Bradford hatte die plötzliche Dunkelheit offenbar weit mehr aus dem Konzept gebracht als Vera. Sie wusste, dass der Strom jedes Mal ausfiel, wenn es draußen etwas heftiger stürmte. Die Leitung zu den beiden Häusern hier oben war schadhaft, und das Elektrizitätswerk hatte schon vor langer Zeit versprochen, sie zu reparieren, es aus irgendeinem Grund jedoch bisher nicht geschafft. Vera tastete sich zur Haustür vor und sah, dass der Hof von Jack und Joanna auch im Dunkeln lag. Morgen früh würden sie das Problem wieder beheben, und bis dahin konnte man sich mit Kerzen und der Petroleumlampe behelfen. Die Kerzen standen noch vom letzten Stromausfall auf Untertassen auf dem Kaminsims, und in der Schachtel waren noch ein paar Streichhölzer vom Feuermachen übrig. Als sie die Kerzen angezündet hatte, sah Vera, dass Bradford sich nicht vom Fleck gerührt hatte. Er hatte einen leisen Schreckenslaut ausgestoßen und schien dann erstarrt zu sein. Die Petroleumlampe stand auf dem breiten Fenstersims, wo Vera sie nun ebenfalls anzündete. Sie hielt ein Streichholz an den Docht und drehte an der Messingschraube, bis sich ein weißes Licht ausbreitete.
Kaum hatte sie sich wieder hingesetzt, beugte Bradford sich vor. Sein Gesicht wurde auf der einen Seite von den glühenden Kohlen im Kamin beleuchtet und auf der anderen vom harten weißen Schein der Petroleumlampe. Während sie damit herumgetrödelt hatte, wieder ein wenig Licht ins Dunkel zu bringen, hatte er seinen Angriff vorbereitet. «Findest du nicht auch, Vera, dass wir’s gut sein lassen sollten, so wie es ist? Nichts kann das junge Mädchen wieder zum Leben erwecken, und der Kerl, der sie umgebracht hat, ist tot. John Brace ist krank und steht kurz vor der Entlassung. Sollen er und seine Liebste ihre letzten Jahre doch in Frieden verbringen.» Auf das Wort «Liebste» hatte er einen leicht spöttischen Nachdruck gelegt.
Was Vera eine Sekunde lang ablenkte. «Haben Sie eigentlich jemals jemanden geliebt?»
Von der Frage überrascht, gab er ein unterdrücktes leises Lachen von sich, antwortete dann aber trotzdem. «Meine Frau jedenfalls nicht. Das war von Anfang an eine Katastrophe. Ich liebte Hector, meinen Mentor und guten Freund.» Dann wurde seine Stimme ernst. «Er hätte gewusst, was jetzt am besten wäre. Er hätte die Dinge auf sich beruhen lassen.»
Sie wollte ihm sagen, dass er aufhören solle, sie für dumm zu verkaufen, dass sie sich einen Dreck darum schere, was Hector gemacht hätte. Doch es gab andere, wichtigere Dinge, die sie loswerden musste. «Was ist mit Ihrer Tochter? An ihr liegt Ihnen doch etwas? Immerhin haben Sie ihr den Buchladen in Bebington eingerichtet.»
«Ah, wie ich sehe, hast du von Felicity erfahren.» Wieder lachte er kurz auf. «Vielleicht hat Hector deine Intelligenz ja doch unterschätzt.»
Sie schwieg kurz und konnte im Hintergrund das Zischen der Petroleumlampe und das Heulen des Sturms draußen hören.
«Sie wissen genau, dass ich es nicht auf sich beruhen lassen kann», sagte sie dann. «Sie und Hector waren die ganzen Jahre über auf dem Holzweg, als Sie es für schlau hielten, die Regeln zu brechen. Vogeleier zu stehlen. Mit Raubvögeln Handel zu treiben.»
«Das sind ganz schön dämliche Regeln.» Er klang belustigt. Als spräche er mit einem seiner weniger begabten Studenten.
«Darum geht es aber nicht. Auch wenn Sie das glauben, ja selbst wenn Sie damit recht haben sollten, gilt doch immer noch das Gesetz. All die kleinen Leute, die Sie so verachten, müssen sich daran halten, und Sie müssen es auch. Ich muss es auch.» Sie blickte zu ihm hinüber. «Davon abgesehen ist da ja auch noch die Sache mit Gary Keane. Den Mord an ihm kann man unmöglich vom Tisch wischen.»
Darauf bekam sie keine Antwort. Er hatte die Ellbogen auf die Knie gestützt und starrte auf den Flickenteppich hinunter, der vor ihm auf dem Steinboden lag.
«Dann fahre ich mal fort mit meiner Geschichte, ja?», meinte sie nach einem Weilchen. «Lassen Sie uns einen Sprung in die Gegenwart machen. Sie und Sinclair haben mit Gary Keane eine Art Frankenstein erschaffen. Aus einem bösen Buben, der sich mit Elektronik und Computern auskennt, haben Sie einen Kriminellen mit Ambitionen gemacht. Der dann auch noch die Frechheit hatte, mit Ihrer Tochter auszugehen, nicht wahr? Mit der bezaubernden Felicity. Als Sie ihr den Buchladen einrichteten, wussten Sie da überhaupt, dass es sein Laden war, an der Ecke der Anchor Lane?»
«Wir sind immer in Verbindung geblieben», sagte Bradford. «Seit den Tagen im Seagull. Hin und wieder erwies er sich als ganz nützlich. Er wusste, dass ich Geschäftsräume suche. Felicity hatte ihr Herz nun mal an einen Buchladen gehängt. Sie hing dem romantischen Traum nach, man müsse den Massen die Literatur nahebringen. Damit, dass die beiden so gute Freunde würden, habe ich natürlich nicht gerechnet.»
«Aber das war nicht der Grund, weshalb Sie ihn umbrachten, Professor, oder?» Sie sprach ihn mit seinem alten Spitznamen an, dem Namen, den Hector ihm gegeben hatte und den sie hier in diesem Haus für passender hielt. «Sie brachten ihn um, weil Sie Ihrem alten Kumpel John Brace einen Gefallen tun wollten. Weil Gary es mit einer kleinen Erpressung versucht hatte. Vielleicht glaubte er ja, dass Felicity ihn ernster nehmen würde, wenn er etwas Geld hätte. Vielleicht war sie ihm so wichtig, dass er gar nicht erkannte, was für ein gefährliches Spiel er da spielte, wenn er versuchte, dem besten Freund ihres Vaters Geld abzupressen.»
Langsam hob Bradford den Blick. «Dir ist klar, dass du nichts davon je wirst beweisen können?»
«Sieh an, da ist sie wieder, diese Überheblichkeit. Sie halten sich immer noch für schlauer als alle anderen. Und genau das hat Sie schließlich reingeritten. Die kleinen Dinge. Eine Nachricht auf Keanes AB zu hinterlassen, zum Beispiel, oder nach dem Mord noch in der Nähe des Tatorts herumzulungern, sodass ein verlässlicher Zeuge aussagen kann, Sie vor Ort gesehen zu haben.»
Es freute sie, dass er darauf keine Antwort wusste.
«Mal sehen, ob ich alles richtig auf die Reihe bekomme.» Vera schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. «Mal sehen, ob ich ungefähr so schlau bin wie Sie. Gary wusste, dass die Tote von St. Mary’s Island nicht Mary-Frances Lascuola sein konnte – er hatte dabei geholfen, ihr eine neue Identität zu beschaffen –, und dachte, das könne er auch beweisen. Patty besaß ein Medaillon mit einer Locke vom Haar ihrer Mutter. Und heutzutage weiß jeder, was so ein bisschen DNA alles erzählen kann. Die magische Antwort auf Kriminalfälle, die Wunderwaffe. Als Patty nicht zu Hause war, brach Gary bei ihr ein und klaute das Medaillon, dann drohte er John Brace damit, es der Polizei zu geben, wenn der Alte nicht zahlen würde. Dann wüssten wir, dass Mary-Frances vermutlich noch am Leben ist, und würden anfangen, nach ihr zu suchen. Allerdings brauchten wir die DNA überhaupt nicht, um herauszufinden, dass es sich bei der Toten um jemand ganz anderen handelte. Aber als Gary den Druck erhöhte, nahm John Kontakt zu Ihnen auf und bat Sie um Hilfe. Nach all den Jahren liebt er sie noch immer. Wie Sie ja selbst sagten, würde er alles tun, um Mary-Frances zu beschützen. Also wandte er sich an seinen Freund. Und als ewiger Gentleman willigten Sie ein. Das war eine Frage der Ehre.»
Vera hoffte, dass Bradford den Hohn aus ihrer Stimme heraushörte. Das Feuer im Kamin war mittlerweile fast erloschen, aber sie warf keine Kohle oder Holz mehr nach. Ihre Geschichte näherte sich dem Ende. Sie war müde und froh, dass all dies bald vorbei sein würde.
Nun wandte sie sich wieder Bradford zu. «Gary hatte keine Ahnung, nicht wahr, als Sie ihn um ein Treffen baten? Bestimmt dachte er, Sie wollten ein Geschäft mit ihm abschließen. Wahrscheinlich war er sogar geschmeichelt, dass Sie zu ihm nach Hause kommen wollten und ihn behandelten wie Ihresgleichen. Der Vater seiner hübschen neuen Freundin. Er kaufte eine gute Flasche Wein und putzte die Wohnung. Aber dann erstachen Sie ihn mit seinem eigenen Küchenmesser und ließen ihn auf dem Küchenboden verbluten. Das waren doch Sie, oder? Und nicht Mary-Frances? Die haben Sie vermutlich draußen gelassen, damit sie Schmiere steht.» Sie rieb sich die Stirn. «Das war eine gute Tarnung, das muss ich zugeben. Zwei ältere Leutchen, die im Stadtgarten arbeiten. Wer würde die je des Mordes verdächtigen? Hat es Ihnen Spaß gemacht, Mary-Frances’ Mann zu spielen? Hat es Ihnen einen Kitzel verschafft? Es muss ein Schock für Sie gewesen sein, als plötzlich mein Sergeant auftauchte und Fragen stellte. Bestimmt gingen Sie davon aus, dass Garys Leiche erst am nächsten Morgen gefunden würde. Und Sie sind doch immer anonym geblieben, Sie beide. Geheimnisvoll und nicht zu fassen. Bis mein Sergeant ein Foto von Ihnen bei der Verleihung irgendeines Literaturpreises ausdruckte und merkte, dass er Sie schon mal gesehen hatte: in der Anchor Lane, an dem Abend, an dem Gary Keane ums Leben kam. Und das rief bei ihm die Erinnerung an ein weiteres Bild hervor: das miserable Foto der Leiterin der Ausbildungsstelle im Warteraum des Gefängnisses von Warkworth. Hope Lethbridge, auch bekannt als Mary-Frances Lascuola. Die versucht, mehr Leben zu retten als nur das eigene. Und dem Mann, den sie liebt, dabei so nahe zu sein wie möglich.»
«Damit kannst du kein Gericht der Welt überzeugen, Vera, und das weißt du auch. Hope und ich sind angesehene Leute, und die Jury lässt sich von den eloquenten Angehörigen des Mittelstands immer um den Finger wickeln. Du hast keinen einzigen forensischen Beweis.»
«Das Gericht zu überzeugen ist nicht meine Aufgabe. Das soll mal schön der Staatsanwalt erledigen. Meine Aufgabe ist es, Sie vor Gericht zu bringen, und dafür habe ich, glaube ich, genug in der Hand.» Ihre Kehle war trocken, weil sie so viel gesprochen hatte, und sie merkte, wie ihr langsam die Augen zufielen. Aber bevor sie ihn aufs Revier brachte, um seine Aussage aufzunehmen, würde sie wohl keinen Schlaf mehr bekommen. Vermutlich hatte er sogar recht, und eine Jury würde ihn und Mary-Frances freisprechen, aber merkwürdigerweise war ihr das weniger wichtig, als endlich die Wahrheit zu kennen.
Vielleicht war sie doch kurz eingenickt, denn sie hatte gar nicht gemerkt, dass er aufgestanden war, bis plötzlich die Petroleumlampe quer durchs Wohnzimmer nach ihr geworfen wurde. Sie musste sich instinktiv geduckt haben, und die Lampe verpasste knapp ihren Kopf und zerbrach zu ihren Füßen auf dem Boden. Der Flickenteppich fing sofort Feuer, und die Flammen leckten rasend schnell darüber hin. Die Vorhänge im Wohnzimmer waren bodenlang. Schon seit ihrer Kindheit hätten sie einmal gesäumt werden müssen, und innerhalb von Sekunden brannten sie lichterloh. Dann sah Vera, dass die Beine von Bradfords Hosen Feuer gefangen hatten. Sie rannte in die Küche, ließ eine Schüssel voll Wasser laufen und hastete damit zurück, um es über Bradford zu schütten. Er hatte sich nicht gerührt, um die Flammen auszutreten oder dem Feuer zu entfliehen. Er stand einfach nur da, wie festgenagelt, und hielt die Arme leicht in die Höhe, während die Flammen an ihm emporloderten. Und er gab keinen Laut von sich. Nur an seinem verzerrten Gesicht konnte man die Schmerzen erkennen, die er litt, und Vera wusste im selben Moment, dass sie dieses Bild nie wieder loswerden würde. Sie schüttete das Wasser in seine Richtung, merkte aber, dass es ihm nicht mehr helfen konnte. Sie konnte nicht mehr nahe genug an ihn herantreten, und er bekam kaum etwas von dem Wasser ab. Dies war sein Opfer, seine letzte grandiose Freundschaftsgeste.
Sie vernahm ein Hämmern an der Haustür und stürzte darauf zu.