Auf dem Revier wurde Holly, die beobachtete, wie Joe die Ermittlungen koordinierte, klar, um wie viel selbstbewusster ihr Kollege geworden war seit der Zeit, als sie ihn kennengelernt hatte. Inzwischen schien er seinem eigenen Urteil zu vertrauen und musste nicht mehr ständig zu Vera rennen, um sich abzusichern. Holly fragte sich, wie lang es wohl noch dauern würde, bis er sich um eine Beförderung bemühte, um ein eigenes Team, und ob Vera darin einen Gewinn sehen würde – die Bestätigung ihrer Fähigkeiten als Ausbilderin – oder aber einen Verrat.
Jetzt kam Joe zu ihr an den Tisch und befragte sie noch einmal zu den Gesprächen, die sie in Bebington mit den Nachbarn von Gary Keane geführt hatte. Sie ließen Whitley Bay einstweilen außen vor und hatten die Aufmerksamkeit nun vor allem auf das ehemalige Bergarbeiterstädtchen gerichtet, in dem Keane gelebt hatte und schließlich umgebracht worden war. Joe fing an, indem er erklärte, wie leicht man ein Detail übersah, das sich später als entscheidend entpuppen konnte: «Dasselbe ist mir heute Morgen bei meinem Besuch bei Brace in Warkworth passiert. Ich wusste, dass ich etwas Wichtiges übersehen hatte. Bestimmt weißt du, wie das ist – als würde man jemanden treffen, den man kennt, an dessen Namen man sich aber einfach nicht erinnern kann. Als ich dann aber das Foto von Bradford sah, machte es plötzlich ‹klick›.» Er wollte, dass Holly sich entspannte und locker wurde: Sie sollte sich nicht verrückt machen, wenn sie bei den Befragungen vor Ort etwas übersehen hatte. Wieder dachte sie, dass er einen guten Chef abgeben würde.
Charlie hing am Telefon und war dabei, sowohl seinen Kontakten als auch völlig Fremden Informationen aus den Rippen zu leiern. Sie versuchten immer noch händeringend herauszufinden, wo Bradford sich im Moment aufhielt. Sein Kennzeichen war zur Fahndung ausgeschrieben, und die Verkehrsüberwachung und die Beamten auf Streife wollten Charlie umgehend Bescheid geben, wenn der Wagen irgendwo auftauchte. Ein Beamter der Dienststelle in Seahouses war zu Bradfords Villa geschickt worden. Sollte der Professor dort aufkreuzen, würde er sofort verhaftet.
Holly hatte trotz allem das Bedürfnis, sich zu verteidigen. Sie wusste, dass sie bei diesem ganzen zwischenmenschlichen Kram nicht gut war. Bei Patty Keane zum Beispiel hatte sie wirklich ihr Bestes versucht und trotzdem gespürt, dass Patty sich in ihrer Gegenwart nicht wohlfühlte und kein Vertrauen zu ihr hatte. Während sie nun mit Joe Ashworth sprach, wurde Holly klar, dass sie es bei der Befragung von Gary Keanes Nachbarn an Gründlichkeit hatte fehlen lassen. Sie hatte die Routinefragen abgearbeitet, sich aber nicht die Zeit genommen, richtig nachzubohren. Sie hatte schlicht nicht die richtigen Fragen gestellt.
Sie versuchte Joe zu erklären, wie sie sich fühlte. «Ich kann so was einfach nicht gut. Vera taucht irgendwo auf, und schon reden die Leute mit ihr. Sie erzählen ihr ihre schlimmsten Geheimnisse. Wie macht sie das bloß?»
«Sie interessiert sich für sie», meinte Joe. «Ob es für den Fall nun wichtig ist oder nicht, sie interessiert sich für das, was die Leute ihr erzählen.» Er legte eine kleine Pause ein. «Weil sie eine neugierige alte Schachtel und in ihrem Leben sonst nichts los ist.»
Darüber dachte Holly nach. Wie viel war eigentlich in ihrem Leben so los? Vielleicht wurde es Zeit, ein bisschen mehr aus sich herauszugehen, Leute kennenzulernen und Freundschaften außerhalb der Arbeit zu schließen.
«Und davon abgesehen», fuhr Joe unvermittelt grinsend fort, bevor er wieder ernst dreinblickte, «bist du ja nicht die Einzige, die in der Anchor Lane Mist gebaut hat, oder? Ich selbst hab’s da ja wohl erst recht vermasselt.»
Mittlerweile war es schon spät, und der Rest des Reviers lag verlassen da. Sie konnten den Verkehr von der Straße unten hören und eine Gruppe junger Leute, die nach einem Abend im Pub auf Krawall aus waren. Charlie telefonierte gerade mit dem Gefängnis, doch offenbar wollte dort niemand die Verantwortung übernehmen und ihm die Informationen geben, die sie brauchten. Nachts, wenn die Gefangenen alle eingeschlossen waren, war das Personal auf eine Rumpfbelegschaft reduziert.
«Es muss doch noch einen Entscheidungsträger geben, der Bereitschaft hat», sagte Charlie. Auch er war im vergangenen Jahr aufgeblüht und durchsetzungsfähiger geworden. Holly dachte, dass sie vermutlich die Einzige im Team war, die sich überhaupt nicht weiterentwickelt hatte. «Gut, dann machen Sie das doch bitte und sagen Sie ihm, er soll mich zurückrufen, sobald Sie ihn erreicht haben.» Charlie legte den Hörer auf und murmelte etwas von wegen «bescheuerte Prinzipienreiter».
Joe stellte ihr noch immer Fragen zu Bebington und brachte Holly dazu, ihm alles über die Geschäftsleute in Keanes Straße zu erzählen, woran sie sich erinnern konnte, und die Gespräche nahezu Wort für Wort zu wiederholen.
Jetzt läutete Charlies Telefon, und er hob sofort ab. Vielleicht dachte er ja, sie hätten den Gefängnisdirektor aus dem Bett – oder wo immer er gerade stecken mochte – geklingelt. Doch offensichtlich war es jemand anderes. Der Anruf dauerte nicht lang, und Charlie stellte nur eine Frage: «Wo?» Dann legte er auf, und alle sahen ihn an.
«Vor einer halben Stunde hat ein Streifenwagen Bradfords Auto in Morpeth gesehen. Aus irgendeinem Grund haben die Schafsköpfe bis jetzt gebraucht, um uns das zu sagen.»
«Ist der Beamte ihm nachgefahren?» Das kam von Joe, der wieder die Leitung übernahm. Holly hatte nichts dagegen. Diesmal war sie sogar froh, keine Verantwortung tragen zu müssen.
«Nein, er wollte ihn nicht aufscheuchen. Bradford hat den Ort auf der Straße Richtung Mitford und Cambo verlassen. Zu dieser nachtschlafenden Zeit ist da kaum noch wer unterwegs, und Bradford wäre es aufgefallen, wenn ihm ein Streifenwagen gefolgt wäre.»
Sekundenlang sahen sich alle schweigend an. «Was wollte er da?», fragte Charlie dann. «Wenn er heim nach Seahouses fahren wollte, hätte er die Küstenstraße nehmen müssen oder die A1. Die Straße jetzt führt ihn landeinwärts.»
«Da geht’s zu Veras Haus.» Joe hatte den Hörer bereits in der Hand und tippte hektisch die Nummer ihres Festnetzanschlusses. Niemand hob ab.
«Vielleicht ist sie schon im Bett», schlug Charlie vor.
«Sie hat das Telefon neben dem Bett stehen, und ich habe schon miterlebt, wie sie sternhagelvoll war und trotzdem noch drangegangen ist.» Stille. «Außerdem würde sie sich mitten in einem Fall nicht dermaßen volllaufen lassen.» Joe wählte bereits die nächste Nummer. «Ich versuch’s mal auf ihrem Handy.» Er hielt den Hörer in die Höhe, sodass alle das Freizeichen hören konnten und dann die Stimme vom Band, die ihnen mitteilte, dass Inspector Stanhope gerade nicht ans Telefon gehen könne und sie ihr eine Nachricht hinterlassen sollten.
«Vielleicht ist sie drüben bei ihren Nachbarn. Du weißt doch, wie miserabel der Handyempfang da oben ist.» Doch Holly wusste, dass Vera nicht bei ihren Nachbarn war.
Joe drehte sich um und sah von einem zum anderen. «Was sollen wir unternehmen? Ich denke, wir sollten sofort eine bewaffnete Einsatztruppe zu ihr schicken. Wir wissen, dass Bradford ein Mörder ist, und bestimmt ist er verzweifelt.»
«Nein!» Und plötzlich war Holly bereit, die Verantwortung für eine Entscheidung zu übernehmen. Sie wusste, eine bewaffnete Truppe wäre das Letzte, was Vera wollte, selbst wenn Bradford tatsächlich bei ihr im Haus war. Selbst wenn ihr Leben in Gefahr war. Für sie käme das einem Eingeständnis des Scheiterns gleich, und das ganze Bohei wäre ihr zuwider. «Wir müssen ihr vertrauen, nicht wahr? Sie kennt den Mann, sie hat Kontakt zu ihm aufgenommen und wollte sich heute Nachmittag in Whitley Bay mit ihm treffen. Offenbar geht sie davon aus, dass man mit ihm reden kann. Bestimmt will sie ein Geständnis von ihm. Eine Erklärung. Immerhin haben wir noch keinen Beweis.»
«Sie war noch ein Kind, als sie ihn zuletzt gesehen hat, und heute Nachmittag wollte sie sich an einem öffentlichen Platz mit ihm treffen, nicht in einem Haus am Ende der Welt.» Joe wählte grundsätzlich den Weg der Vorsicht. «Das Risiko will ich nicht eingehen.»
«Vera würde es eingehen», sagte Charlie. Nicht gemurmelt, wie sonst immer. Die Worte kamen laut und deutlich heraus. «Ich glaube, Holly hat recht. Keine Panik und bloß nichts übertreiben. Wir fahren selbst hin.»
Sie nahmen Charlies Wagen, und er fuhr. Er sagte, dies sei jahrelang sein Bezirk gewesen und er kenne alle Abkürzungen. Holly saß neben ihm und Joe hinten auf dem Rücksitz. Das hatte er selbst so gewollt. Keiner sagte etwas, während der Wagen über die schmalen Landstraßen schoss. Bald schon hatten sie das flache Land hinter sich gelassen, und die Hecken und zugewucherten Böschungen wurden, je weiter sie in die Berge kamen, von Trockensteinmauern abgelöst. Das Wetter hatte wieder umgeschlagen. Es war nicht mehr feucht und schwül, sondern windig mit kurzen, heftigen Schauern. Holly fröstelte, und Charlie schaltete die Heizung ein. Sie rasten durch ein Dorf mit ein paar Laternen und einer Reihe dunkel daliegender Cottages. Dann fuhren sie das vertraute Sträßchen hoch zu dem Haus, in dem Vera schon seit ihren Kindertagen lebte.
Einige hundert Meter vor ihrem Ziel hielt Charlie in der Toreinfahrt eines Hofs an. «Wir wollen ihn ja nicht vorwarnen, oder?» Dann schaltete er Scheinwerfer und Motor aus. Auf einmal war alles still.
«Und, wie lautet der Plan?» Holly drehte sich nach hinten zu Joe.
«Sie macht nie die Vorhänge zu. Zunächst mal schauen wir nach, was los ist. Dann sehen wir weiter.»
Holly fragte sich, was Vera wohl davon halten würde, dass sie alle drei zu ihrer Rettung herangaloppiert kamen, wo sie doch wahrscheinlich überhaupt nicht gerettet werden musste. Würde sie in einen ihrer unkontrollierbaren Lachanfälle ausbrechen, bis ihr die Tränen kamen, oder aber von weißglühender Wut gepackt werden? Trotzdem – besser so als aufblitzende Blaulichter und eine bewaffnete Einsatztruppe. Sie machten sich auf den Fußmarsch zum Haus, tasteten sich im Dunkeln voran und kamen mehrmals vom Weg ab, um auf dem beiderseits abgefressenen Gras zu landen. Das Sträßchen machte einen Knick, und plötzlich war es heller, denn Joe hatte recht gehabt: Aus den Fenstern fiel Licht. Vor dem Haus stand Bradfords schicker Wagen. Mittlerweile kannten sie das Nummernschild alle auswendig. Und da rochen sie den Rauch und begriffen, dass das Licht vom Haus her nicht gleichmäßig glühte wie von einer elektrischen Lampe, sondern dass das Gebäude in Flammen stand. Die Flammen leckten schon um die Haustür und schoben sich durch die Ritzen zwischen Tür und Türsturz, als wollten sie entkommen.