John Brace lag in seiner Zelle und träumte, auch wenn er noch gar nicht richtig schlief. In seinem Traum war er wieder dreißig Jahre alt, körperlich fit und im Vollbesitz seiner Kräfte. Ein guter Ermittler. Selbst die Beamten, die ihn nicht leiden konnten, mussten zugeben, dass er unschlagbar war, wenn es darum ging, Verbrecher dingfest zu machen. Seine freien Tage verbrachte er damit, in den Bergen zu wandern, die weite Landschaft und die reine Luft wuschen den Gestank übelriechender Verhörräume und verdreckter Sozialwohnungen von ihm ab. Lieferten ihm eine Ausrede, nicht bei seiner ach so anständigen Frau und ihren Bekanntschaften aus dem Golfclub bleiben zu müssen. Oft war er in Begleitung von Hector Stanhope unterwegs, der ihn auf Vogelnester aufmerksam machte und Eier entdeckte, die er behutsam aufsammelte und in die Eierschachteln legte, die er immer im Rucksack dabeihatte. Womit sie sich beide ein bisschen dazuverdienten, obwohl das Sammeln selbst der Anreiz war, nicht der Profit. John Brace hatte Hector bewundert, der sich in den Bergen so gut auskannte und dieses natürliche Selbstbewusstsein eines Sprosses aus dem Landadel besaß, auch wenn Hectors Familie ihn schon lange Jahre zuvor verstoßen hatte.
Das alles lag nun schon fünfunddreißig Jahre zurück – 1982 war es gewesen, zwei Jahre vor dem Streik der Bergarbeiter. Damals gab es in Northumberland ausreichend Gruben und bei der Swan-Hunter-Werft am Tyne noch Arbeit für die Männer. Heroin war schon nicht mehr die Droge der Rockstars, sondern das Rauschgift der arbeitslosen Jugendlichen, die sich auf den Straßen der dem Verfall bereits anheimgegebenen Zechendörfer herumtrieben. Die Dealer standen vor den Schulen, um die Kinder zu ködern, wenn sie auf den Pausenhof strömten. Und John Brace hatte Mary-Frances Lascuola festgenommen, wegen Drogenbesitz und Prostitution.
Als sie ihm sagte, wie sie hieß, wollte er ihr zuerst nicht glauben. Was für ein Name sollte das denn sein, für eine junge Prostituierte in engen schwarzen Jeans, das Gesicht weiß angemalt wie eine Gothic-Jüngerin? Doch er machte sich nicht lustig über sie, er brüllte sie nicht an und nannte sie auch keine Lügnerin, denn sie hatte etwas an sich, das ihn unwiderstehlich anzog. Schon oft hatte er Frauen verhaftet und gegen Sex wieder laufengelassen, wobei er annahm, dass es für sie bloß ein Geschäft war. Er war bloß ein weiterer Freier, der sie mit einer Verwarnung davonkommen ließ, anstatt sie dem Richter vorzuführen. Und so brachte er auch Mary-Frances nicht aufs Revier und sperrte sie ein, sondern fuhr mit ihr zu einem Café an der A1, das die ganze Nacht geöffnet hatte. Das Mädchen hatte etwas Zerbrechliches an sich, und er dachte, dass sie die Mühe wert sei, ihr ein bisschen Zeit zu widmen. Er spendierte ihr Kaffee, Würstchen, Eier und Pommes und sah zu, wie sie alles sauber und manierlich aufaß. Dann wischte sie sich den Mund mit der Papierserviette ab und bat um eine zweite Tasse Kaffee, obwohl sie im selben Atemzug sagte, dass er abscheulich schmecke. Erst da erkundigte er sich, was es mit ihrem Namen auf sich habe.
«Mein Großvater war Italiener.» Dabei blickte sie ihm über den Rand ihres Porzellanbechers hinweg ins Gesicht. Sie hatte große braune Augen. «Er war im Krieg in Gefangenschaft geraten. Und heiratete eine Einheimische.»
Das gefiel John. Es machte Mary-Frances zu etwas Außergewöhnlichem, zu mehr als nur einem weiteren Mädchen, das sich auf der Straße verkaufte. Er erfuhr, dass sie auf eine Klosterschule gegangen war, und auch das fand er aufregend. «Aber wie bist du dann auf der Straße gelandet?»
Sie zuckte die Achseln. Durch den feinen Stoff ihres spitzenbesetzten Tops sah er herzzerreißend magere Schultern hindurchschimmern, spitze Knochen, die sich durch die blasse Haut bohrten. «Ich bin drogensüchtig», sagte sie. «Das ist eine Krankheit, für die es keine Heilung gibt. Mir kann niemand helfen.»
Er wollte sagen, dass er ihr helfen würde. Aber er war Polizist, kein Arzt, und davon ganz abgesehen, hielt sie ihn wahrscheinlich nur zum Narren und erzählte ihm, was er hören wollte. Er ging mit ihr zurück zu seinem Wagen, der hinter einer Reihe von Transportern versteckt in einer dunklen Ecke stand, und schlief mit ihr auf dem Rücksitz. Sie hatte nichts anderes erwartet, dennoch spürte er ihre Enttäuschung. Von ihm hatte sie sich mehr erhofft. Hinterher fühlte auch er sich enttäuscht und hätte sie fast um Entschuldigung gebeten. Er fragte sie, wo sie hinwollte, und ließ sie dort aussteigen. Ein Mietshaus in Whitley Bay, nicht weit vom Dome und von Spanish City. Vorsichtig half er ihr aus dem Wagen und gab ihr dann einen Kuss auf die Wange. Es roch nach Seetang und Zuckerwatte und auch nach Pisse und Dreck. «Ich würde dich gern wiedersehen.»
«Nächstes Mal», sagte sie lediglich, «müssen Sie bezahlen.»
Danach fuhr er heim nach Ponteland. Sein Haus hatte in völliger Dunkelheit gelegen. Damals war Judith schon nicht mehr wach geblieben, um auf ihn zu warten. Judith, seine Frau, Tochter eines Friedensrichters, Kirchenvorstehers und Sonntagsschullehrers. Mutter seines totgeborenen Kindes, deren Herz gebrochen war. Die so kalt geworden war wie die Heiligenstatuen in der Kirche, vor denen sie zum Beten kniete. Judith war seine Eintrittskarte in die Rechtschaffenheit gewesen, und er war ihr etwas schuldig. Ein Weilchen war er in der Auffahrt im Auto sitzen geblieben, hatte dem Ruf einer Schleiereule gelauscht und sich gefragt, wo sie wohl ihr Nest hatte und ob Hector an den Eiern interessiert wäre.
Jetzt schüttelte John Brace in seiner Zelle im Gefängnis von Warkworth den Kopf, um die Erinnerung an die Leere wieder loszuwerden, die er in jener Nacht empfunden hatte. Er lauschte auf die nächtlichen Geräusche im Trakt für die Älteren und Behinderten. Einer der Männer litt an frühzeitiger Demenz und schrie um Hilfe – nachts war er stets verwirrt, tagsüber wirkte er fast normal. Und immer wieder das Rasseln und Klimpern der Schlüssel, das an Brace’ Nerven zerrte. Für sein Leben gern wäre er jetzt mit Hector draußen auf einer Wanderung gewesen oder in dessen heruntergekommenem Haus in den Bergen, von dem aus man das ganze Tal überblicken konnte, hätte mit Hector und Robbie Marshall dort gesessen, den beiden Männern, die seine einzigen wirklichen Freunde gewesen waren. Mit ihnen hatte ihn eine viel tiefer gehende Gemeinschaft verbunden als mit jedem einzelnen seiner Arbeitskollegen.
An manchen Abenden hatten sie noch auf einen weiteren Besucher gewartet, auf das letzte Mitglied der Viererbande. Wenn der Professor dann kam, hatte er immer Geschichten aus einer vollkommen anderen Welt dabei. Der Professor verkehrte mit Leuten, die John Brace auf den Titelseiten der seriösen Sonntagszeitungen sah. In Hectors unaufgeräumtem Wohnzimmer vor dem offenen Kamin konnte John sich entspannen und er selbst sein. Manchmal kochte ihnen ein mürrischer Teenager einen Tee, bevor er wieder in sein Zimmer stapfte. Vera Stanhope. Er wusste, dass sie diejenige war, die ihn ins Gefängnis gebracht hatte. Aber jetzt war sie seine Hoffnung auf Erlösung.