Joe Ashworth hatte den ganzen Vormittag lang Recherchen über John Brace angestellt und fühlte sich von dem, was er erfahren hatte, regelrecht besudelt. Joes Vater war ein methodistischer Laienprediger gewesen, ein Mann mit hohen Moralvorstellungen, und Joe war zur Polizei gegangen, weil er ein ausgeprägtes Pflichtgefühl besaß. Für ihn war es ein ehrenhafter Beruf, auch wenn es nicht einfach gewesen war, seinen Vater davon zu überzeugen. Damals in den achtziger Jahren war vieles noch anders gewesen. Joe hatte die Geschichten vom Bergarbeiterstreik gehört, von den Polizisten, die in Bussen aus dem Süden in den Norden gekarrt wurden, um die Streikposten zurückzuschlagen, und dann mit der ihnen für diesen Einsatz gewährten Prämie prahlten, um die Streikenden zur Gewalt anzustacheln. Von denen einige, glaubte Joe, nicht noch großartig hatten angestachelt werden müssen. Sein Vater mochte einfache Geschichten von Gut und Böse, und was damals geschehen war, hatte Eingang in verklärte Erzählungen und Lieder gefunden. Für seinen Vater und dessen Freunde hatte die Polizei schon immer zu den Bösen gehört.
Doch selbst nach den Maßstäben der Achtziger war Brace ein Böser gewesen. Ein prügelnder Polizist, der junge Beamte korrumpierte und log. Dennoch hatte es Jahrzehnte gedauert, bis er endlich zur Rechenschaft gezogen wurde. Joe war schon früh am Morgen auf dem Revier gewesen und hatte die Berichte zu Brace’ Anklage und Verhaftung in Zusammenhang mit dem Tod von Glen Fenwick, dem Wildhüter von Standrigg, akribisch durchgesehen. Dabei war er auf ein Video gestoßen, in dem Brace 2009 breitbeinig in den Gerichtssaal stolzierte, als hielte er es für unmöglich, dass es zu einem Schuldspruch kommen könne. Schon früher hatte es Disziplinarverfahren gegen ihn gegeben: Anzeigen von Bürgern wegen seiner extremen Grobheit, die Beschwerde eines Anwalts, dessen Mandant in Untersuchungshaft verprügelt wurde, oder die Aussage der Leiterin eines Frauenhauses, die vorbrachte, Brace hätte eine der Frauen in ihrer Obhut missbraucht. Offenbar war es Brace immer gelungen, diese Anschuldigungen unbeschädigt zu überstehen und trotz des Verdachts auf Korruption und Unehrenhaftigkeit weiter befördert zu werden. Joe war sich nicht sicher, ob der Grund dafür in den damaligen Gebräuchen bei der Polizei zu suchen war oder ob Brace Freunde an den allerhöchsten Stellen gehabt hatte.
Und nun, während er da im Großraumbüro saß und zuhörte, wie Holly und Vera über Patty Keane plauderten, merkte er, dass er immer ungeduldiger wurde. Es tat ihm ja leid, dass die Kleine offenbar schwere Zeiten durchmachte, allerdings, dachte er, konnten die Zeiten so schwer auch nicht sein, wenn sie miet- und zinsfrei in einem Haus wohnte, das ihr ein korrupter Expolizist, der zufällig ihr Vater war, geschenkt hatte. Vera hatte getan, wozu sie sich Brace gegenüber verpflichtet hatte, sie hatte Patty besucht und sich versichert, dass Brace’ Enkelkinder nicht Gefahr liefen, in einem Heim untergebracht zu werden. Aber Brace hatte ihr von einem Mord erzählt, und darauf sollten sie sich jetzt konzentrieren. Vera sollte zurück nach Warkworth fahren und mehr Informationen verlangen.
Aber als sie ihn dann nach seiner Meinung fragte und er sagte, was er dachte, erntete er für all seine Mühen nur einen höhnischen Kommentar. Eigentlich sollte er sich inzwischen an Veras spöttische Bemerkungen gewöhnt haben, aber sie wurmten ihn immer noch, vor allem, wenn sie vor dem versammelten Team gemacht wurden. Also blieb er nun stumm sitzen und hörte Charlie zu, der berichtete, was er über Robbie Marshall in Erfahrung gebracht hatte. Die Sonne fiel schräg durchs Fenster. Offenbar hatten sie Anfang September, kurz nachdem die Kinder wieder zur Schule mussten, immer so ein Wetter. Während er Charlies Stimme lauschte, fühlte Joe sich plötzlich selbst wieder wie ein Kindergartenkind, das vor der Erzieherin auf dem Teppich saß und sich Geschichten aus längst vergangenen Zeiten anhörte.
«John Brace und Robbie Marshall gingen auf dieselbe Schule», berichtete Charlie. «Beide besuchten das Gymnasium in Bebington, was bedeutet, dass sie schlaue Burschen waren. Johns Vater hatte einen Direktorenposten bei den Bergwerken, und Robbies Vater besaß eine eigene Metzgerei. Beides angesehene Familien, wenn auch nicht unbedingt nobel. Damals wurden John und Robbie Freunde, traten dem Naturkundeclub bei und machten gemeinsame Exkursionen in die Berge. Offenbar hatten sie einen Lehrer, der bei vielen Schülern das Interesse an der Natur weckte. Keiner von beiden besuchte die Universität. John ging mit achtzehn zur Polizei, und Robbie fing als Lehrling auf der Werft an, wobei sich herausstellte, dass er besser mit Zahlen umgehen konnte als mit Werkzeug, weshalb er in der Materialbeschaffung eingesetzt wurde. Er machte dann noch ein paar Prüfungen und hatte es zum Zeitpunkt, als er verschwand, zum Leiter der Beschaffungsstelle –»
«Das vierte Mitglied der Bande.» Vera konnte nicht an sich halten und unterbrach ihn. «Der, den ich nie kennengelernt habe, den sie den ‹Professor› nannten. Ging der auch aufs Gymnasium in Bebington? Hector war älter und besuchte eine Privatschule außerhalb von Alnwick, was heißt, dass er Brace und Marshall später kennengelernt haben muss.»
Charlie schüttelte den Kopf. «Über den Professor konnte ich nichts in Erfahrung bringen. Als Brace fünfundzwanzig war, heiratete er Judith Waterson. Den Gerüchten zufolge eine Zweckehe. Judiths Vater war Friedensrichter und mit dem Polizeipräsidenten befreundet. Trotzdem waren sie wohl glücklich miteinander, zumindest am Anfang. Wenn man den Jungs glaubt, die ihn damals kannten.» Er schwieg kurz. «Robbie hat nie geheiratet und wohnte zeit seines Lebens bei seiner Mutter. Sein Vater starb, kurz nachdem Robbie mit der Schule fertig war, und er war ein Einzelkind. Seine Mutter lebt in Wallsend in einem von den Häusern mit Ausblick auf den Park. Was damals eine ziemlich gute Adresse war.»
«Weiß man, weshalb er nie heiratete?», fragte Vera. «War er schwul?»
Charlie schüttelte den Kopf, um anzuzeigen, dass er sich dazu keine Meinung gebildet hatte, und heftete ein paar Fotos von Robbie Marshall ans Whiteboard. «Das sind die Bilder, mit denen wir die Bevölkerung um Mithilfe baten, als er damals vermisst gemeldet wurde.» Joe blickte auf einen Mann mit schmalem, verbissenem Gesicht und einer Brille, die auf einer langen Nase saß. Eins der Bilder war auf einem Firmenausflug aufgenommen worden. Robbie saß mit anderen an einem Tisch, von dem die Teller bereits abgetragen waren, vor einer Tasse Kaffee und einem Glas Brandy. Seine Nase war ganz rot, und er grinste in die Kamera. Das andere Foto war irgendwo draußen gemacht worden. Marshall, der mit Pullover und Tweedsakko gekleidet war wie ein Landedelmann, lehnte an einer steinernen Brücke, die über einen Fluss führte. Im Hintergrund war unscharf eine große Gestalt in Lederstiefeln und mit einer langen gewachsten Jacke zu sehen.
Joe überlegte gerade, ob das wohl Hector war, als Vera mit ihrem dicken Finger auf die Gestalt deutete: «Könnte das der Professor sein?»
«Dazu gibt es keine Angaben.» Charlie warf einen Blick in seine Notizen, aber Joe wusste, dass er die eigentlich gar nicht brauchte. Seit Charlies Tochter wieder bei ihm eingezogen war, war der Ermittler wieder zum Leben erwacht. Nachdem er schon auf die Pensionierung zugedriftet und langsam in eine Depression abgeglitten war, weil seine Frau einen neuen Partner gefunden hatte, war er nun wieder zu einem der tüchtigsten Mitglieder des Teams geworden. «Am 25. Juni 1995 meldete Marshalls Mutter ihren Sohn als vermisst. Die Werft war 1993 unter Konkursverwaltung gestellt worden, nachdem sie bei der Ausschreibung für einen Regierungsauftrag, bei dem es um den Bau eines neuen Schiffs für die Royal Navy ging, den Zuschlag nicht erhalten hatte, aber Robbie arbeitete noch dort. Die Konkursverwaltung hatte ihn weiterbeschäftigt, er sollte den Abschlussbericht über Ausrüstung und Anlagen der Werft erstellen. Zu der Zeit war Robbie Anfang vierzig und hätte mit seinen Fähigkeiten auch einen anderen Job bekommen, aber vermutlich war er für die Verwalter äußerst nützlich, und bestimmt haben sie ihn gut bezahlt. Seiner Mutter zufolge hat ihm seine neue Rolle richtig Spaß gemacht. Es ging nur noch um Zahlen, und mit Zahlen hatte er schon immer gern jongliert.»
Charlie legte eine Pause zum Luftholen ein. Joe dachte an die große Werft am Tyne zurück und all die Männer, die dort gearbeitet hatten, an die riesigen Schiffe, vor denen, wenn sie am Tag des Stapellaufs in den Fluss glitten, die Reihenhäuser zu Hütten für Zwerge geschrumpft waren. Einer seiner Onkel war Nieter gewesen und ein anderer Bautischler. «Wurde Marshall als Verräter betrachtet, weil er für die Konkursverwalter gearbeitet hat?»
«Nein, ich glaube, die anderen hielten ihn bloß für einen Glückspilz, weil er noch einen Job hatte.»
«Dann hat sich der Mann also einfach in Luft aufgelöst?» Jetzt war es Vera, die ungeduldig wurde.
«So ungefähr.» Charlie blickte auf die Aussage von Marshalls Mutter hinab. «Das war an einem Sonntag. Robbie Marshall ist in den Norden gefahren, um den Tag gemeinsam mit seinen Freunden John Brace und Hector Stanhope in den Bergen zu verbringen, beim Wandern und mit der Beobachtung von Vögeln.» Er nickte in Richtung Vera.
«Damals wohnte ich nicht mehr zu Hause», sagte Vera. «Da war ich schon bei der Polizei eingetreten.»
«Seine Mutter erwartete ihn zum Abendessen zurück. An den Wochenenden hat sie immer erst abends gekocht, weil er den ganzen Tag unterwegs war. Als er zur vereinbarten Zeit nicht auftauchte, rief sie bei Hector an, der sagte, dass John und Robbie eine halbe Stunde vorher gegangen wären und Robbie bald zu Hause sein müsste. Er bat sie um Entschuldigung, falls sie ihr Unannehmlichkeiten bereitet hätten. Sie hätten sich verplaudert und gar nicht gemerkt, wie die Zeit verging. Eine Stunde später rief sie bei John Brace an. Der war nicht zu Hause, und sie sprach mit Judith, die sagte, sie würde ihren Mann erst viel später erwarten. Mrs. Marshall dachte, dass die beiden vielleicht beschlossen hätten, etwas zusammen zu unternehmen, weshalb sie Robbies Essen in den Kühlschrank stellte und selbst schlafen ging. Als er am nächsten Morgen immer noch nicht da war, meldete sie ihn offiziell als vermisst. Dem Beamten, der die Anzeige aufnahm, erzählte sie, dass ihr Sohn noch keinen einzigen Tag bei der Arbeit gefehlt hätte.»
«Und was hatte John Brace dazu zu sagen? Er muss doch die letzte Person gewesen sein, die Robbie Marshall vor dessen Verschwinden gesehen hat.» Vera war vom Schreibtisch gesprungen und tigerte vor dem Whiteboard auf und ab.
«Damals gab Brace an, er und Robbie wären in getrennten Wagen bei Hector losgefahren. Bevor sie sich auf den Weg ins Tal machten, hätten sie sich vor dem Haus noch kurz miteinander unterhalten. Er hätte den Eindruck gehabt, dass Robbie direkt nach Hause fahren wollte. So lief der Sonntag für gewöhnlich immer ab, und Robbie hätte nicht erwähnt, dass er etwas anderes vorhatte. Brace sagte weiter aus, er selbst hätte sich mit einem Informanten in einer Bar draußen an der Küste in Whitley Bay getroffen. Deshalb hätte er seiner Frau auch gesagt, dass er erst spät nach Hause kommen würde. Als er dann heimkam, hätte Judith schon geschlafen, weshalb sie ihm nichts von dem Anruf von Robbies Mutter erzählen konnte. Brace sagte damals, er hätte erst am nächsten Morgen erfahren, dass Robbie nicht nach Hause gekommen war, als Mrs. Marshall sich voller Panik an ihn wandte. Er hätte ihr dann geraten, eine offizielle Vermisstenanzeige für ihren Sohn aufzugeben.»
Im Großraumbüro breitete sich Schweigen aus, unterbrochen nur von dem Geräusch, das Veras scheußliche Sandalen auf dem Linoleumboden machten. Plötzlich blieb sie stehen. «Wie intensiv wurde damals eigentlich nach Marshall gesucht? Immerhin war er ein alter Kumpel von John Brace, dem Superhelden und Verbrecherjäger. Man sollte meinen, die Polizei hätte Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt.»
Charlie zuckte die Achseln. «Drei Tage später fand man Marshalls Auto auf einem Langzeitparkplatz am Flughafen von Newcastle. Alle nahmen an, dass er getürmt wäre. Dass er sich an eins von den sonnigen Plätzchen abgesetzt hätte, an denen er so gern Urlaub machte. Zwar tauchte sein Name auf keiner Passagierliste auf, aber nachdem er einen Haufen übler Typen in Tyneside kannte, ging die Polizei davon aus, dass er leicht an gefälschte Papiere hatte kommen können. Einer Theorie zufolge hatte er, während er den Abschlussbericht für die Konkursverwalter erstellte, Bargeld und Ausrüstung von der Werft entwendet und geglaubt, dass sie kurz davorstanden, ihn zu schnappen.»
Was Sinn ergab, fand Joe. Er stellte sich einen gealterten Robbie Marshall vor, der unter falschem Namen in Spanien in der Sonne saß, die lange Nase noch röter als zuvor.
«Haben Hector oder John Brace je wieder von ihm gehört?» Vera hievte sich zurück auf den Schreibtisch, was sie einige Mühe kostete.
«Ich weiß nicht mal, ob sie das überhaupt gefragt wurden. Marshall war ein erwachsener Mann. Es gab Wichtigeres, was der Polizei den Schlaf raubte.»
«Aber seiner Mutter hat die Sache bestimmt jahrelang den Schlaf geraubt», sagte Vera. «Vermutlich lebt sie nicht mehr, oder?»
«Doch.» Dafür musste Charlie nicht mal in seine Notizen blicken. «Sie ist inzwischen Mitte neunzig, wohnt aber immer noch in demselben Haus.»
«Da können wir doch anfangen. Wenn sie jeden Sommer nach Málaga in den Urlaub fliegt, wissen wir, dass Brace uns angelogen hat und für dumm verkaufen will.»
«Oder dafür sorgen will, dass sich jemand um seine Tochter kümmert.» Zwar war Joe der Gedanke zuwider, Brace könnte edle Motive für die Verbreitung des Märchens von Marshalls Tod haben, aber er wusste genau, wie er selbst sich fühlen würde, wenn Jess in Schwierigkeiten wäre und er ihr nicht zu Hilfe kommen könnte.
«Aye, vielleicht.» Vera klang, als würde sie kein Wort glauben. Aber Vera hatte schließlich keine Kinder.