittler, um Spuren zu hinterlassen. Vielleicht erzählt er Ihnen ja was. Wenn er Sie unterschätzt, könnte ihm etwas Nützliches entschlüpfen.»
Joe glaubte, dass Vera ziemlich verzweifelt sein musste, wenn sie jetzt schon ihn zu John Brace schickte. Bislang hatte sie Brace im Rahmen dieser Ermittlungen sich selbst vorbehalten. Ihre Feindseligkeit ihm gegenüber hatte etwas Persönliches, von dem sie regelrecht zehrte.
Als er am nächsten Morgen beim Gefängnis eintraf, war es zu einem Zwischenfall gekommen, einem jener regelmäßig auftretenden Vorfälle, die die Routine unterbrachen und die Männer in ihren Zellen festhielten: Jemand hatte versucht, sich umzubringen, oder hinter Schloss und Riegel einen Rappel gekriegt. Joe wurde angewiesen, in dem kleinen Raum gleich hinter dem Empfang zu warten. Brace würde so bald wie möglich in eines der Besprechungszimmer geführt werden. Also setzte Joe sich auf einen der harten Kunststoffstühle und langweilte sich. Hier gab es nichts zu seiner Unterhaltung. Das Handy hatte er abgeben müssen. Zeitungen lagen keine aus. Als nach einer Viertelstunde noch immer niemand kam, um ihm zu sagen, was los war, fragte er sich langsam, ob sie ihn vergessen hatten. Er begann, in dem kleinen Raum auf und ab zu tigern, und dachte, dass man sich in einer Zelle wohl ganz genau so fühlen musste, wobei er hier wenigstens noch genug Platz zum Herumlaufen hatte. An der Wand hing ein Schwarzes Brett mit Fotos der wichtigsten Personen in der Anstalt. Alle grinsten, die Zähne entblößt, was sie unnatürlich und leicht irre aussehen ließ. Der Direktor, der Kaplan und die Leiterin der Ausbildungsstelle. Sogar der Leiter der Kantine. Zerstreut betrachtete Joe sie einen Moment lang, dann nahm er seinen Marsch wieder auf. Im Kopf arbeitete er sich durch das Knäuel von Morden und Motiven und versuchte, die einzelnen Fäden des Falls zu entwirren.
Als zehn Minuten später die Tür aufging, zuckte er vor Schreck zusammen. Er war so in Gedanken versunken, dass er fast schon vergessen hatte, weshalb er überhaupt gekommen war, und das Tageslicht, das grell in den Gang strömte, durch den er nun zu den Besprechungsräumen geführt wurde, blendete ihn. Der Wärter entschuldigte sich dafür, dass man ihn habe warten lassen, gab allerdings keinen Grund an. Joe wurde in ein winziges Besprechungszimmer gebracht und sah überrascht, dass John Brace in seinem Rollstuhl schon da war. Kurz verwirrt, stammelte er ein paar einleitende Worte. Noch immer hing er seinen Überlegungen zu den Eventualitäten und ins Kraut schießenden Spekulationen rund um die drei Morde nach.
«Aha, dann kommt die Leierkastenfrau heute mal nicht selbst», meinte Brace. «Stattdessen hat sie ihr Äffchen geschickt.»
«Inspector Stanhope hat zu tun.» Brace’ Bemerkung ließ Joe gar nicht an sich heran. Zum Teil freute sie ihn sogar. Vera wollte schließlich, dass Brace ihn unterschätzte. «Aber wir dachten, wir sollten Sie davon in Kenntnis setzen, dass die Tote, die wir bei Robbie Marshalls Leiche gefunden haben, nunmehr identifiziert wurde.»
Brace’ Miene blieb unverändert arrogant und belustigt, doch seine Sitzhaltung spannte sich etwas an. «Ach ja?»
«Eine Weile lang gingen wir davon aus, dass es sich um Ihre damalige Freundin Mary-Frances Lascuola handeln würde.»
«Sie war nie meine Freundin.» Wut loderte in ihm auf. «Sie war nur eine Frau, mit der ich geschlafen habe.»
«Und mit der Sie ein Kind hatten.»
«Es war ihre Entscheidung, das Kind zu bekommen. Damit hatte ich nichts zu tun.»
Das hört sich aber ganz anders an als die Geschichte, die Brace Vera und Patty erzählt hat, dachte Joe. Den beiden Frauen hatte er gesagt, Mary-Frances wäre die Liebe seines Lebens gewesen. «Aber Patty liegt Ihnen doch am Herzen? Immerhin haben Sie Inspector Stanhope gebeten, sich um sie zu kümmern.»
«Aye, ich mag ja hier drin sitzen, aber ich habe durchaus noch ein gewisses Verantwortungsbewusstsein.»
«Die Tote aus dem Rohr war jedenfalls jünger als Mary-Frances», berichtete Joe. «Eine siebzehnjährige Schülerin, die kurz vor dem Verschwinden Ihres Freundes Marshall als vermisst gemeldet wurde. Bisher war nie eine Verbindung zwischen den beiden Fällen gezogen worden, doch jetzt wissen wir, dass sie im Seagull kellnerte, als Marshall dort mit einem Bekannten zu Mittag aß. Einem Bekannten, dem sie anscheinend sehr gefiel.»
Es entstand eine Stille, die nur von Flüchen und Gelächter vom Gang durchbrochen wurde. Eine Gruppe junger Männer, die man endlich aus ihren Zellen gelassen hatte und die nun unterwegs zu ihrem Arbeitsplatz oder zur Turnhalle waren.
«Sie hieß Rebecca Murray», fuhr Joe fort. «Sagt Ihnen der Name etwas?»
Weiterhin Stille.
«Das Problem mit Robbie Marshall …» Brace zögerte. Vielleicht bereute er ja schon wieder, dass er überhaupt angesetzt hatte. Aber Joe war schließlich nur Veras Äffchen, und Brace spielte sich gern auf. Er wollte beweisen, dass er die Leute, seine Leute, innerhalb und außerhalb der Truppe verstand und wusste, wie sie tickten. «Das Problem mit Robbie Marshall war, dass ihm sein Ruf als Macher gefiel. Der verlieh ihm Ansehen. Bei der Werft arbeitete er als Leiter der Beschaffungsstelle, und er prahlte immer: ‹Sag mir, was du brauchst, und ich besorge es dir.›»
«Wenn seinem Bekannten das Mädchen also gefallen hat, hätte Robbie es als Herausforderung angesehen, ihm zu besorgen, was er wollte?» Behutsam tastete Joe sich vor.
«Als Herausforderung, aye. Aber er hatte sich mit ein paar Leuten eingelassen, die was von ihm erwarteten. Die das Gefühl hatten, Robbie wäre ihnen was schuldig, weil sie ihm den ein oder anderen Gefallen getan hatten. Vielleicht fühlte er sich auch verpflichtet, ihnen zu geben, was sie wollten. Also war’s mehr als eine Herausforderung. Eher so eine Art Rückzahlung.»
«Eine Möglichkeit, seine Schulden zurückzuzahlen?»
«So was in der Art.» Brace lehnte sich zurück. «Das waren Leute, die man nicht unbedingt verärgern wollte.» Er runzelte die Stirn. «Leute, mit denen ich mich geweigert habe, Geschäfte zu machen.»
Darauf erwiderte Joe nichts, er sagte nicht, dass Brace seiner Meinung nach nicht die geringsten Skrupel hatte und mit jedem Geschäfte machen würde, der ihm nützlich sein könnte. «Und haben Sie vielleicht auch eine Ahnung, mit wem Marshall damals im Seagull zu Mittag gegessen hat?»
Brace gab ihm keine direkte Antwort. «Ich hatte einen Termin für den Bewährungsausschuss.»
«Und jetzt meinen Sie, Inspector Stanhope könnte da ein paar Fäden für Sie ziehen?»
Brace zuckte die Schultern. «Wenn sie sagt, dass ich Ihnen geholfen habe, kann das sicher nicht schaden.»
«Also dann, dieser Kerl im Seagull? Marshalls Bekannter?»
Doch wieder ignorierte Brace die Frage. «An dem Sonntag, den wir mit Robbie in den Bergen waren, an dem ich später seine Leiche bei St. Mary’s Island fand, da war er total zappelig. Das habe ich Vera auch schon gesagt. Er hatte eine solche Angst, wie ich es bei ihm noch nie erlebt hatte, und das sah ihm überhaupt nicht ähnlich. Robbie hatte gar nicht genug Phantasie, um Angst zu haben.»
«Dann haben Sie jetzt also Angst, John?» Joe sprach ihn bewusst mit Vornamen an, um eine Art Nähe zu simulieren, auch wenn er wusste, dass ihn das ärgern musste. John Brace war Respekt gewohnt. Außerdem gefiel es ihm bestimmt nicht, dass sein Mut in Frage gestellt wurde. «Sogar hier drin noch? Wollen Sie mir deshalb nicht sagen, wie er heißt?»
Brace blickte auf. «Ich kann Ihnen nicht sagen, wer das war. Ich weiß es selbst nicht genau.»
«Aber vielleicht wollen Sie eine Vermutung äußern?»
Erneut schwieg Brace. «Wie gesagt, ich habe mit Robbie gesprochen und ihm meine Hilfe angeboten, aber er wusste, es gibt Dinge, die nicht mal ich regeln kann. Sinclair könnte wissen, wer der Kerl war. In jenem Frühjahr war Robbie ein paarmal oben in Glasgow. Im Frühjahr 1995.»
«Robbie Marshall hat gemeinsame Sache mit Sinclairs Vater gemacht?» Joe fragte sich, was Vera davon wohl halten würde. «Bei den großen Jungs mitgespielt?»
«So lautete jedenfalls das Gerücht, und selbst ich konnte in so weiter Ferne keine Fäden mehr ziehen.» Brace hustete. «Offenbar ist dann was schiefgelaufen mit einem Geschäft, und Alec Sinclair glaubte, dass Robbie ihm was schuldig war.»
«Könnten Sie mir Alec Sinclair mal beschreiben?» Joe hatte langsam das Gefühl, der Lösung des Rätsels näherzukommen. Sollte Alec Sinclair der Kerl im Restaurant gewesen sein, erklärte das natürlich, wieso Gus Sinclair der Polizei damals bei der Suche nach der verschwundenen Rebecca Murray nicht hatte helfen wollen.
«Fettleibig. Körperlich ein Wrack. Stand kurz vorm Herzinfarkt.»
Das passt zu der Beschreibung, die Elaine Vera gegeben hat, dachte Joe. Und noch ein anderes Bild blitzte vor seinem inneren Auge auf: seine Chefin höchstpersönlich. Es war ebenso eine Beschreibung von Vera selbst.
Brace sah auf. «Sie wissen, dass er mittlerweile tot ist. Auch wenn er es war, der Robbie umgebracht hat, bringt Sie das bei Ihren Ermittlungen nicht weiter.»
Joe stand auf, sodass er den alten Mann im Rollstuhl nun überragte, wobei ihm flüchtig durch den Kopf ging, ob das wohl die Macht war, die Schlägertypen verspürten. «Was ich bei alldem nicht verstehe, ist, wieso Sie die Leiche des Mädchens nicht gesehen haben, als Sie den toten Robbie Marshall ins Rohr legten. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass der alte Sinclair das Mädchen umgebracht hat, weil sie ihm nicht geben wollte, was man ihm versprochen hatte. Er raste vor Wut und Frust und hatte sich vielleicht nicht mehr im Griff. Ich kann mir auch vorstellen, dass er Robbie umbrachte, damit der nichts ausplaudert. Oder als Botschaft an andere, weil Robbie nicht geliefert hat, was Sinclair wollte. Aber wieso waren sie alle bei St. Mary’s Island? Und wenn sie woanders umgebracht wurden, warum stand Robbies Wagen da?» Und warum wurde Gary Keane auch noch umgebracht nach all den Jahren, wo Alec Sinclair doch längst nicht mehr lebt?
«Sie sind der Ermittler, Kleiner. Nicht ich, jedenfalls nicht mehr.»
«Wollen Sie immer noch bei der Geschichte bleiben, dass Sie die Leiche des Mädchens nicht gesehen hätten?»
«Ich habe Ihnen nichts mehr zu sagen, Äffchen. Schicken Sie die Leierkastenfrau.» Brace hob die Stimme. «Wärter, bringen Sie mich zurück in meinen Flügel. Wir sind hier fertig.»