Am nächsten Morgen will Gualdo Walter etwas zeigen. Er fährt mit ihm zu einer Lagerhalle unweit von Pietrabianca. Etliche Oldtimer stehen glänzend poliert in einer Reihe. Gualdo sagt, er zeige seine Sammlung sonst niemandem. Er bleibt vor jedem Auto stehen: »Das ist ein Bugatti, das ein Alfa Romeo Giulietta, dort ein Citroën aus dem Jahre 1950, ein weißer Bentley, auch aus den Fünfzigern.«
Er erklärt, wo er es gekauft hat, wie viel es gekostet hat.
»Mit Sibilla ist es nicht einfach, was denkst du«, sagt er dazwischen. Sie könne plötzlich wie aus dem Nichts drauflosweinen und die Gäste fortjagen, das sei ein paarmal vorgekommen. Das sei nicht gut fürs Geschäft. Das könne ein paar Tage dauern. Er komme dann hierher und setze sich in einen seiner Oldtimer, das beruhige ihn.
Sie nehmen in einer roten Isetta Platz. Walter muss sich bücken. Es ist eng. Gualdo legt stolz beide Hände auf das Steuerrad.
»Mein Onkel Fredo hatte eine Lambretta«, sagt Walter. »Ich kann mich an die Farbe erinnern, Weiß wie Weißdorn, erklärte mir mein Onkel, und auch an die Windschutzscheibe, an der Insekten klebten. Die Klappe, die den Motor verdeckte, war rot. Ich durfte mich auf den Hintersitz setzen. Es war wie Fliegen. Die Lambretta würde gut in deine Sammlung passen.«
Am Abend spazieren Walter und Sibilla im Garten. Sibilla raucht eine Zigarette nach der anderen. Sie weint und lacht gleichzeitig. Sie sei einmal von Pietrabianca weggegangen. Gualdo habe nicht nach ihr gesucht. Sie sei zurückgekommen.
Nach einer langen Pause sagt sie: »Mein Vater hat so lange auf dich gewartet. Es war schrecklich.«
Er habe lange über Schmerzen im Bauch geklagt, aber Walter kenne Beppo, er habe keinen Arzt gewollt. Er sei mitten in der Bar vor der Jukebox umgefallen und konnte nicht wieder aufstehen. Danach sei er nicht mehr aus dem Bett herausgekommen. Er habe die ganze Zeit gefleht: »Nehmt mir diesen Schmerz, nehmt mir diesen Schmerz …«
La Fran habe es nicht wahrhaben wollen. Sie habe einfach weitergemacht, die ganze Zeit gekocht und neben dem todkranken Vater den Tisch gedeckt. Sie habe sich darauf versteift, ihm das Essen hinzustellen. Sie, Sibilla, habe gesagt, das müsse aufhören, er würde sich ja nur übergeben.
»Er fragte immer wieder, wann kommt Walter?«
Sie hätten keine Antwort gewusst.
»Vielleicht kommt er nicht«, habe sie ihm gesagt, »aber du kannst mit Don Pietro reden oder mit uns!«
Aber Beppo habe energisch den Kopf geschüttelt.
»Er hat entsetzlich geschrien, weil er solche Schmerzen hatte, aber auch vor Wut, er hat so lange gewartet, wie er nur konnte.«
Je lauter er schrie, desto mehr drehte La Fran die Jukebox auf. Dann sei er plötzlich ruhig geworden. Sein Gesicht habe sich graubleich verfärbt, kalter Schweiß sei ihm über die Stirn gelaufen, und irgendwann sei der Kopf auf die Seite gekippt.
La Fran habe ihren Vater hochgehoben. Sein Gesicht war schmerzverzerrt. Er atmete noch. Dann plötzlich ein krampfartiges Zucken, und er habe sich nicht mehr bewegt. Erst dann habe La Fran den Arzt gerufen.
Der Arzt kam nach mehr als einer Stunde aus San Giorgio, ein sportlicher Typ, mit einem dichten Schnauz, der die Oberlippe verdeckte, und einer schwarzen Lederjacke. Er sagte nichts. Er nahm Beppos rechte Hand, um festzustellen, ob noch Puls da war. Er legte langsam die rechte Hand auf Beppos Brust und vereinte sie mit der linken. La Fran brach in Tränen aus. Der Arzt umarmte sie, eine unerwartete Geste, die La Fran erstaunlicherweise duldete. Kurz darauf kamen Fredo, Luana und auch Sciugar. Luana öffnete den Schrank und suchte irgendein Hemd, ein paar Hosen und Socken aus.
»Meine Schwester und ich standen einfach da, sie weinte, ich war auf dich wütend, unser Vater hatte, ohne sich auszusprechen, gehen müssen.«
Dann kamen auch andere. Sie weinten und umarmten einander. Beppos starrer Körper lag auf dem Bett. Die Stirn war noch warm. Alle berührten sie. Luana kochte eine Suppe. Sie füllte die Teller und sagte, die Suppe sei ihr etwas zu salzig geraten. »Wir aßen alle zusammen, stehend. Dann vereinbarten wir Schichten für die Totenwache. La Fran rührte sich nicht von der Stelle. Ab und zu klopfte jemand an der Tür. Es war gespenstig.« Sciugar übernahm von Mitternacht bis vier Uhr morgens. Er habe gegähnt und gesagt, vielleicht würde Beppo plötzlich aufwachen, solche Wunder habe es auch schon gegeben.
Plötzlich stand auch der Merlo da. Er fragte, ob allenfalls ein Foto des Toten gewünscht sei. La Fran jagte ihn fort.
Am nächsten Morgen kamen zwei Männer aus San Giorgio mit dem Sarg. Sie trugen weiße Handschuhe und waren sehr diskret. Sie drehten sich zur Seite, bis La Fran sich ausgeweint hatte. Sciugar hatte ein falsches Maß angegeben. Der Sarg war zu kurz. Die beiden Männer zogen dem toten Beppo die Schuhe aus und legten sie neben den Körper. Sciugar ging nach draußen, riss einen Rosmarinzweig vom Strauch ab und legte ihn in den Sarg. Dann deckten sie den Sarg zu und brachten Beppo fort.
»Ab diesem Moment haben La Fran und ich eine blinde Wut gespürt.«
Sie habe mit dem Trinken angefangen, sagt die Sibilla, sie habe vorher immer alles in der Bar gehabt und nie einen Tropfen zu sich genommen. Aber dann, ein Bier, einen Martini, zwei Whisky, jeden Abend ein Glas mehr.
»Weil ich nicht wegkam.«
Sie öffnet ein neues Zigarettenpäckchen.
»Und weil ich noch die Präsenz meines Vaters in der Bar spürte. Es war kein Hirngespinst. Er hatte sich nicht ausgesprochen.«
Sie zieht nervös an der Zigarette.
»Wieso gehst du zurück?«, fragt sie. »Sicher nicht nur wegen der Hochzeit.«
Walter schweigt lange, und dann sagt er:
»Wenn ich ihnen zugehört habe, hatte ich immer ein besonderes Gefühl, ein Gefühl von Ewigkeit, verstehst du? Aber als ich weggegangen bin, sind mir nur ihre starren Augen geblieben.«
»Es haben so viele auf dich gewartet«, flüstert die Sibilla, »vielleicht gibt es immer noch welche, die warten, ich weiß es nicht. Deine Tante Filina hatte sich ganz zurückgezogen. Ich glaube, sie ist gar nicht mehr aus dem Haus gegangen. Ich habe sie jedenfalls nicht mehr gesehen.«
»Ob ich es noch kann?«, sagt Walter nachdenklich.
»Gualdo hat jedenfalls schon lange nicht mehr so viel geredet«, sagt die Sibilla.
Sie drückt ihre Zigarette aus. Walter sagt, er sei sehr müde, er gehe jetzt schlafen, er wolle morgen früh abreisen.
»Ich werde morgen ausschlafen«, sagt die Sibilla, »weck mich nicht, wenn du gehst.«