Patty Keane wurde davon wach, dass ihr sechsjähriger Sohn unten im Wohnzimmer den Fernseher einschaltete. Irgendwie hatte er herausgefunden, wie man Netflix startet, und dort lief eine Zeichentrickserie, nach der er ganz verrückt war. Es gab immer etwas, wonach er ganz verrückt war, aber das mit der Serie dauerte nun schon mehrere Monate an, und von der Musik, zu der das Superheldenkaninchen seine Abenteuer erlebte, brummte ihr der Schädel, bis sie am liebsten laut geschrien hätte. Sie wusste, eigentlich sollte sie aufstehen, den Fernseher leiser stellen, damit die Nachbarn sich nicht wieder beschwerten, dafür sorgen, dass die Kinder ihre Schuluniformen anzogen, und die Schulbrote schmieren. Genau wie gestern Abend, als sie gewusst hatte, sie sollte eigentlich dafür sorgen, dass die Kinder vor dem Zubettgehen badeten, dass Archies Bettlaken nicht mehr nach Urin stanken und Jenny sich die Zähne putzte. Sie hatte die perfekten Familien im Fernsehen gesehen und beobachtete die perfekten Eltern auf dem Pausenhof, die sich über Schwimmunterricht und Immobilienpreise unterhielten. Aber ihr Leben war nun mal anders. Es war, als lebte sie in einem vollkommen anderen Universum. Sie wusste, mit denen würde sie niemals mithalten können. Nicht im Moment. Nicht ohne Gary.

Als sie zum zweiten Mal aufwachte, war es halb neun, und Jenny stand neben dem Bett, bereits in ihrer Schuluniform. Der Kragen der Bluse war schon ein wenig grau, doch das fiel einem nur auf, wenn man ganz genau schaute. Allerdings war Jenny mittlerweile zwölf und ging nun auf

«Ich habe die Schulbrote für die Kleinen geschmiert, aber jetzt muss ich los. Diese Woche habe ich schon einen Eintrag fürs Zuspätkommen gekriegt. Du schwingst also besser mal deinen Arsch aus dem Bett und bringst sie zur Schule.»

«Ist ja gut.» Hätte Patty sich besser gefühlt, dann hätte sie ein Wörtchen zur Ausdrucksweise ihrer Tochter zu sagen gehabt. Schließlich war sie anständig erzogen worden. Aber heute war ihr selbst das zu anstrengend. Sie wälzte sich aus dem Bett, zog sich ein Sweatshirt über und schlüpfte in eine Jogginghose. Gerade wollte sie Jenny noch bitten, den Wasserkessel aufzusetzen, doch da hörte sie das Mädchen schon die Haustür hinter sich zuschlagen.

Unten fing jetzt eine neue Folge der Zeichentrickserie an. Die Kinder hatten sich in der Küche irgendwas zum Frühstück zusammengesucht. Gestern hatte Patty sich etwas besser gefühlt und es geschafft, einkaufen zu gehen. Jonnie war fast fertig angezogen, nun aber völlig in die Welt seines Tablets vertieft. Sie musste es sich gar nicht erst ansehen, um zu wissen, dass er ein YouTube-Video schaute, in dem junge Amerikaner schimpften und fluchten. Jonnie war nach seinem Großvater benannt worden, der ihnen dieses Haus in der neuen Eigenheimsiedlung am Stadtrand von Kimmerston gekauft hatte. Zu der Zeit war Patty schon ein paar Monate mit dem Jungen schwanger gewesen, und sie und Gary hatten geglaubt, am Ziel ihrer Träume angelangt zu sein. Der Kauf war über die Bühne gegangen, kurz bevor der Alte dann ins Gefängnis musste, aber es gelang ihm immer noch, ihnen genug Geld zukommen zu lassen, um den Laden am Laufen zu halten.

Patty schaltete den Fernseher aus und brachte die beiden mit vielen guten Worten dazu, die Schuluniformen anzuziehen, wobei sie im letzten Moment doch noch die Geduld mit Jonnie verlor, der versuchte, sich den Pullover über den Kopf zu ziehen, während er noch die Kopfhörer in den Ohren hatte. Keine Sekunde zu spät verließ sie mit ihnen das Haus und verspürte einen kurzen Triumph, als sie es gerade noch vor dem Läuten der Schulglocke zum Pausenhof schafften. Solche Augenblicke konnten ihr einen halben Tag lang Auftrieb geben. Oft legte sie sich wieder hin, nachdem sie die Kinder zur Schule gebracht hatte, aber heute wollte sie ein Bad nehmen und dann im Haus etwas aufräumen. Vielleicht sollte sie eine Ladung Wäsche in die Maschine stecken. Bei dem schönen Wetter konnten die Sachen draußen auf der Leine trocknen. Doch als sie zurück nach Hause kam, entdeckte Patty die eingepackten Schulbrote der Jungs auf der Arbeitsplatte in der Küche, und mit einem Mal schien die Welt um sie herum wieder zu bröckeln. Eine Sekunde lang dachte sie, sie wäre stark genug, noch einmal zurück zur Schule zu gehen. Sie könnte die Brote doch im Sekretariat abgeben. Die Sekretärin war immer sehr nett. Aber sie sahen so armselig aus, so erbärmlich. Steckten nicht mal in richtigen Brotboxen, sondern in Plastiktüten aus dem Supermarkt. Außerdem würde man ihr sicher wieder einen Vortrag darüber halten, dass sie sich für das Gratismittagessen an der Schule bewerben sollte, und sie würde wie immer lächeln und nicken und dabei wissen, dass sie nie dazu kommen würde, die nötigen Formulare auszufüllen. Und überhaupt, würden sie

Als die Tränen schließlich versiegt waren, fiel ihr ein, dass sie ihre Tablette noch gar nicht genommen hatte. Oben im Badezimmer drückte sie die Tablette aus dem Blister und spülte sie hinunter. Dann nahm sie noch eine, weil sie sich so scheußlich fühlte. Der Arzt hatte zwar gesagt, dass sie nur abends zwei nehmen sollte, aber manchmal konnte sie sich dem vor ihr liegenden Tag ohne diese leichte Benommenheit, die zwei Tabletten ihr schenkten, einfach nicht stellen. Dafür würde sie heute Abend nur eine nehmen, und vielleicht wachte sie morgen dann ja ein wenig frischer auf. Sie setzte den Wasserkessel auf, um sich einen Tee zu machen, wischte die Arbeitsplatte ab und dachte, dass sie ja noch Zeit genug hätte, neue Schulbrote zu schmieren und rechtzeitig zur Schule zu bringen. Nur noch nicht jetzt.

Mit dem Tee schleppte sie sich ins Wohnzimmer und ließ sich aufs Sofa fallen. Gerade überlegte sie, ob wohl irgendwo eine Folge von The Real Housewives lief, als es an der Tür läutete. Sie beachtete es gar nicht. Höchstwahrscheinlich waren es wieder mal Nachbarn, die sich über die Kinder beschweren wollten. Sie verstand ja, dass es schwer für sie sein musste. Patty würde selbst nicht neben einer Familie wie ihrer eigenen wohnen wollen. Aber dann läutete es

Aber das war nicht Gary. Es war eine übergewichtige Frau, die ein schauderhaftes Kleid und darüber eine grüne Fleecejacke trug. Bestimmt sammelte sie für wohltätige Zwecke. Oder war aus der nahegelegenen Irrenanstalt ausgebüxt. Wenn sie sich nicht zusammenriss, könnte Patty in zwanzig Jahren genauso aussehen. Eine überraschende Erkenntnis, die ernüchternd wirkte. Nun zog die Frau ein Handy aus der Tasche ihrer Jacke und wählte eine Nummer. Pattys Handy, ein billiges Prepaid-Ding, lag auf dem Kaminsims. Als es klingelte, geriet Patty vollends in Panik. Sie ging dran. «Hallo?»

«Spreche ich mit Patricia Keane?» Dem Dialekt nach kam die Frau von hier, und verrückt klang sie auch nicht.

Da hatte Patty einen Geistesblitz. «Sind Sie vom Sozialamt?» Manchmal statteten die Sozialarbeiter einem nämlich unangemeldete Besuche ab. Normalerweise kam Freya, eine nette junge Frau, aber manchmal kamen eben auch Leute, die sie nicht kannte.

«Großer Gott, nein.» Die Frau klang geradezu entsetzt. Sie machte einen Schritt auf das Fenster zu. Offenbar wusste sie, dass Patty durch die Gardine spähte. «Sehe ich etwa aus wie eine Sozialarbeiterin?»

«Nein.» Patty mochte der Frau nicht sagen, dass sie eher aussah, als würde sie die Hilfe einer Sozialarbeiterin nötig haben.

Also ging Patty und machte die Tür auf. Sie hatte es schon immer einfacher gefunden zu tun, was man ihr sagte. Oder vorzugeben zu tun, was man ihr sagte. Außerdem wirkte die fette Frau dadurch, dass sie so ungepflegt aussah, nicht so einschüchternd. Zwar war sie im richtigen Alter, um zu den Großmüttern zu gehören, die immer am Spielplatz saßen, aber sie hätte nicht besser zu ihnen gepasst als Patty selbst.

Patty führte sie in die Küche, zum Teil, weil es dort nicht ganz so unaufgeräumt war – das Geschirr hatte sie zwar noch nicht gespült, aber wenigstens die Arbeitsplatte abgewischt –, und zum Teil, weil die Frau um Tee gebeten hatte. Hinsetzen allerdings konnte man sich hier nicht. Diese Küche war anders als die im Haus ihrer Adoptiveltern mit dem saubergeschrubbten Tisch aus Kiefernholz und dem Sofa an der einen Wand. Also blieben sie beide stehen und warteten darauf, dass das Wasser kochte. Die Frau hatte sehr große braune Augen.

«Ihr Dad hat mich gebeten, mal nach Ihnen zu sehen», sagte sie nun. Dann lächelte sie abbittend. «Aber Sie wissen ja noch gar nicht, wer ich bin! Sie müssen mich für bescheuert gehalten haben, wie ich da ganz ohne Vorwarnung vor Ihrer Tür aufgetaucht bin. Ich heiße Vera – Vera Stanhope.»

Patty war um keinen Deut schlauer. Die Tabletten hatten

«Ihr Vater macht sich Sorgen um Sie und die Kinder», sagte Vera. «Er möchte wissen, ob Sie gut zurechtkommen.» Worauf sie eigentlich keine Antwort erwartete. «Hören Sie, ich weiß ja nicht, wie’s Ihnen geht, aber ich habe noch nicht gefrühstückt und wette, Sie hatten auch noch keine Zeit, was Vernünftiges zu essen, wo Sie doch drei Kinder rechtzeitig zur Schule bringen müssen. Auf dem Weg hierher habe ich ein Café gesehen. Wollen wir da hingehen? Dabei können wir auch gleich ein bisschen frische Luft schnappen. Ich lade Sie ein.»

Und so zog Patty sich ihre Turnschuhe an und marschierte über die kleine Grünfläche, auf der die Kinder nach der Schule spielten, wobei sie Vera zuhörte, die sich darüber ausließ, wie schön der Sommer doch gewesen sei. Das Café war leer, die Frühstückszeit war vorüber, und der Ansturm zum Mittagstisch hatte noch nicht begonnen. Irgendwie wirkte es fehl am Platz am Rande der neuen Siedlung, ein altmodisches Café für Arbeiter, nicht für die hübsch zurechtgemachten Mütter und eleganten Frauen, die zum Lunch gingen. Vera fragte Patty, was sie gern hätte. «Ich selbst nehme ein Bacon-Sandwich. Mein Arzt kriegt

«Ich bin Vegetarierin», sagte Patty. Ihre Adoptiveltern waren Vegetarier gewesen, und sie brachte es noch immer nicht über sich, Fleisch zu essen.

«Wie wär’s dann mit Rühreiern auf Toast?» Vera gab die Bestellungen bei dem Jungen in der dreckigen Schürze auf, der hinter dem Tresen stand. «Und eine Kanne Tee für zwei.» Offenbar hatte sie erkannt, dass Patty nicht in der Verfassung war, eigene Entscheidungen zu treffen.

Sie hatten das Café für sich allein und setzten sich ans Fenster. Patty machte sich keine Sorgen, dass jemand sie sehen könnte. Von den anderen Eltern kam keiner je auf diese Seite der Grünfläche, wo die Sozialbauten standen. Die Kinder, die hier wohnten, gingen auf eine andere Schule.

«Haben Sie Lust, mir ein wenig über sich zu erzählen?» Der Tee war bereits gebracht worden, und Vera hatte die Hände um ihren dicken Porzellanbecher gelegt. «Ich wusste gar nicht, dass Ihr Vater eine Tochter hat.»

«Ich glaube, das wusste er selbst nicht. Jedenfalls nicht mit Sicherheit. Nicht bevor ich ihn mit achtzehn ausfindig gemacht hatte.» Plötzlich war Patty mittendrin in der Geschichte, wie sie als kleines Mädchen adoptiert und in das große Haus an der Küste gebracht wurde, wo sie immer das Gefühl hatte, nicht richtig hinzugehören. «Meine Mutter und mein Vater waren wirklich schrecklich nett, wissen Sie, aber ich hatte immer das Gefühl, sie zu enttäuschen. Sie waren beide Lehrer und wollten, dass ich gute Noten heimbringe, aber ich war keine besonders gute Schülerin.»

«Halten sie die Verbindung zu Ihnen aufrecht?»

Diesmal ließ Patty sich Zeit mit der Antwort, denn nun

«Als ich sagte, dass ich meine leiblichen Eltern ausfindig machen will, merkte ich gleich, dass sie verletzt waren, aber sie waren natürlich einverstanden. Sie haben versucht, die Verbindung aufrechtzuerhalten, ganz ehrlich, aber Gary ist nie so recht mit ihnen ausgekommen, und irgendwie sind wir uns fremd geworden. Vor kurzem sind sie in den Ruhestand gegangen und in den Süden gezogen – sie stammen beide aus Surrey und haben sich hier nie so richtig heimisch gefühlt.» Und sie wollten weg von mir und den Kindern. Wahrscheinlich wären sie nie auf den Gedanken gekommen, dass es ihnen darum ging, aber sie brauchten eine Ausrede, um den Kontakt einschlafen lassen zu können. Das war Patty nie so klar in den Sinn gekommen, aber jetzt glaubte sie, dass es stimmte. «Sie rufen an und schicken den Kindern Geschenke. Zu den Geburtstagen und an Weihnachten.» Trotzdem fand Patty noch immer, dass sie ihnen für alles dankbar sein musste, und wollte nicht schlecht über sie reden. Immerhin hatten sie sie adoptiert, oder? Sie hatten sie vor dem Heim gerettet.

«Wie haben Sie John, Ihren Vater, gefunden?»

«Das war gar nicht so leicht, und manchmal habe ich mich monatelang nicht darum gekümmert. Meine leibliche Mutter konnte ich nicht ausfindig machen, und die vom Sozialamt glauben, dass sie nicht mehr lebt, auch wenn es keine offiziellen Unterlagen gibt.» Sie schwieg kurz. «Eine Überdosis Heroin. Sie war süchtig. Deshalb konnte sie auch nicht für mich sorgen und hat mich in Pflege gegeben. Aber auf der Geburtsurkunde steht der Name meines Vaters, und

Die nächste Frage schien der Ermittlerin unangenehm zu sein. «Hat Ihr Dad Ihnen auch erzählt, wie er mit Ihrer Mutter zusammengekommen ist? Ein Polizist und eine Heroinabhängige. Klingt irgendwie merkwürdig.»

Wider Willen musste Patty lächeln. «Er sagte, sie wäre wunderschön gewesen, und er hätte sich auf den ersten Blick in sie verliebt. Aber er war verheiratet und wusste, dass es nie funktionieren würde. Allerdings hatte er keine Kinder und freute sich riesig, als sie schwanger wurde. Und noch mehr freute er sich, als ich den Kontakt zu ihm aufnahm.»

«Wie im Märchen.»

Patty fragte sich, ob die Frau das sarkastisch gemeint hatte, doch als sie aufsah, erwiderte diese ihr Lächeln.

«Ich muss jetzt wieder nach Hause», sagte Patty. «Ich muss noch die Brote für die Jungs im Schulsekretariat abgeben.» Obwohl sie wusste, dass sie das vermutlich nicht schaffen würde, aber ihr war jetzt zappelig zumute, und sie sehnte sich nach dem Sofa und irgendwelchem Quatsch im Fernsehen.

Also blieb Patty auf dem Fensterplatz im Café sitzen, während Vera sich um alles kümmerte. Sie fragte sich, wie es wohl gewesen wäre, eine Adoptivmutter wie Vera gehabt zu haben. Etwas ungepflegt und übergewichtig, eine Frau, die in ihrer Handtasche nach dem Kleingeld kramte. Anstelle einer schlanken, gepflegten Mum, die immer alles im Griff hatte.