Nur wenige Tage nach seiner Genesung setzte sich Walter ans Bett der sterbenden Filomena. Er schaute sie sanft an, und sie blickte aus weit aufgerissenen Augen zurück. Sie war zweiundneunzig. Bis vor Kurzem hatte sie den ganzen Tag strickend auf ihrem wackeligen Stühlchen gesessen. Plötzlich, ein paar Tage nach dem Dreifachgewitter, stand sie auf und legte sich ins Bett. Ihre Familie rief nach Walter.
Eine Kerze in der Ecke des Zimmers holte das verzerrte Gesicht der Sterbenden aus dem Dunkel. Das Licht erhellte auch das Marienbild, das über dem Bett hing. Walter wartete gelassen, bis sich Filomenas ausgetrocknete Lippen bewegten. Die ersten Wortversuche konnte Walter nicht verstehen, es war eher ein Gewürge als ein Reden. Nur langsam tastend löste sich Filomenas Stimme. Auf ein paar zerstückelte Sätze folgte ein langer Atemzug. Walter rührte sich nicht. Kein Licht im Zimmer, nur die Kerze, und eine immer stickigere Luft. Walter atmete ruhig, er war bereits geübt. An Filomenas Sterbebett erfuhr er aber zum ersten Mal, wie das Lispeln und Flüstern der Todgeweihten in ihm ein wohliges Gefühl auslösten, das sich von den Füßen bis in die Haarspitzen ausbreitete, eine Entspanntheit, die ihn beinahe einschläferte. Er merkte, wie während der Geschichtenabnahme die Stimmen in seinem Kopf schwiegen, als ob auch sie der neuen Geschichte lauschten.
Nach vielen Unterbrechungen und langem Ausschweifen kam Filomena auf das dreifache Gewitter zu sprechen: »Ich habe ihn gehört, er hat nach mir gerufen, da habe ich mich hingelegt.«
Sie erklärte Walter, mit Gewittern sei nicht zu scherzen. Im Herbst 1945, der Krieg war gerade zu Ende, seien um Gruma herum die Flüsse und Teiche über die Ufer getreten, der Blitz sei eingeschlagen, und zu guter Letzt habe ein Erdbeben das Dorf durchgeschüttelt. Die darauffolgende Nacht hätten die meisten im Freien verbracht, aus Angst, die Häuser würden über ihren Köpfen zusammenstürzen.
»Ich war …«, Filomena überlegte lange, »… sechzehn damals.« Ihre Stimme hatte wieder an Kraft gewonnen. »Wir saßen da draußen und schauten den Himmel an. Er war voller Sterne. Ich habe nie mehr einen solchen Himmel gesehen. Wir hatten Angst, aber der Himmel leuchtete. Ich erinnere mich, dass der Boden ganz aufgeweicht war vom vielen Regen.«
Filomena legte eine Pause ein. Ihr Blick verfinsterte sich. Sie sagte, es gab ein anderes Mädchen, Maria, ein oder zwei Jahre älter als sie, es lebte ganz allein, weil es beide Eltern verloren hatte. Filomena mochte das Mädchen nicht, weil es von den jungen Männern so begehrt wurde. Sie wisse nicht, woher ihr der düstere Gedanke plötzlich gekommen sei, aber als sie alle da draußen auf den Morgen warteten, habe sie gerufen:
»Sie ist’s gewesen, ich hab’s gesehen, sie war oben in der Kapelle und hat auf das Jesuskreuz gespuckt, ich habe sie gesehen, und dann ist das Gewitter losgegangen, und die Erde hat gebebt, sie ist schuld.«
Sie habe auf die arme Maria gezeigt und so laut gerufen, dass alle es hören konnten. Niemand habe gesagt, sie solle damit aufhören. Im Gegenteil, plötzlich seien alle Blicke auf Maria gerichtet gewesen, und von diesem Tag an sei die Arme immer schief angeschaut worden. Es war so, als hätte Filomena auf Maria gespuckt und der Schandfleck wäre einfach nicht mehr weggegangen, nicht einmal als Maria ihr leidtat. Bei jedem Unglück, jeder Krankheit, jedem Missgeschick zeigte man fortan auf Maria. Es hieß, sie richte den malocchio, den bösen Blick einer Hexe, auf die anderen, und man solle sie meiden. Maria sperrte sich zu Hause ein. Sie ließ niemand mehr herein. Sie wurde krank, ohne dass man im Dorf davon Notiz genommen hätte, und starb, so jung, einsam und verlassen und ohne Geschichtenabnahme. Da legte Filomena nochmals eine Pause ein.
»Das Erdbeben war im Herbst 1945, von 1940 bis 1945 war Giangi Geschichtenabnehmer, Maria ist im Januar 1946 gestorben, das weiß ich noch, weil es so kalt war, und Olmo hat erst im Sommer begonnen … Also hatten wir niemand, als sie starb …«
Sie kniff die Augen zusammen vom vielen Nachdenken und sagte, wenigstens sei sie nicht schuld daran, dass Maria ohne Geschichtenabnahme gehen musste.
»Aber das ändert ja nichts. Don Pietro sagt in der Kirche, wir fänden da oben einen Platz. Ich weiß nicht, ich habe nie zugegeben, dass die Sache mit Maria gelogen war. Ich habe immer gehofft, die Leute würden es vergessen, und ich hätte ihr sagen wollen, dass es mir leidtut, aber sie ist nicht mehr aus ihrem Haus gekommen.«
Filomena brauchte einen ganzen Tag, um von dieser Nacht im Freien zu erzählen, um das Unrecht, das sie Maria angetan hatte, aufzurollen. Dann aber schlief sie friedlich ein. Walter atmete tief durch. Er spürte, wie die Geschichte eine neue Stimme in seinen Kopf pflanzte und ihn für einen Moment ganz erfüllte. Er wartete noch eine Weile, stand auf und trat aus dem Totenzimmer. Danach die üblichen Umarmungen der Familienangehörigen, das Essen und die beiden Tanten, die ihn auf der Straße mit weit ausgebreiteten Armen »Nerì, Nerì« rufend empfingen. Walter hörte sie nicht. Der Ton war weg, nach der Geschichtenabnahme war Gruma für ihn auf lautlos gestellt.
Nach einer Weile stellte sich aber etwas Neues in Walters Kopf ein, das Verlangen nach neuen Geschichten. Nach dem Teich, der Jukebox oder dem Gewitter fühlte er sich reingewaschen und wieder im Gleichgewicht, aber gleichzeitig leer und worthungrig.