Kapitel drei

Erst als sie fast schon wieder in Kimmerston war, fiel Vera das Eis wieder ein, doch sie empfand nur einen kurzen Hauch des Bedauerns über die entgangene Leckerei. In Gedanken war sie bereits ganz woanders. Auf der Ringstraße waren wieder Bauarbeiten im Gange, und als sie endlich im Revier ankam, war bereits Feierabendzeit. Auf der Treppe begegnete sie Joe Ashworth, der die Autoschlüssel schon in der Hand hielt. In letzter Zeit hatte sie mitunter den Eindruck, er sei mehr Chauffeur als Ermittler. Ständig musste er dringend heim, um die Kinder zu den Musikstunden zu fahren oder zum Fußballtraining. Es fehlte ihr, nach der Arbeit noch ein Bier mit ihm trinken zu gehen und zu plaudern. Als die Kinder noch kleiner waren, war es einfacher gewesen; er war zwar ein moderner Vater, aber selbst Sally hatte eingesehen, dass er die Babys nicht stillen konnte.

«Können die Kinder nicht einfach draußen spielen?», hatte sie einmal gefragt. «So wie wir früher?» Obwohl es in

Joe hatte sie angesehen, als wäre sie verrückt geworden. «Man kann Kinder heutzutage doch nicht einfach so nach draußen lassen. Die Welt hat sich verändert. Da draußen ist es nicht sicher.»

Doch Vera glaubte, dass die exklusive Wohnanlage, in der er mit seiner Familie lebte, wahrscheinlich der sicherste – und langweiligste – Ort auf Erden war. Davon abgesehen, war sie selbst zu einer Zeit auf die Welt gekommen, als die berüchtigten Moormörder ihr Unwesen trieben, was auch keine panischen moralischen Diskussionen darüber ausgelöst hatte, ob Kinder draußen spielen durften. Aber was wusste sie schon von den Anforderungen des Elternseins?

Jetzt blieb Joe kurz stehen, die Füße auf zwei verschiedenen Treppenstufen, eine Körpersprache, die deutlich machte, dass er keine Zeit für ein langes Gespräch hatte, auch wenn er sie gut genug kannte, um zu sehen, dass sie in helle Aufregung versetzt war. «Ich dachte, Sie wollten vom Gefängnis aus direkt nach Hause fahren.»

«Aye, na ja, mir ist etwas dazwischengekommen.»

Einen Augenblick lang zögerte er. Sie spürte, wie die Loyalität zu den beiden Frauen in seinem Leben ihn in entgegengesetzte Richtungen zog. «Wenn es wichtig ist, kann ich Sally bitten, Jess vom Jugendorchester abzuholen.»

«Ach nein, Herzchen, Sie sollten sie jetzt nicht mehr aus

Das gab den Ausschlag für ihn. «Nein, ich rufe Sally schnell an. Die Kleinen müssen schließlich noch nicht ins Bett. Sie kann sie einfach ins Auto setzen und mitnehmen, wenn sie Jess abholt. Das versteht sie schon.»

Was Vera zwar bezweifelte, sie aber nicht daran hinderte, sich ein kleines triumphierendes Lächeln zu gönnen, als sie die Treppe weiter hochstieg, um Joe den Anruf in Ruhe führen zu lassen. Gleich darauf dachte sie, wie kindisch sie sich benahm. Sie waren hier doch nicht mehr auf dem Pausenhof, wo man sich um den beliebtesten Mitschüler stritt.

Auch Charlie saß noch an seinem Schreibtisch, und dort versammelten sie sich nun, der Kern ihres Teams: Holly Clarke, intelligent und ehrgeizig, doch sozial nur wenig kompetenter als ein Computerfreak, dazu genauso einzelgängerisch wie Vera selbst. In jüngster Zeit hatte Vera sie mehr und mehr zu schätzen gelernt und fand, dass sie immer besser miteinander auskamen. Charlie, der derselben Generation angehörte wie Vera und vor einiger Zeit zu verlottern und zu vereinsamen drohte, dem die Rückkehr seiner Tochter zu ihm nach Hause aber wieder neuen Lebensmut gegeben hatte. Und Joe, ihr Liebling. Ihr Wunderknabe.

«Wie Sie ja alle wissen, hat der Boss mich heute nach Warkworth rausgeschickt.» Sie nannten ihn alle Boss, in mit Ironie getränktem Ton. Es gab Tage, da wusste Vera nicht einmal mehr seinen richtigen Namen und musste, wenn sie ihm eine E-Mail schreiben wollte, angestrengt in ihrem Gedächtnis kramen. «Ich habe Häftlingen im FSB einen Vortrag gehalten.» Sie blickte ihre Leute an und alle nickten.

«Brace war ein Freund meines Vaters. Sie teilten dieselben Interessen, dieselben Leidenschaften.» Vera war auf die Füße gesprungen, hatte aufs Dozieren umgeschaltet und gab ihrer Eitelkeit nun hemmungslos nach. «Es gibt ja die These, wonach auf dem Land keine Verbrechen begangen werden. Also keine richtigen Verbrechen. Ab und zu ein paar geklaute Schafe. Oder jemand, der mit Agrardiesel durch die Gegend fährt. Aber keine Großdiebstähle oder gar Mord. Mein Vater und drei seiner Kumpels allerdings schafften es, sich mit vermeintlich salonfähigen Aktivitäten einen angemessenen Lebensunterhalt zu sichern. Sie handelten mit den Eiern seltener Vögel und verkauften für beträchtliche Summen Raubvögel, die sie in der Wildnis gefangen hatten. Offenbar werden Falken aus Großbritannien

«Viererbande?» Das kam von Holly. Sie machte sich Notizen auf so einem komischen neumodischen Gerät auf ihrem Schoß.

«So haben sie sich genannt. Wirklich erbärmlich.» Als junges Mädchen hatte Vera diese ganze Heimlichtuerei eingeschüchtert. Inzwischen aber war Hector tot, und John Brace saß im Rollstuhl. Und Robbie Marshall war vielleicht auch nicht mehr am Leben.

«Auf was für Geschäfte konzentrierten sie sich denn dann?» Joe wollte, dass sie beim Thema blieben. Möglicherweise war Sally ja doch nicht so wild darauf gewesen, die Rolle des Chauffeurs zu übernehmen, und er hatte versprochen, nicht allzu spät nach Hause zu kommen.

«Sie führten so eine Art Personalvermittlung. Üble Schlägertypen zum Vermieten. Wenn jemand zum Beispiel eine Demo von militanten Jagdgegnern auflösen oder Einheimischen eine Warnung zukommen lassen wollte, denen der

«Super.» Holly klang beinahe, als wäre sie von dem Geschäftsmodell beeindruckt.

Vera warf ihr einen strengen Blick zu. «Super? Nicht ganz so super für die Frau des Wildhüters, die nach Hause kam und ihren Mann im Sterben vorfand, weil ihn zwei Schlägertypen derart verprügelt hatten, dass ihm die Milz gerissen war.»

«Aber ich dachte, Sie hätten gesagt, die Schläger wären zur Unterstützung der Wildhüter da gewesen, wenn sie …», Holly zog ihre Notizen zurate, «… Greifvögel töteten.»

«Ach, Herzchen, nicht alle Wildhüter stehen auf der Seite des Bösen. Glen Fenwick war ein wunderbarer Mann. Sanft und gutmütig. Es gefiel ihm nicht, in welche Richtung die Dinge sich entwickelten, weshalb er den Entschluss fasste, sich an uns zu wenden.» Bei der Erinnerung an die Vorwürfe, die ihr die Witwe des Wildhüters entgegengeschleudert hatte, als sie ihr nach der Beerdigung kondolieren wollte, hielt Vera inne. Die alten Schuldgefühle kamen wieder hoch. «Er fasste den Entschluss, sich an mich zu wenden.» Sie holte tief Luft. «Aber auch wenn diese Bastarde ihn umgebracht

Sie brach kurz ab. Ihre Leute hüteten sich davor, etwas zu sagen. «Damals war ich schon wieder zurück zu meinem Vater gezogen. Er hatte einen Schlaganfall, und der führte zusammen mit dem Alkohol schließlich zur Demenz. Unsere Finanzexperten hatten genug in der Hand, um die Verbindung zu John Brace herzustellen. Zu der Zeit war Brace schon gar nicht mehr im Dienst, er hatte sich zum frühestmöglichen Zeitpunkt pensionieren lassen und lebte in einem schönen großen Haus in Ponteland behaglich vor sich hin. Das muss ein ziemlicher Schock gewesen sein, als auf einmal die Polizei bei ihm an die Tür klopfte.» Vera gönnte sich einen Moment, um die Vorstellung zu genießen. Sie selbst war natürlich nicht dabei gewesen. Alle hatten gemeint, sie wäre persönlich zu stark in die Sache verstrickt. Damals hatte Hector noch gelebt. Gerade noch so. Aber es war ihr eine Freude gewesen, sich Brace’ Gesicht vorzustellen, als er die Tür aufmachte.

«Brace wurde also weggesperrt.» Die Ungeduld hatte Joe wieder am Wickel. «Die Kerle, die er angeheuert hatte, um Glen Fenwick Angst einzujagen, kriegten selbst einen Heidenschreck, als der Wildhüter starb, und bestätigten, was er gegen Brace vorgebracht hatte. Die Ermittlungen und der Prozess zogen sich ewig hin, aber 2009 wurde Brace schließlich wegen der Planung des Überfalls auf Fenwick,

«Wie schon gesagt, sie nannten sich die ‹Viererbande›», erklärte Vera. «Da waren Hector, Brace, jemand, den ich nie kennenlernte und den sie den ‹Professor› nannten, und Robbie Marshall. Robbie war derjenige, den sie losschickten, um die Burschen aus den Sozialsiedlungen anzuheuern. Er ist in Wallsend aufgewachsen, hat sich auf der Swan-Hunter-Werft bis zur mittleren Führungskraft hochgearbeitet und sprach dieselbe Sprache wie die Schlägertypen, was Brace natürlich nicht tat. Aber dann verschwand Robbie. Ich hatte immer angenommen, er hätte sich etwa um die Zeit, als Brace verhaftet wurde, vom Acker gemacht, aber in Wirklichkeit verschwand er früher. Er wurde schon 1995 als vermisst gemeldet. Das habe ich auf der Herfahrt überprüft. Er wohnte mit seiner Mutter in demselben Haus, in dem er auch aufgewachsen ist. All sein Geld hat er offenbar für Reisen ausgegeben. Er war geradezu besessen vom Sammeln seltener Vogeleier und bereiste die ganze Welt, um neue Exemplare zu finden.» Sie hätte noch einiges über Robbie zu erzählen gehabt, allerdings machte sich Joes Unruhe nun so stark bemerkbar, dass sie beschloss, das zu verschieben. «Jedenfalls teilte John Brace mir heute mit, dass Robbie Marshall tot ist.» Vera blickte von einem zum anderen. «Er meinte, er würde mir sagen, wo die Leiche zu finden ist.»

«Und wo soll das sein?» Charlie war skeptisch. Das konnte sie ihm nicht verdenken. Er war ja nicht dabei gewesen im Büro des Kaplans.

Sie vernahm ein unterdrücktes Kichern, aber als sie in die Runde schaute, erwiderten alle ihren Blick mit Unschuldsmienen.

«Sie glauben wohl nicht, dass ich das kann, was? Einer alleinerziehenden Mutter ein wenig unter die Arme greifen?»

Niemand antwortete.

«Er hat mir ihre Handynummer gegeben, aber keine Adresse. Wer von Ihnen heute Abend also noch etwas Zeit erübrigen kann …» Vera warf Ashworth einen strafenden Blick zu – auch wenn er ihr Wunderknabe war, musste er hin und wieder daran erinnert werden, wer hier das Sagen hatte –, «… kann ja schon mal damit anfangen, so viel wie möglich über sie herauszufinden. Bevor ich mit meinen riesigen Gummistiefeln bei ihr ins Haus stapfe und Mutter Teresa spiele. Brace will sie dieses Wochenende anrufen und fragen, ob ich ihr helfen konnte. Sie heißt Patricia Keane und war mit einem Kerl verheiratet, den Brace als ‹Verrückten› bezeichnet hat. Wie der heißt, weiß ich nicht, aber für Ermittler Ihres Kalibers sollte es ein Kinderspiel sein, ein Dossier über ihn zusammenzustellen.» Wieder musste Vera eine Atempause einlegen. «Holly – Keane und ihren Mann überlasse ich Ihnen.»

Holly nickte, hockte, noch bevor Vera überhaupt hatte weitersprechen können, bereits an ihrem eigenen Schreibtisch und klapperte auf der Computertastatur. Das Ding mit Holly war, dass sie immer glaubte, sich beweisen zu müssen. Als junge Polizistin hatte Vera dasselbe Problem

Nur kurz abgelenkt, verteilte sie jetzt ihre restlichen Anweisungen. «Charlie, Sie besorgen mir alles über Robbie Marshall, was Sie auftreiben können.» Ihr schoss ein Gedanke durch den Kopf. «Vielleicht sind Sie ihm ja sogar mal persönlich begegnet?» Charlie war ein Arbeitstier, zäh und phantasielos, aber mit dem Gedächtnis eines Elefanten. Er antwortete nicht sofort, und sie sah ihm dabei zu, wie er sich im Kopf durch seine langen Jahre im Polizeidienst wühlte, wobei sie das Gefühl hatte, alles ebenso klar vor sich zu haben wie er. Die Alltäglichkeiten im Leben eines Polizisten: ein paar Glas Bier mit Informanten in muffigen Pubs, die besoffenen Frischverheirateten, die man voneinander trennen muss, wenn das Hochzeitsessen in eine Schlägerei ausgeartet ist, und die ewigen Gespräche mit verstockten Ganoven in seelenlosen Verhörräumen.

«Verhaftet wurde er nie», sagte Charlie nun, «aber am Anfang meiner Zeit bei der Polizei bin ich ihm ein paarmal über den Weg gelaufen. Damals ging ich noch Streife in Wallsend, und er war zu der Zeit ein ganz junger Kerl, der bei der Werft arbeitete. Einmal habe ich ihn mit Sachen erwischt, die ihm nicht gehörten. Dass er die bei der Arbeit

«Warum nicht?» Das kam von Holly, die von ihrem Computer aufsah. Anscheinend beherrschte sie zusätzlich zu all ihren anderen Tugenden auch das Multitasking. Es hieß ja immer, das sei eine weibliche Fähigkeit, aber Vera war sich nicht sicher, ob sie selbst je darüber verfügt hatte.

«Er hatte einen Kumpel, der ein hohes Tier in der Gewerkschaft war», erwiderte Charlie. «Die Werft war wohl der Ansicht, ein bisschen Materialschwund hier und da besser verkraften zu können als eine Arbeitsniederlegung durch die ganze Belegschaft.»

«Soweit ich mich erinnere, war er immer gut darin, Kumpels zu finden, die auf ihn aufpassten. Wie unseren alten Freund Superintendent Brace. Eine sehr vorteilhafte Gabe.» Vera fühlte sich so gut wie seit Monaten nicht mehr. Der Sommer war ruhig gewesen, und sie waren alle nicht so recht von der Stelle gekommen. Sie selbst war von einer schrecklichen Lethargie ergriffen worden und hatte angefangen, ihr Alter zu spüren. Vielleicht muss ich mich ja einfach nur nützlich fühlen. Vielleicht ist es das, worum es hier wirklich geht.

«Und was haben Sie für mich?» Joe war mittlerweile aufgestanden. Er hatte noch immer den Mantel an, genau wie vorhin, als sie ihm auf der Treppe begegnet war.

«Ich dachte, Sie müssten los.»

«Dafür kann ich morgen ja früher kommen.» Dann hatte Sally ihm an diesem Abend also nur eine begrenzte Atempause zugestanden.

«Brace könnte das alles auch erfunden haben», warf Charlie ein. «Um Aufmerksamkeit zu bekommen oder um Sie dazu zu bringen, nachsichtig mit seiner Tochter zu sein. Oder vielleicht auch nur, um Verwirrung zu stiften und sich auf unsere Kosten zu amüsieren.»

«Nun, es gibt nur eine Möglichkeit, das herauszukriegen, denken Sie nicht auch? Wir müssen Robbie Marshall finden. Tot oder lebendig.» Bevor ihre Leute sich nun in alle Richtungen zerstreuten, bat Vera noch ein letztes Mal um Aufmerksamkeit. «Eine Sache noch. Wir sollten das hier erst mal diskret behandeln. Der Boss muss ja nicht wissen, dass wir ein bisschen in der Vergangenheit graben. Nicht bevor wir ihm etwas Handfestes präsentieren können.»

Alle nickten. Ihr Team. Sie hätte vor Freude singen mögen.