Nachdem Walter zehn Jahre alt geworden war, musste Zia Filina aber über ihren Schatten springen und ans Meer fahren. Den ganzen Winter und Frühling lang hatte Walter so sehr an Asthma gelitten, dass er in manchen Nächten blau angelaufen war und zu ersticken drohte. Zia Filina hatte tage- und nächtelang neben dem nach Luft ringenden Bub gesessen. Fredo hatte mehrmals gesagt »Lass mich ihn ans Meer bringen, das wird helfen«, und nachdem eines Nachts Walter aus Sauerstoffmangel kurz weggetreten war, gab sich Zia Filina geschlagen. Aber sie wollte es selbst in die Hand nehmen. Bevor man ans Meer ging, behauptete sie, sei eine Pilgerwanderung zur Kapelle der Sant’ Eterna, fast zuoberst auf dem Monte Grasso, notwendig.
Sie packte einen Rucksack, nahm Walter an die Hand, und sie zogen los. Nach Sant’ Eterna ging man ohne Schuhe. Der Fußmarsch dauerte mehr als vier Stunden. Am Schluss hatten Tante und Neffe aufgeschürfte Fußsohlen, zwischendurch musste sie das Kind tragen, aber die Mühen hätten sich gelohnt, meinte Zia Filina, denn Sant’ Eterna habe Walter dermaßen liebevoll angeschaut, dass das Meer keine Bedrohung mehr sei und das Asthma bald daran ersticken würde.
Kurz darauf folgte die Woche am Meer. Es war August. Vor der Abreise hatte Zia Filina eine handgeschriebene Mitteilung an den Stamm der großen Platane vor Beppos Osteria geheftet: »Walter muss ans Meer! In dieser Woche darf niemand sterben!«
Zia Filina nahm auch Teresa mit, damit sie ihr helfen könne, auf Walter aufzupassen. Teresa war siebzehn, sie war schmal, in die Höhe geschossen, hatte Haare fast so schwarz wie Walter und wenig Lust, ihre Tante und den Cousin zu begleiten. Fredo hatte ihr zum Trost einen Fotoapparat mitgegeben.
Die sieben Tage am Meer folgten einem strengen Plan. Zia Filina wollte dafür sorgen, dass Walter möglichst viel Jod einatmete, denn, wie sie gehört hatte, darauf kam es an. So saß Walter bereits um sechs, als der Strand noch menschenleer war, im Sand. Teresa knipste Fotos. Es gibt ein Bild, auf dem man Walter unter dem Sonnenschirm sitzen sieht, und ein anderes, wo er zwischen spielenden Kindern steht und ins Leere blickt. Teresa trug einen dunkelgrünen Badeanzug mit roten Tupfen. Sie durfte sich nicht allzu weit vom Sonnenschirm entfernen und nur alle zwei Stunden kurz ins Wasser gehen.
Was im Laufe eines jeden Morgens passierte, war für Walter ein Ereignis. Mit den Leuten, die nach und nach an den Strand strömten, füllte sich alles um den Sonnenschirm herum mit Stimmen. Um zehn war der Strand zum Bersten voll. Überall Kinder, die Fußball spielten, Sandburgen bauten oder Muscheln sammelten, Jünglinge, die wegen Teresa Zia Filinas Sonnenschirm belagerten, und jüngere Frauen, die ebenfalls Kinder hüteten und bei Zia Filina für einen Schwatz haltmachten. Aus Radios tönte Musik. Walter kam nicht aus dem Staunen heraus. Er stand da und horchte dem Stimmengewirr, das sich nicht in seinem Kopf, sondern um ihn herum ausbreitete, sich mit dem schäumenden Schlagen der Wellen vermischte und mit dem Wind, der nie abflaute und Tante Filinas Kleid hochflattern ließ.
Er machte sich ein Spiel daraus, die einzelnen Stimmen aus dem Gewirr herauszufiltern, die dann abwechselnd für eine Weile den Part der Solostimme übernahmen. Zio Fredo hatte ihm einmal die Geschichte der Sirenen, die den Abenteurer Odysseus in ihren Bann ziehen wollten, vorgelesen. Vielleicht waren unter den vielen Stimmen, die vom Meer kamen, auch jene der Sirenen? Auf jeden Fall konnte sich Walter am Meer leichter aus seinem Kopf herausziehen. Und in seinem Staunen und Horchen versunken stand er natürlich im Weg, weil er im Zeitlupentempo herumspazierte oder sich nicht von der Stelle rührte, sogar um die Mittagszeit, wenn die Leute mit nackten Füßen über den glutheißen Boden hüpfen mussten. Einmal trampelte er aus Versehen auf eine Sandburg. Ein kräftiger blonder Lockenkopf erhob sich und rammte ihm die Faust ins Gesicht. Walter fiel benommen um. Er stand auf und schaute, vor Schmerz und Hitze hechelnd, seinen Angreifer an. Der andere, immer noch in Kampfposition, äffte ihn nach.
Dann erklang Zia Filinas Solostimme:
»Walter, was ist? Komm sofort hierher!«
Walter hielt sich die schmerzende Backe und rannte zu seiner Tante, die den ganzen Tag in ihrem geblümten Flanellkleid unter dem Sonnenschirm saß.
»Was hast du dort gemacht? Du musst jetzt tief einatmen, riechst du das Salz? Das tut dir gut. Aber was hast du, du blutest ja.«
Tante Filina griff nach einer Ecke ihres Kleides, benetzte es mit etwas Speichel und wischte das Blut von Walters Nase.
Gegen Nachmittag band Filina sich ihr Kopftuch um. Sie hielt die rechte Hand wie einen Schirm über die Augen, um nach Teresa und Walter Ausschau zu halten. Ab und zu senkte sie die Hand und schaute dem Meer herausfordernd ins Gesicht.
»Komm, iss, die Merenda ist fertig.«
Ins Wasser durfte Walter nicht, nicht einmal in Begleitung von Teresa. Das Eintauchen im Teich konnte Zia Filina noch ertragen, das Meer aber war ihr zu mächtig, uferlos, sie sagte, dort würde ihr Nerì verloren gehen.
Zurück vom Meer, erzählte Walter Zio Fredo, er habe die Stimmen der Sirenen gehört. Teresa ließ die Fotos in San Giorgio entwickeln. Als sich herumsprach, Fredo habe die Bilder vom Meer in die Osteria gebracht und La Fran habe sie an die Wand gehängt, kam der Merlo sofort vorbei. Er betrachtete sie mit misstrauischem Blick, während seine Nase röter und röter wurde, bis er verkündete, dass diese Fotos nicht echt sein konnten, gemalt vielleicht, aber nicht mit einem Fotoapparat gemacht. La Fran ließ sie noch eine Weile hängen, bis sie niemand mehr beachtete.
Nach dem Aufenthalt am Meer, oder war es eher der heiligen Eterna zu verdanken, ging Walters Asthma tatsächlich zurück. Er konnte jetzt wie die anderen Kinder herumrennen, ohne dass er sich nach kurzer Zeit mit blauen Lippen und nach Luft schnappend hinlegen musste.