Kapitel sechs

John Brace lag in seiner Zelle und träumte, auch wenn er noch gar nicht richtig schlief. In seinem Traum war er wieder dreißig Jahre alt, körperlich fit und im Vollbesitz seiner Kräfte. Ein guter Ermittler. Selbst die Beamten, die ihn nicht leiden konnten, mussten zugeben, dass er unschlagbar war, wenn es darum ging, Verbrecher dingfest zu machen. Seine freien Tage verbrachte er damit, in den Bergen zu wandern, die weite Landschaft und die reine Luft wuschen den Gestank übelriechender Verhörräume und

Das alles lag nun schon fünfunddreißig Jahre zurück – 1982 war es gewesen, zwei Jahre vor dem Streik der Bergarbeiter. Damals gab es in Northumberland ausreichend Gruben und bei der Swan-Hunter-Werft am Tyne noch Arbeit für die Männer. Heroin war schon nicht mehr die Droge der Rockstars, sondern das Rauschgift der arbeitslosen Jugendlichen, die sich auf den Straßen der dem Verfall bereits anheimgegebenen Zechendörfer herumtrieben. Die Dealer standen vor den Schulen, um die Kinder zu ködern, wenn sie auf den Pausenhof strömten. Und John Brace hatte Mary-Frances Lascuola festgenommen, wegen Drogenbesitz und Prostitution.

Als sie ihm sagte, wie sie hieß, wollte er ihr zuerst nicht glauben. Was für ein Name sollte das denn sein, für eine junge Prostituierte in engen schwarzen Jeans, das Gesicht weiß angemalt wie eine Gothic-Jüngerin? Doch er machte sich nicht lustig über sie, er brüllte sie nicht an und nannte sie auch keine Lügnerin, denn sie hatte etwas an sich,

«Mein Großvater war Italiener.» Dabei blickte sie ihm über den Rand ihres Porzellanbechers hinweg ins Gesicht. Sie hatte große braune Augen. «Er war im Krieg in Gefangenschaft geraten. Und heiratete eine Einheimische.»

Das gefiel John. Es machte Mary-Frances zu etwas Außergewöhnlichem, zu mehr als nur einem weiteren Mädchen, das sich auf der Straße verkaufte. Er erfuhr, dass sie auf eine Klosterschule gegangen war, und auch das fand er aufregend. «Aber wie bist du dann auf der Straße gelandet?»

Sie zuckte die Achseln. Durch den feinen Stoff ihres spitzenbesetzten Tops sah er herzzerreißend magere Schultern hindurchschimmern, spitze Knochen, die sich durch die blasse Haut bohrten. «Ich bin drogensüchtig», sagte sie. «Das ist eine Krankheit, für die es keine Heilung gibt. Mir kann niemand helfen.»

«Nächstes Mal», sagte sie lediglich, «müssen Sie bezahlen.»

Danach fuhr er heim nach Ponteland. Sein Haus hatte in völliger Dunkelheit gelegen. Damals war Judith schon nicht mehr wach geblieben, um auf ihn zu warten. Judith, seine Frau, Tochter eines Friedensrichters, Kirchenvorstehers und Sonntagsschullehrers. Mutter seines totgeborenen Kindes, deren Herz gebrochen war. Die so kalt geworden war wie die Heiligenstatuen in der Kirche, vor denen sie zum Beten kniete. Judith war seine Eintrittskarte in die Rechtschaffenheit gewesen, und er war ihr etwas schuldig. Ein Weilchen war er in der Auffahrt im Auto sitzen geblieben, hatte dem Ruf einer Schleiereule gelauscht und sich gefragt, wo sie wohl ihr Nest hatte und ob Hector an den Eiern interessiert wäre.

Jetzt schüttelte John Brace in seiner Zelle im Gefängnis von Warkworth den Kopf, um die Erinnerung an die Leere

An manchen Abenden hatten sie noch auf einen weiteren Besucher gewartet, auf das letzte Mitglied der Viererbande. Wenn der Professor dann kam, hatte er immer Geschichten aus einer vollkommen anderen Welt dabei. Der Professor verkehrte mit Leuten, die John Brace auf den Titelseiten der seriösen Sonntagszeitungen sah. In Hectors unaufgeräumtem Wohnzimmer vor dem offenen Kamin konnte John sich entspannen und er selbst sein. Manchmal kochte ihnen ein mürrischer Teenager einen Tee, bevor er wieder in sein Zimmer stapfte. Vera Stanhope. Er wusste, dass sie diejenige war, die ihn ins Gefängnis gebracht hatte. Aber jetzt war sie seine Hoffnung auf Erlösung.