Kapitel dreiundvierzig

Vera war zu Hause. Kaum dass sie durch die Haustür getreten war, hatte sie sich die triefenden Klamotten vom Leib gerissen, und jetzt saß sie in der Badewanne, bis zum Hals im heißen Wasser, das sie jedes Mal, wenn es begann auszukühlen wieder nachlaufen ließ. In der Badewanne konnte sie am besten nachdenken. Und jetzt dachte sie über das Telefongespräch nach, das sie auf der Heimfahrt mit Joe geführt hatte. Sie hatte mit dem Land Rover in einer Ausweiche gehalten, denn sie war schon auf dem schmalen Sträßchen gewesen, das sich zu ihrem Haus hochwand, nichtsdestotrotz war der Empfang schlecht gewesen.

«Professor Bradford war heute Nachmittag in Bebington.» Wegen des miserablen Empfangs hatte Joes Stimme fremd und verzerrt geklungen.

Dann hatte sie schweigend zugehört, während er ihr seine Theorie erklärte. Am Ende hatte sie aufgelegt und zum Abschied nur gesagt, dass sie früh am kommenden Morgen mit ihm sprechen wolle. Insgeheim aber hatte sie sich dazu gratuliert, einen so hervorragenden Ermittler ausgebildet zu haben. Einen Ermittler, der Zusammenhänge erkennen und über das Offensichtliche hinausblicken konnte. Joe war noch auf dem Revier, zusammen mit Holly und Charlie, wo sie so viele Informationen sammelten, wie sie nur konnten, um am Folgetag einsatzbereit zu sein. Wäre sie nicht so triefnass gewesen, sie wäre wohl selbst zurück aufs Revier gefahren und hätte sich ihnen angeschlossen. Der Gedanke, ihr Team könnte auch ohne sie zurechtkommen, behagte ihr ganz und gar nicht.

Und nun lag sie in der Badewanne und starrte auf die Risse an der Decke. Sie war sich nicht sicher, was genau Joes Theorie zu bedeuten hatte, außer, dass sie so schnell wie möglich mit dem Professor sprechen mussten. Zeit, aus dem Wasser zu steigen, beschloss sie dann. Wenn sie noch länger in der Wanne blieb, würde sie verschrumpeln wie eine Trockenpflaume. Oder, schlimmer noch, sie würde einschlafen und erst wieder aufwachen, wenn das Wasser kalt geworden war. Sie hievte sich aus der Badewanne, griff nach einem riesigen grauen Badetuch, das einmal weiß gewesen war, wickelte es sich um den Leib und schlüpfte mit den Füßen in ein Paar Baumwollschlappen, die sie aus einem schicken Hotel hatte mitgehen lassen, in dem sie mal während einer Tagung für Führungskräfte übernachtet hatte.

Im Schlafzimmer zog sie sich an: eine Jogginghose, die sie sich zugelegt hatte, als ihr Arzt meinte, sie müsse

Draußen war es inzwischen dunkel. Sie konnte die Lichter des Dorfs unten im Tal sehen und ganz schwach die Rockmusik hören, die ihr Nachbar bei der Arbeit in der Scheune laut aufgedreht hatte. Plötzlich überkam sie Heißhunger, und sie durchwühlte die Kühltruhe auf der Suche nach etwas zu essen, wobei sie ganz unten auf einen Topf mit geschmortem Hammelfleisch stieß, das sie vor Jahren eingefroren haben musste. Ein weiterer kurzer Moment des Triumphs. Zu Hectors Lebzeiten hatten in der Kühltruhe nur tote Vögel und kleinere Wildtiere gelegen. Während

Sie musste eingeschlafen sein, denn auf einmal wachte sie mit einem Ruck auf und merkte, dass es draußen stockfinster und das Feuer beinahe erloschen war. Rasch warf sie ein paar Stücke Kohle nach. Hier draußen brauchte sie sich um den Rauch nicht zu scheren. Der Wind war stärker geworden. Sie hörte ihn im Schornstein heulen, und sofort loderte das Feuer auf. Während sie noch überlegte, ob sie sich vor dem Schlafengehen noch eine Tasse Tee machen oder ein Glas Whisky einschenken sollte, vernahm sie plötzlich das Geräusch eines Wagens auf dem Weg. Das war vermutlich Joanna, die von einer ihrer Literaturveranstaltungen kam. Zurzeit machte sie Werbung für ihr neues Buch und war abends viel unterwegs. Aber der Wagen fuhr nicht weiter zum Hof nebenan. Er hielt vor Veras Haus.

Sie hatte die Vorhänge nicht zugezogen – die Mühe machte sie sich normalerweise nicht, solange kein wirklicher Sturm von Osten hereinkam und sie die Kälte aussperren musste –, weshalb sie vom Sessel aus nach draußen sehen konnte. Ein schicker Wagen, nicht Joannas alte Klapperkiste. Trotzdem, selbst als der Wagen schon stand, dachte sie noch einen Moment lang, dass es vielleicht doch Joanna war, dass ihre Nachbarin gesehen hatte, dass bei Vera noch Licht brannte, und auf ein Schwätzchen und ein Glas Wein vorbeischauen wollte. Das machte Joanna manchmal:

Jetzt aber war Vera nicht zum Lachen aufgelegt. Sie blieb sitzen und blickte weiter aus dem Fenster, froh, dass sie die Haustür abgesperrt hatte, als sie heimgekommen war. Die Mühe machte sie sich nicht immer, aber hin und wieder kamen ihre Nachbarn hereinspaziert, um ihr einen Korb Gemüse aus dem Garten zu bringen, und als sie sich vorhin aus den nassen Klamotten geschält hatte, hatte sie vermeiden wollen, dass die beiden sie splitterfasernackt überraschten. Nun ging die Autotür auf, und im Schein der kurz aufflammenden Innenraumbeleuchtung konnte sie die Silhouette des Mannes sehen, der ausstieg. Denn es war ein Mann. Vera durchzuckte der Gedanke, dass sie seine Ankunft womöglich schon erwartet hatte, seit dem Moment, als sie ihn oben am Hang vor St. Mary’s Island hatte stehen und auf sie hinabschauen sehen. Der Professor war kein geduldiger Mensch und auch keiner, der sich leicht geschlagen gab. Bestimmt wollte er wissen, was sie gegen ihn in der Hand hatte. Wollte wissen, wie er sie daran hindern konnte, ihre Erkenntnisse weiterzuleiten.

Er war genauso gekleidet, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Tweedmütze und gewachste Jacke, worin er eher nach einem

Beinahe dieselben Worte, nur dass sie diesmal Ärger in ihr hochsteigen ließen und keine Angst mehr. Zum Teufel, sie würde sich nicht hier in der Ecke verkriechen und darauf warten, dass er wieder verschwand. Sie hievte sich aus dem Sessel, froh, dass sie eingeschlafen war, bevor sie sich einen Whisky hatte einschenken können. Jetzt brauchte sie mehr denn je einen klaren Kopf. Sie drehte den schweren Schlüssel im Schloss und öffnete die Tür.

Eigentlich hatte sie ihn noch ein kleines Weilchen lang draußen stehen lassen wollen, bevor sie ihn zum Eintreten aufforderte, um klarzustellen, dass das ihr Haus war und sie hier das Sagen hatte. Doch es gelang ihr nicht. Er marschierte einfach herein, nahm in aller Seelenruhe die Mütze ab und zog die Jacke aus und hängte beides an den Garderobenständer im Flur, dann ging er weiter in ihr Wohnzimmer, ohne dass sie ihm den Weg weisen musste.

«Was wollen Sie hier?»

«Nur ein bisschen mit der Tochter eines alten Freundes plaudern. Ist doch nichts Schlimmes dabei. Ich glaube fest an die Freundschaft, Vera. An Loyalität.» Und nun blickte er ihr fest ins Gesicht. «Und genau darüber wollte ich mit dir reden. Über Hector und über Loyalität.»