Kapitel fünf

Vera konnte sich noch an die Zeit erinnern, als dieser Teil von Kimmerston hauptsächlich aus Schrebergärten bestand. Östlich davon hatten einige Reihen Hütten für Bergarbeiter gestanden und dahinter die gemeindeeigenen Häuser aus den 1930er Jahren mit den Sozialwohnungen. Die Hütten und Gärten waren verschwunden, und das Gelände war für den Wohnungsbau erschlossen worden, doch die Siedlung mit den Sozialwohnungen war geblieben, auch wenn die meisten der besseren Häuser sich mittlerweile in Privatbesitz befanden. Im Vergleich dazu sah Pattys Haus in Hastings Gardens mit seinen unverputzten roten Ziegelsteinmauern noch sehr neu aus. Im Garten allerdings stapelte sich verrostetes Kinderspielzeug, und die Haustür

Sie versuchte sich darüber klarzuwerden, was sie von Patty halten sollte. Normalerweise war Vera nicht so leicht zu ködern, wenn ihr jemand erzählte, wie schwer er es im Leben hatte; sie hatte selbst eine unglückliche Kindheit gehabt. Hector schien nie in der Lage gewesen zu sein, ihr zu zeigen, dass er sie liebte und stolz auf sie war, und ihre Mutter war gestorben, als sie noch ganz klein war. Aber Patty wirkte völlig verloren. Sie musste Mitte dreißig sein, machte jedoch den Eindruck, als wäre sie selbst noch ein Kind, so mager und zerbrechlich, wie sie war. Sah man über ihr strähniges Haar und die fettige Haut hinweg, war sie eigentlich sehr hübsch. Vielleicht kam sie ja nach ihrer leiblichen Mutter, der schönen Heroinsüchtigen, die John Brace’ Herz im Sturm erobert hatte. Sofern man an das Märchen glaubte, das der Superintendent seiner Tochter verkauft hatte. Vera fragte sich, ob Hector sie eigentlich genug geliebt hatte, um eine alte Widersacherin mit einer kleinen Bestechung dazu zu bringen, sich um sie zu kümmern. Sie fuhr bereits wieder beim Polizeirevier vor, ohne eine Antwort darauf gefunden zu haben.

 

Als sie die Tür zum Großraumbüro aufstieß, fand sie ihr Team eifrig über die Arbeit gebeugt. Den ganzen Sommer über war es hier drin fast schon so zugegangen wie in einer

Sie ging in ihr eigenes Büro, das nicht viel größer war als eine Schuhschachtel, und machte die Tür hinter sich zu. Dies war ihr Reich. Durchs Fenster konnte sie auf die kahle Wand des nebenan gelegenen Amtsgerichts und hinunter auf die Straße sehen. Kein schöner Ausblick, im Winter war es hier klirrend kalt und im Sommer brütend heiß, doch in einer Zeit der Großraumbüros und des Hot Desking hing sie an ihrem Büro und hatte gedroht, in den Ruhestand zu gehen, falls es ihr weggenommen werden sollte. Sie hängte ihre Fleecejacke über die Stuhllehne, schaltete den Wasserkocher in der Ecke ein und machte sich einen Instant-Kaffee. Schwarz, denn sie konnte sich nicht dazu aufraffen, die Milch aus dem Kühlschrank in der Teeküche zu holen. Dann fuhr sie den Computer hoch, sah die endlose Liste ungelesener E-Mails und ignorierte sie. Stattdessen suchte sie die Nummer des für Hastings Gardens zuständigen Sozialamts heraus und fand schließlich die Sozialarbeiterin, die sich um Patty und ihre Kinder kümmerte.

«Freya Samson, Familien- und Kinderbetreuung.»

«Inspector Vera Stanhope, Polizei Northumbria. Es geht um die Familie Keane.» Vera trank einen Schluck Instant-

«Gibt es ein Problem?» Die junge Frau klang gestresst. Vielleicht war ihr Sommer ja nicht so ruhig gewesen, und das Letzte, was sie jetzt noch brauchen konnte, war, dass ihr einer ihrer Fälle um die Ohren flog.

«Eigentlich hatte ich gehofft, dass Sie mir das sagen können. Weshalb kümmert sich das Sozialamt um die Familie Keane?»

«Ich rufe Sie zurück», sagte Freya. «Zuerst muss ich Ihre Identität überprüfen.»

«Wissen Sie was: Ich komme rüber zu Ihnen. Dann zeige ich Ihnen meinen Dienstausweis, und wir können uns unterhalten. Es ist doch immer besser, persönlich miteinander zu reden.» Vera machte eine Pause und überlegte, wie sie die Sozialarbeiterin überreden könnte. «Wir sollen heutzutage doch alle Hand in Hand arbeiten, oder?»

«Um zwölf habe ich einen Termin im Rahmen des Kinder- und Jugendschutzes. Da müssten Sie schon vorher kommen. Oder heute am späteren Nachmittag.»

«Ich komme jetzt gleich.» Vera legte den Hörer auf und fragte sich, was sie da eigentlich gerade tat. Jagte sie einem Gespenst hinterher? Oder war sie auf der Spur eines Falls, der ihrem Team nach einem verschlafenen Sommer die Motivation zurückbringen konnte?

 

Die Büros des Sozialamts waren in einem Hochhaus aus Beton und Glas am Stadtrand untergebracht, nicht weit entfernt von der Siedlung, wo Patty wohnte. Vera war selbst einmal einer Sozialarbeiterin zugeteilt worden. Die Frau war nach dem Tod von Veras Mutter in ihrem Haus in den

Freya, die gehetzt wirkte, kam im Laufschritt aus dem Aufzug. Sie war jung und blond und trug ein kurzes Kleid mit Blümchenmuster zu Ballerinas. Irgendwie erinnerte sie Vera an Alice im Wunderland auf der Suche nach dem weißen Kaninchen. Sie führte Vera in ein Besprechungszimmer, in dem ein riesiger Tisch aus hellem Holz stand. Sie setzten sich ans Kopfende, und Vera schob der Sozialarbeiterin ihren Dienstausweis zu. Freya griff danach und notierte sich Veras Namen in ihrem Notizbuch. Dabei klemmte sie einen Moment lang die Zunge zwischen die Zähne und sah plötzlich aus wie ein Kind, das sich auf seine Hausaufgaben konzentriert.

«Warum interessieren Sie sich für die Familie Keane, Inspector?» Freya sah von ihrem Notizbuch auf und runzelte die Stirn. «Ist Patty in Konflikt mit dem Gesetz geraten? Falls ja, wurde ich darüber nicht informiert.»

«Aber nein, darum geht es nicht.» Vera steckte den Ausweis zurück in ihren Geldbeutel. Einmal hatte sie ihn verloren, und das war ein wahrer Albtraum gewesen. «Möglicherweise kann sie uns als Zeugin bei einer laufenden Ermittlung helfen. Deshalb war ich heute Morgen bei ihr,

«Waren die Kinder in der Schule?»

«Aye.» Vera schwieg kurz. «Ist der Schulbesuch denn ein Problem?»

«Das war er in der Vergangenheit. Die Kinder sind zu spät gekommen und sahen nicht besonders gepflegt aus.»

«Wie lange kennen Sie die Familie schon?»

«Ich persönlich? Etwa ein Jahr. Unserer Abteilung ist sie seit ungefähr fünf Jahren bekannt. Patty war mit einem Mann namens Gary Keane verheiratet. Er ist älter als sie.» Die Worte sprudelten nur so heraus. Freya hatte es nach wie vor eilig. «Er hatte sich damals mit dem Verkauf und der Reparatur von Computern selbständig gemacht, gab das Geld aber lieber aus, als es zu verdienen. Offenbar hatte er sogar schon Schulden, als er Patty heiratete.»

Vera dachte an die junge Frau zurück, mit der sie am Morgen gesprochen hatte. Im Haus hatte es einen großen Fernseher gegeben und überall Unterhaltungselektronik für die Kinder. Vielleicht hatte Patty den Schuldenberg ja fleißig weiter erhöht, oder vielleicht ließ John Brace der Familie vom Gefängnis aus Unterhalt zukommen. «Aber Patty war doch bestimmt kein toller Fang. Jedenfalls nicht, wenn Gary auf der Suche nach einer Frau war, die seine Rechnungen bezahlt.»

«Immerhin hatte sie einen Job», erwiderte Freya. «Als er sie kennenlernte, wohnte sie noch bei ihren Eltern, und die hatten ein hübsches Haus an der Küste.»

«Was für ein Job war das denn?»

«Sie war Krankenpflegerin. Gerade frisch aus der Ausbildung gekommen, arbeitete sie in einer geriatrischen Klinik

«Wie sind Sie auf sie aufmerksam geworden?» Vera tat sich schwer mit der Vorstellung, dass die junge Frau der Verantwortung als Krankenpflegerin gewachsen gewesen sein sollte.

«Patty wurde mit einer Überdosis verschreibungspflichtiger Medikamente in die Notaufnahme eingeliefert.»

«Ein Selbstmordversuch?»

Freya nickte. «Wenige Monate davor hatte Keane sie sitzengelassen. Archie, ihr Jüngster, war noch ein Baby. Sie ging zum Arzt, und der verschrieb ihr Antidepressiva.»

«Aber sie war trotzdem noch verzweifelt.» Das konnte Vera verstehen. Mit drei kleinen Kindern in einer seelenlosen Siedlung zurückgelassen zu werden. Sogar sie hätte dem an Pattys Stelle entkommen wollen.

«Sie hatte vorher allerdings den Notruf gewählt, was mich an der Ernsthaftigkeit ihrer Selbstmordabsichten ein wenig zweifeln lässt.» Freyas Stimme klang jetzt hart. «Während sie im Krankenhaus lag, sorgten wir dafür, dass ihre Mutter bei ihr einzog und sich um die Kinder kümmerte.»

Die Adoptivmutter, der so viel an ihrer Tochter liegt, dass sie danach nach Surrey geflüchtet ist.

«Und was haben Sie dann unternommen?»

«Wir setzten ein Meeting zum Schutz der Kinder an, mit allen, die etwas mit der Familie zu tun hatten. Lehrern, der Gemeindeschwester, dem Hausarzt. Obwohl der Arzt nicht gekommen ist. Zu viel zu tun, meinte er. Gary war nicht aufzutreiben. Er hatte sich aus dem Staub gemacht, ohne Patty eine Adresse oder Telefonnummer gegeben zu haben. Pattys Eltern. Und Patty selbst natürlich.»

Nun herrschte kurzes Schweigen. «Ich fürchte, ich verstehe Sie nicht ganz?»

«Sie war so depressiv, dass sie eine Überdosis nahm, hatte keine Freundinnen in der Siedlung, und Sie schickten sie mit drei kleinen Kindern zurück in dieses Haus?» Vera bemühte sich, nicht laut zu werden. «Und dann erwarteten Sie auch noch von ihr, sich dem Stress eines solchen Treffens mit lauter Fachleuten auszusetzen, die alle ein Urteil über sie fällen wollten?»

«Es gab keine Anzeichen für eine Vernachlässigung oder Misshandlung der Kinder. Außerdem wohnte Pattys Mutter ganz in der Nähe und machte einen außerordentlich kompetenten Eindruck. Sie war früher Lehrerin.»

Sie war Pattys Adoptivmutter, und die beiden standen sich nicht sonderlich nahe. Vera hätte am liebsten losgeheult. Sie war wieder zehn Jahre alt, stand vor dem Haus in den Bergen, sah dem Auto der Sozialarbeiterin hinterher, das die Straße hinab verschwand, und fühlte sich mutterseelenallein.

«Hätten Sie nicht jemanden bei Patty vorbeischicken können? Der ihr ein bisschen zur Hand geht?»

Freya wirkte erstaunt. «Aber das ist nicht unsere Aufgabe.»

«Es muss doch jemanden geben! Jemanden von einer Nachbarschaftshilfe vielleicht.»

«Wir überwiesen Patty an einen Elternschaftskurs», sagte Freya. «Aber die Warteliste war lang, und als sie dann einen Platz bekam, ist sie nicht erschienen.»

Was für eine Überraschung! Wenn ihr sie einfach zu einem Kurs schickt, in dem sie wieder zu versagen glaubt. Natürlich war sie da nicht scharf drauf.

«Ich schaue einmal im Monat vorbei und verschaffe mir einen kurzen Überblick.» Anscheinend hatte Freya Veras Frustration gespürt, denn jetzt fügte sie hinzu: «Hören Sie, Patty liebt ihre Kinder. Sie mag ein bisschen chaotisch sein, aber sie sorgt für sie, gibt ihnen regelmäßig zu essen und bringt sie an den meisten Tagen pünktlich zur Schule. Unsere Zeit geht für einen Haufen anderer Familien drauf, bei denen die Dinge viel schlimmer stehen.»

«Und was passiert, wenn Sie sich mal ernsthaft Sorgen um jemanden machen?» Vera schwieg einen Herzschlag lang. «Ach nein, Herzchen, lassen Sie mich darauf antworten. Ich weiß es. Sie setzen ein Meeting an!»

Und zum ersten Mal während des Gesprächs verzog Freyas Mund sich zu einem schiefen kleinen Lächeln.

 

Zurück auf dem Revier, setzte Vera ihr eigenes Meeting an. Auf dem Rückweg vom Sozialamt hatte sie vom Bäcker um die Ecke ein paar Streuselschnecken mitgebracht und beim Eintreffen auf dem Revier Holly gebeten, frischen Tee zu kochen. Nun hockte sie auf Charlies Schreibtisch, die Füße auf einem freien Stuhl. Glücklich.

«Also, was haben wir bis jetzt herausbekommen? Holly, bitte fangen Sie an. Ich war heute Morgen bei Patty und habe mich vorhin mit der Sozialarbeiterin unterhalten, die für die Familie zuständig ist, aber es wäre gut, vorher etwas über die Hintergründe zu erfahren.»

Holly sah aus, als müsste sie ihre Doktorarbeit verteidigen. «Patty ist nicht polizeibekannt, ihre Kinder allerdings sind in einem ‹Kinder in Not›-Programm beim Sozialamt, vermutlich weil Patty psychische Probleme hat.»

Mit einem leichten Neigen des Kopfes vergab Holly Vera die Unterbrechung. Freche kleine Göre. Insgeheim aber freute Vera sich, dass Holly in letzter Zeit viel selbstbewusster auftrat als früher.

Holly fuhr fort. «Pattys Exmann Gary Keane allerdings ist uns sehr wohl bekannt. Man hat ihn bei Betrügereien und Hehlerei erwischt, eine Gefängnisstrafe konnte er bisher aber immer vermeiden.» Kurze Pause. «Wir haben Hinweise darauf, dass er für richtig kriminelle Banden gearbeitet hat. Offenbar hat er sich in Computer gehackt und Alarmsysteme deaktiviert, wurde aber nie erwischt. Es gibt eine Akte über ihn, und er wurde lange von der Abteilung für Organisierte Kriminalität beobachtet. Zuletzt scheint er sich aber aus dem Geschäft zurückgezogen zu haben.»

Dann muss Brace ihn also gekannt haben. Oder zumindest mal von ihm gehört haben. «Wissen wir, wo er sich zurzeit aufhält? Wohnt er noch in der Gegend?»

«Ja, er hat einen kleinen Laden in Bebington, wo er wieder instandgesetzte Computer verkauft und Laptops

«John Brace nannte ihn einen Verrückten», sagte Vera. «Hat er auch psychische Probleme?»

Holly schüttelte den Kopf. «Zumindest liegt keine offizielle Diagnose vor. Aber er ist berüchtigt für seinen Jähzorn. Hat sich schon mit einigen Rausschmeißern angelegt, und einmal hat er einen Kerl krankenhausreif geprügelt, mit dem er wegen seiner Fahrweise in Streit geraten ist. Allerdings haben die Opfer, wenn’s dann vor Gericht ging, ihre Anschuldigungen jedes Mal wieder fallengelassen.»

«Dann hält also jemand eine schützende Hand über ihn. Oder er hat die Opfer selbst eingeschüchtert.»

«Sieht ganz danach aus.»

Darüber musste Vera nachdenken. Eine junge Frau, die sich selbst schon für eine Versagerin hält und eine Beziehung zu einem älteren Mann eingeht, der Probleme damit hat, sein Temperament zu zügeln – für sie schrie das geradezu nach häuslicher Gewalt. «Stand er jemals unter Verdacht, Patty oder die Kinder geschlagen zu haben?»

«Es gibt keinen Eintrag, nach dem wir je zur Adresse der Keanes in Hastings Gardens gerufen worden wären.»

Vera fiel auf, dass Joe Ashworth immer zappeliger wurde. «Haben Sie auch etwas beizutragen, Joe?»

«Ich bin mir einfach nicht sicher, ob das alles überhaupt von Interesse für uns ist. Wollten wir uns nicht darum kümmern, was vor all den Jahren mit Robbie Marshall passiert ist? Ob er ermordet wurde? Statt uns mit den Problemen einer alleinerziehenden Mutter zu beschäftigen.»

«Ach Joe, ich interessiere mich doch für alles. Deswegen bin ich ja auch so eine verdammt gute Ermittlerin.» Sie schenkte ihm ihr breitestes Grinsen. «Deswegen leite ja auch ich dieses Team, und Sie sitzen dort auf Ihrem Platz und tun, was Ihnen gesagt wird.»