Vera war zu Hause. Kaum dass sie durch die Haustür getreten war, hatte sie sich die triefenden Klamotten vom Leib gerissen, und jetzt saß sie in der Badewanne, bis zum Hals im heißen Wasser, das sie jedes Mal, wenn es begann auszukühlen wieder nachlaufen ließ. In der Badewanne konnte sie am besten nachdenken. Und jetzt dachte sie über das Telefongespräch nach, das sie auf der Heimfahrt mit Joe geführt hatte. Sie hatte mit dem Land Rover in einer Ausweiche gehalten, denn sie war schon auf dem schmalen Sträßchen gewesen, das sich zu ihrem Haus hochwand, nichtsdestotrotz war der Empfang schlecht gewesen.
«Professor Bradford war heute Nachmittag in Bebington.» Wegen des miserablen Empfangs hatte Joes Stimme fremd und verzerrt geklungen.
«Was wollte er denn da?»
Dann hatte sie schweigend zugehört, während er ihr seine Theorie erklärte. Am Ende hatte sie aufgelegt und zum Abschied nur gesagt, dass sie früh am kommenden Morgen mit ihm sprechen wolle. Insgeheim aber hatte sie sich dazu gratuliert, einen so hervorragenden Ermittler ausgebildet zu haben. Einen Ermittler, der Zusammenhänge erkennen und über das Offensichtliche hinausblicken konnte. Joe war noch auf dem Revier, zusammen mit Holly und Charlie, wo sie so viele Informationen sammelten, wie sie nur konnten, um am Folgetag einsatzbereit zu sein. Wäre sie nicht so triefnass gewesen, sie wäre wohl selbst zurück aufs Revier gefahren und hätte sich ihnen angeschlossen. Der Gedanke, ihr Team könnte auch ohne sie zurechtkommen, behagte ihr ganz und gar nicht.
Und nun lag sie in der Badewanne und starrte auf die Risse an der Decke. Sie war sich nicht sicher, was genau Joes Theorie zu bedeuten hatte, außer, dass sie so schnell wie möglich mit dem Professor sprechen mussten. Zeit, aus dem Wasser zu steigen, beschloss sie dann. Wenn sie noch länger in der Wanne blieb, würde sie verschrumpeln wie eine Trockenpflaume. Oder, schlimmer noch, sie würde einschlafen und erst wieder aufwachen, wenn das Wasser kalt geworden war. Sie hievte sich aus der Badewanne, griff nach einem riesigen grauen Badetuch, das einmal weiß gewesen war, wickelte es sich um den Leib und schlüpfte mit den Füßen in ein Paar Baumwollschlappen, die sie aus einem schicken Hotel hatte mitgehen lassen, in dem sie mal während einer Tagung für Führungskräfte übernachtet hatte.
Im Schlafzimmer zog sie sich an: eine Jogginghose, die sie sich zugelegt hatte, als ihr Arzt meinte, sie müsse körperlich fitter werden, und einen sackartigen Pullover. Die ganze Zeit über rasten ihr die Gedanken durch den Kopf, knüpfte und verwarf sie Zusammenhänge. Nach dem heißen Bad fröstelte sie nun ein wenig, und sie überlegte, ob sie den Kamin anzünden solle, wurde dann aber wieder von neuen Überlegungen abgelenkt, noch bevor sie überhaupt Kienspäne und Zeitungspapier aus dem Eimer neben dem Feuerrost hatte nehmen können. Jetzt betrachtete sie erneut das Foto von Mary-Frances, das sie sich von Patty geliehen hatte. Es erinnerte sie an das Bild von ihrer eigenen Mutter, auf dem diese ebenfalls schwanger war, auch wenn das Foto ihrer Mutter schon viel älter war. Vera fühlte sich wieder wie das kleine Mädchen, das zum Haus der Nachbarn lief, um sich trösten zu lassen. Abermals verspürte sie diese Verbundenheit mit Patty. Beide waren sie, jede auf ihre Weise, von ihren Müttern verlassen worden; beide mit aufbrausenden, tyrannischen Vätern geschlagen. Sie versuchte Joe anzurufen, wurde aber sofort auf den AB weitergeleitet. Weil sie nicht die rechten Worte für eine Nachricht fand, legte sie wieder auf. Bestimmt konnte es bis morgen warten.
Draußen war es inzwischen dunkel. Sie konnte die Lichter des Dorfs unten im Tal sehen und ganz schwach die Rockmusik hören, die ihr Nachbar bei der Arbeit in der Scheune laut aufgedreht hatte. Plötzlich überkam sie Heißhunger, und sie durchwühlte die Kühltruhe auf der Suche nach etwas zu essen, wobei sie ganz unten auf einen Topf mit geschmortem Hammelfleisch stieß, das sie vor Jahren eingefroren haben musste. Ein weiterer kurzer Moment des Triumphs. Zu Hectors Lebzeiten hatten in der Kühltruhe nur tote Vögel und kleinere Wildtiere gelegen. Während sich das Essen zum Auftauen in der Mikrowelle drehte, hob sie ihre nassen Klamotten auf, die sie gleich neben die Küchentür geworfen hatte, und stopfte sie in die Waschmaschine. Ach ja, Herzchen, du bist eine echte Perle. Nach dem Essen schaffte sie es sogar noch, den Abwasch zu erledigen und ein Feuer im Kamin anzuzünden. Der Wind kam jetzt von Nordwesten, und es war deutlich kühler geworden.
Sie musste eingeschlafen sein, denn auf einmal wachte sie mit einem Ruck auf und merkte, dass es draußen stockfinster und das Feuer beinahe erloschen war. Rasch warf sie ein paar Stücke Kohle nach. Hier draußen brauchte sie sich um den Rauch nicht zu scheren. Der Wind war stärker geworden. Sie hörte ihn im Schornstein heulen, und sofort loderte das Feuer auf. Während sie noch überlegte, ob sie sich vor dem Schlafengehen noch eine Tasse Tee machen oder ein Glas Whisky einschenken sollte, vernahm sie plötzlich das Geräusch eines Wagens auf dem Weg. Das war vermutlich Joanna, die von einer ihrer Literaturveranstaltungen kam. Zurzeit machte sie Werbung für ihr neues Buch und war abends viel unterwegs. Aber der Wagen fuhr nicht weiter zum Hof nebenan. Er hielt vor Veras Haus.
Sie hatte die Vorhänge nicht zugezogen – die Mühe machte sie sich normalerweise nicht, solange kein wirklicher Sturm von Osten hereinkam und sie die Kälte aussperren musste –, weshalb sie vom Sessel aus nach draußen sehen konnte. Ein schicker Wagen, nicht Joannas alte Klapperkiste. Trotzdem, selbst als der Wagen schon stand, dachte sie noch einen Moment lang, dass es vielleicht doch Joanna war, dass ihre Nachbarin gesehen hatte, dass bei Vera noch Licht brannte, und auf ein Schwätzchen und ein Glas Wein vorbeischauen wollte. Das machte Joanna manchmal: Sie tauchte mit einer Flasche Rotwein im Arm auf und unterhielt Vera mit Geschichten von Verlegern und Lesern, machte den betrunkenen Agenten nach, dem sie auf einer Party über den Weg gelaufen war, oder das junge Ding, das von einer Privatschule kam und den Job im Verlagswesen nur als vorübergehende Unannehmlichkeit zwischen dem Studium und der Heirat mit einem reichen Banker betrachtete. Joanna brachte sie immer zum Lachen. Sie schaffte es immer, Vera davon zu überzeugen, dass ihr Team sich irrte und sie nämlich doch richtige Freunde hatte.
Jetzt aber war Vera nicht zum Lachen aufgelegt. Sie blieb sitzen und blickte weiter aus dem Fenster, froh, dass sie die Haustür abgesperrt hatte, als sie heimgekommen war. Die Mühe machte sie sich nicht immer, aber hin und wieder kamen ihre Nachbarn hereinspaziert, um ihr einen Korb Gemüse aus dem Garten zu bringen, und als sie sich vorhin aus den nassen Klamotten geschält hatte, hatte sie vermeiden wollen, dass die beiden sie splitterfasernackt überraschten. Nun ging die Autotür auf, und im Schein der kurz aufflammenden Innenraumbeleuchtung konnte sie die Silhouette des Mannes sehen, der ausstieg. Denn es war ein Mann. Vera durchzuckte der Gedanke, dass sie seine Ankunft womöglich schon erwartet hatte, seit dem Moment, als sie ihn oben am Hang vor St. Mary’s Island hatte stehen und auf sie hinabschauen sehen. Der Professor war kein geduldiger Mensch und auch keiner, der sich leicht geschlagen gab. Bestimmt wollte er wissen, was sie gegen ihn in der Hand hatte. Wollte wissen, wie er sie daran hindern konnte, ihre Erkenntnisse weiterzuleiten.
Er war genauso gekleidet, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Tweedmütze und gewachste Jacke, worin er eher nach einem Wildhüter oder Angehörigen des Landadels aussah als nach einem Dichter und Akademiker. Vera dachte, dass sie eines Tages einmal seine Gedichte lesen sollte, obwohl sie nicht viel übrighatte für Gedichte, sofern sie keine Geschichten erzählten. Die Verse des Professors waren vermutlich sehr raffiniert. Bestimmt war er ein Aufschneider. Sie rutschte mit dem Sessel ein Stück nach hinten, sodass sie durch das kleine Fenster nicht gesehen werden konnte. Der Gedanke, er könnte zu ihr hereinspähen, jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Jetzt hämmerte er an die Tür. Vera rührte sich nicht. Sekundenlang war sie wie erstarrt, unfähig, eine Entscheidung zu treffen, ein in eine Bettdecke gewickeltes junges Mädchen, das in eine Welt schaute, die von lauten, älteren Männern regiert wurde. Wieder klopfte er. «Na los, Vera, lass mich rein. Es ist arschkalt hier draußen.»
Beinahe dieselben Worte, nur dass sie diesmal Ärger in ihr hochsteigen ließen und keine Angst mehr. Zum Teufel, sie würde sich nicht hier in der Ecke verkriechen und darauf warten, dass er wieder verschwand. Sie hievte sich aus dem Sessel, froh, dass sie eingeschlafen war, bevor sie sich einen Whisky hatte einschenken können. Jetzt brauchte sie mehr denn je einen klaren Kopf. Sie drehte den schweren Schlüssel im Schloss und öffnete die Tür.
Eigentlich hatte sie ihn noch ein kleines Weilchen lang draußen stehen lassen wollen, bevor sie ihn zum Eintreten aufforderte, um klarzustellen, dass das ihr Haus war und sie hier das Sagen hatte. Doch es gelang ihr nicht. Er marschierte einfach herein, nahm in aller Seelenruhe die Mütze ab und zog die Jacke aus und hängte beides an den Garderobenständer im Flur, dann ging er weiter in ihr Wohnzimmer, ohne dass sie ihm den Weg weisen musste.
«Hier hat sich ja nicht viel verändert.» Er klang belustigt. «Und ich dachte, du hättest es ein bisschen aufgemöbelt, Vera. Allem einen femininen Anstrich verliehen. Ist aber immer noch ziemlich aufs Wesentliche reduziert.» Er schüttete noch etwas Kohle ins Feuer und setzte sich auf den Stuhl, der ihrem Sessel gegenüberstand. Den, auf dem sie immer gesessen hatte, solange Hector noch am Leben war.
«Was wollen Sie hier?»
«Nur ein bisschen mit der Tochter eines alten Freundes plaudern. Ist doch nichts Schlimmes dabei. Ich glaube fest an die Freundschaft, Vera. An Loyalität.» Und nun blickte er ihr fest ins Gesicht. «Und genau darüber wollte ich mit dir reden. Über Hector und über Loyalität.»