Zio Fredo war der ruhige Pol im Haus. Seine Passion waren die Lambretta und seine Bücher. Er hatte keine Schule besucht und war trotzdem belesen. Er arbeitete als Kellner in einem Nobelhotel in San Giorgio, wo die Heilquellen aus dem Felsen sprudelten, die bei Touristen aus aller Welt so beliebt waren. Er fuhr um zehn Uhr mit seiner Lambretta los. Walter durfte ein kleines Stück auf dem Hintersitz mitfahren, musste dann aber absteigen und, nachdem ihm Zio Fredo einen Klaps auf die Wange gegeben hatte, zurück zu den Tanten rennen, die wie zwei Madonnen im Türrahmen auf ihn warteten.
Von den vornehmen Leuten, die San Giorgios Schwefelheilquellen aufsuchten, hielt Zia Filina nichts. Sie spottete, die würden in der piscia del diavolo, dem stinkigen Urin des Teufels, baden, und verlangte von Zio Fredo, sich in der Scheune die Schuhe auszuziehen und die Hände zu waschen, bevor er ins Haus trat.
Nach dem Abendessen steckten Zio Fredo und Walter ihre Köpfe zusammen. Fredo erklärte Walter Dinge, die der Kleine nicht wissen konnte, weil es sie in Gruma nicht gab, in San Giorgio hingegen schon. Fredo hatte ein Bild aus einer Zeitschrift ausgeschnitten und zeigte ihm den Elefanten, den er einmal in einem Zirkus gesehen hatte. Oder er legte eine Ansichtskarte auf den Tisch, die er aus einer Stadt, die Pisa hieß, erhalten hatte. Walter sah den weißen schiefen Turm, der auf die Seite zu stürzen drohte, und wollte ihn mit seinem Finger aufhalten. Einen so schönen Turm dürfe man nicht umkippen lassen, der Elefant könne ihn doch wieder gerade machen, meinte er.
Ob aus Büchern, von Ansichtskarten oder der eigenen Phantasie entspringend, Zio Fredos Geschichten waren weitaus harmloser als jene, die Zia Filina erzählte. Dennoch regte sie sich darüber auf, denn was Fredo berichtete, konnte aus ihrer Sicht für Walter Gefahren bergen. Wenn der Onkel sagte, er sei auf dem Heimweg den »Zigeunern« begegnet, schaltete sie sich gleich ein und ermahnte Walter, er solle mit diesen Leuten kein Wort wechseln, ihnen aus dem Weg gehen, denn sie würden die Kinder mitnehmen und nie mehr zurückbringen. Oder wenn Zio Fredo die farbigen Sportwagen der vornehmen Gästen beschrieb, sagte Zia Filina, Walter dürfe nicht allein auf die Straße, denn diese Leute würden mit ihren rasenden Autos die Kinder totfahren. Walter entgegnete, dass ein solches Auto, das, wie Zio Fredo schwor, zehnmal schneller als die Lambretta war, nur leider noch nie in Gruma aufgetaucht wäre. Zio Fredo gab dem Kind recht. Zia Filina griff nach dem Besen und schlug damit auf die Tischkante, sodass Zio Fredo klein beigab.
Er las Walter aus seinen Büchern vor und erzählte ihm so, was da draußen in der Welt alles passierte. Fredos Geschichten musste Walter nicht wie bei der Abnahme in seinem Kopf einsperren, sondern sie hatten Flügel und nahmen ihn mit auf Reisen.
In einem Buch, das Walter immer wieder durchblättern wollte, gab es die Abbildung eines fliegenden, lang gezogenen Luftballons. Zio Fredo erklärte ihm, das sei der Zeppelin, so etwas wie ein riesiges Schiff, das fliegen konnte. Weiter hinten im Buch gab es eine Doppelseite, die im Detail zeigte, wie dieser Zeppelin gebaut war und aus welchen Teilen er bestand. Walter stellte sich vor, wie die Reisenden in den Passagierräumen saßen, wie sie im edlen Speisesaal dinierten, wie sie dann in ihren Schlafkabinen träumten. Ein solcher Zeppelin, erklärte ihm Zio Fredo, sei einmal bis nach Amerika geflogen, kurz vor der Landung aber explodiert und abgestürzt.
In der Nacht ging Fredo manchmal mit Walter in den Garten, um ihm den Sternenhimmel zu zeigen. Er erzählte ihm, ein Kosmonaut namens Juri Gagarin sei als erster Mensch da oben herumgeflogen und später seien dann drei weitere Männer mit einer Rakete auf dem Mond gelandet.
Immer wieder holte Fredo Bücher hervor, die er in allen erdenklichen Winkeln des Hauses, unter dem Bett, in einer Truhe, hinter dem Vorhang, aufbewahrte. Er musste sie nicht gerade verstecken, aber sie durften auf keinen Fall unnötig Platz wegnehmen, denn Filina hielt nicht viel davon, was in den Büchern stand. Sie war überzeugt, dass nur die Arbeit mit den Händen einen Wert hatte. Die meisten in Gruma dachten so.
Onkel Fredo hingegen hatte früh erkannt, dass Walter seine Träume hatte, das Meer, eine eigene Lambretta, um damit bis ans Ende der Welt zu fahren, und später eine Liebe, wie sie andere Jungen auch hatten, aber Zia Filina wollte nicht, dass der Onkel mit diesem Gerede und den Büchern solche Sehnsüchte nährte. Ein Geschichtenabnehmer war dafür bestimmt, für immer in Gruma zu bleiben, zumindest solange er sein Amt innehatte, und danach war man alt, vom vielen Sitzen gekrümmt, von den vielen Geschichten benebelt, und wollte nirgendwo mehr hingehen.