Was auch immer in Gruma passierte, für den Tag der Befana, den sechsten Januar, traf Zia Filina jedes Jahr lange im Voraus ihre Vorbereitungen. Das hatte seinen Grund. Am Tag der Befana wäre Walter als Säugling beinahe gestorben. Seine Mutter, die damals gern das Tanzbein schwang, hatte sich das Fest nicht entgehen lassen wollen. Schon ab Nachmittag wurde traditionsgemäß in Beppos Osteria getanzt und vin brulé getrunken. Elvira legte das Kind in einen Korb und nahm es mit. Als es wegen der lauten Tanzmusik nicht mehr zu beruhigen war, brachte sie es in ein Zimmer im oberen Stock. Das Tanzfest nahm Fahrt auf, und Elvira dachte nicht mehr an ihren Sohn. Erst nach ein paar Stunden kam Beppos Frau zufällig in das Zimmer und entdeckte das unterkühlte Kind. Walter war bleich, mit blau gefärbten Lippen, und wirkte leblos. Man wickelte ihn rasch in warme Decken und stellte den Korb vor den Kamin. Elvira konnte nicht mehr aufhören zu weinen. Jemand hatte Filina geholt, die mit weiteren Decken angerannt kam. Sie hob das Kind auf, schüttelte es, rieb es mit den Händen. Dann packte sie ihre Schwester an den Haaren und schleifte sie über die ganze Tanzfläche. Elvira blieb mit zitterndem Kinn am Boden liegen und wischte sich die Tränen aus den Augen.
»Fortan kümmere ich mich um das Kind«, fauchte Filina und ließ sie dort liegen.
Filina behauptete, die Befana habe dem Kind das Leben gerettet, sie habe Beppos Frau dazu gebracht, in das Zimmer im oberen Stock zu gehen. Dem wollte Filina von nun an gedenken.
Die Befana war keine Hexe, vielmehr eine Wohltäterin, aber Filina gelang es nicht, sich so zu kleiden, dass sie den Kindern keine Angst einjagte. Sie trug einen langen, aus Stofffetzen zusammengenähten Rock, über die Schultern einen gestrickten alten Schal, graue Strümpfe, Schuhe mit einer halb abgerissenen Sohle, die ihre Knöchel noch spitzer aussehen ließen. Die grau melierten Haare hingen wie Strohhalme unter dem breiten Hut, und die Nase, von der Winterkälte gerötet, stach wie ein Schnabel aus ihrem Gesicht hervor.
Den Vortag verbrachte Filina damit, Nüsse, Orangen, Bonbons und gedörrte Feigen zusammenzusammeln. In der Nacht füllte sie unzählige Socken mit diesen Leckereien, holte Walter aus dem warmen Bett, und frühmorgens gingen sie aus dem Haus. Gemeinsam klopften sie an Grumas Türen. Die Kinder nahmen ehrfurchtsvoll und mit großen Augen die gefüllten Socken entgegen. Kein einziger war mit Holzkohle gefüllt, was den unartigen Kindern der umliegenden Dörfer und von San Giorgio durchaus blühen konnte.
Walters Aufgabe war es, die gefüllten Socken aus dem Sack herauszunehmen und den Kindern zu übergeben. Zia Filina klopfte strahlend den Schnee von ihren Schuhen. Walter an Befanas Seite bedeutete nämlich, dass an diesem Tag keine Geschichtenabnahme stattfinden konnte. Und in der Tat, in den fast zweiundzwanzig Jahren ist in Gruma niemand am sechsten Januar gestorben. Einmal musste eine Geschichtenabnahme am frühen Morgen unterbrochen werden. Die Sterbende hatte am Morgen des siebten Januar mit ihrer Geschichte dort weitergemacht, wo sie zwei Abende zuvor stehen geblieben war.
Die Runde endete ungefähr um zwei Uhr nachmittags. Nun folgte der zweite Teil, das Essen für das ganze Dorf zu machen. Vieles hatten Luana und Elvira schon Tage zuvor vorbereitet. Unter Filinas Aufsicht wurde dann den ganzen Nachmittag gekocht. Bis um sieben Uhr war der Tisch gedeckt.
Zia Filina war auch sonst eine ausgezeichnete Köchin, aber für diesen einen Abend übertraf sie sich. Sie verwendete nur die allerbesten Zutaten und arbeitete nach geheimen Rezepten. Am Abend der Befana war Walters Zuhause der Inbegriff der Gastfreundschaft. Es gab Unmengen an Essen, und zu den bekannten Gesichtern, Beppo, Sciugar, Don Pietro mit der unzertrennlichen Erminia, Merlo, Manu, La Fran, gesellten sich Leute, die Walter zuvor noch nie gesehen hatte. Filinas großzügige Einladung hatte sich bis nach San Giorgio herumgesprochen. Es war keine Anmeldung nötig, man konnte einfach kommen und sich an den Tisch setzen. Nachdem Don Pietro das Tischgebet gesprochen hatte, durften die Gäste zugreifen. Walter saß mittendrin, ließ die Beine vom hohen Stuhl baumeln, genoss das laute Gerede, das seinen Kopf leer spülte, die Nähe und Wärme der Körper, die sich um den großen Tisch drängten, spürte, wie sich die Ellbogen berührten, und sah zu, wie man einen Schluck aus dem Glas des anderen nahm und vom selben Teller aß, denn es gab nicht genug Geschirr für alle. Er sog den Geruch von gedünsteten Zwiebeln, geriebenem Knoblauch, der Kruste des geschmorten Fleisches ein; der Duft von Zia Filinas Gewürzen, vermengt mit dem der Menschen um ihn herum, war wie eine aromatische Umarmung.
Zia Filina, die ihr Befana-Kostüm abgelegt hatte, schaute quer über den Tisch, sprach viel und mit ungewohnter Hast. Irgendwann holte Sciugar sein Akkordeon hervor, und der Merlo knipste Fotos. Manchmal wurde es so laut, dass Filina ihre beiden Schwestern und die Gäste mit den Händen dirigierte. La Fran und die anderen Kinder drängten nach draußen, aber Walter wollte nicht mit.
Wenn Filina ein paar Gläser Wein zu viel getrunken hatte, wiederholte sie den Gästen zugewandt: »Dass ihr mir meinen Nerì ja gut behandelt!«
Mit ihrer Großzügigkeit wollte sie nicht nur der Befana ihren Tribut zollen, sondern auch Grumas Gunst befördern.