16.

Das Pfarrhaus ist unbewohnt, seit vielen Jahren schon. Manus Klavier steht noch in der Küche. Fredo führt Walter in Don Pietros Arbeitszimmer. Auf dem Tisch stapeln sich Fotografien von damals. An den Wänden Gestelle mit staubigen Büchern. Fredo öffnet einen Schrank und holt ein Heft hervor.

»Hier sind alle eingetragen«, sagt er, »bis zu dir.«

Walter öffnet das Heft:

 

Dorio, 17981818

Bartolomeo Ruscani, 18191835

[unleserlicher Name], 18351851

Vanni, 18511886

Ermanno Castelli, 18871917

Glauco del Casone, 19181939

Giangi, 19401945

Olmo, 19461973

Walter, 1973

 

»Ich wusste nicht …«, sagt Walter.

Zio Fredo nimmt ihm das Heft aus den Händen und legt es offen auf den Tisch.

»Deinen Name hat Erminia eingetragen, man erkennt ihre Handschrift«, sagt Zio Fredo.

Walter sieht seinen Onkel zum ersten Mal wieder lachen. Elvira lacht nie, im Altersheim lachen sie nie, in der Fabrik wird nicht gelacht, die Männer am Stammtisch tun es auch nicht, nur wenn sie zu viel getrunken haben, dann lachen sie, aber es ist eher ein hyänenhaftes Kichern. Sciugar lachte, dass ihm die Schere aus der Hand fiel. Als Sibilla lachte, sah man ihre weißen Zähne. La Fran hatte dieses stille Lachen, das man ihr von den Lippen ablesen musste, das dann aber in einem widerhallte. Sogar Zia Filina, die immer so grimmig dreinschaute, musste sich vor Lachen auf einen Stuhl setzen, als Luana einmal über die Katze stolperte und hinfiel. Die Kinder konnten herzhaft lachen, wenn sie ihre Streiche spielten, Luana hatte einmal laut lachen müssen, als Fredo mit der Vespa in einer Pfütze gelandet war, und Merlo lachte wie ein Affe, um das Lachen der anderen auf seine Bilder zu kriegen. Und als Manu einmal mit der Nasenspitze auf den Tasten eine Melodie gespielt hatte, haben sie sich alle vor Lachen umarmt.

Walter denkt auch an Erminia, die ihn einmal hierherbestellt hat. Sie hatte nach Don Pietros Tod im Pfarrhaus bleiben können. Es war kein neuer Pfarrer nach Gruma gekommen, aber Erminia sagte, es brauche trotzdem eine Haushälterin. Sie sorgte weiterhin für peinliche Sauberkeit im Haus und in der Kirche. Als Walter zur Tür hereinkam, sank sie seufzend auf einen Klappstuhl. Sie fächerte sich mit einem Taschentuch Luft zu. Das Alter hatte aus ihr eine koboldhafte Erscheinung mit schütterem Haar gemacht. Ihre Augen waren aber noch warm. Walter bemerkte sofort ein ungewohntes Lächeln in ihrem Gesicht. Sie wollte ihm etwas sagen, aber das Lächeln lähmte ihre Lippen, und je mehr sie es versuchte, desto breiter wurde das Lächeln, bis es zu einem Lachen anschwoll. Sie fing einen Satz an, konnte ihn aber nicht zu Ende führen. Irgendwann schloss sie die Augen, hielt die Luft an, krallte die rechte Hand an ihren Oberschenkel und sagte:

»Ich will dir etwas erzählen, Nerì, solange ich es kann. Don Pietro fehlt mir. Er war ein schöner Mann, das sage ich jetzt dir. Er hätte nicht Pfarrer werden sollen. Einmal, als wir beide allein in der Kirche waren, hat mich ein Wahn gepackt. Ich konnte nichts machen. Meine Beine sind losgerannt, meine Arme haben sich ausgebreitet. Ich bin Don Pietro um den Hals gesprungen und habe ihn geküsst. Auf den Mund. Du hättest sein Gesicht …«

Länger konnte Erminia das Lachen nicht aufhalten. Es platzte regelrecht aus ihr heraus. Sie stand vom Stuhl auf und warf sich aufs Bett. Sie krümmte sich, lachte und lachte, ihr kamen die Tränen, ein Geflecht heraustretender Adern ließ ihren Hals anschwellen, sie wand sich vor Lachen, das knarzende Bettgestell lachte mit, und sie sagte immer wieder:

»Du hättest sein Gesicht …«

Allmählich wurde ihr Lachen zu einem kratzenden Husten. Hustenanfälle und Lachen wechselten sich ab. Sie schien zu ersticken, fasste sich mit beiden Händen an den Hals und atmete wieder.

»Du hättest sein Gesicht …«

Auf der Bettdecke breitete sich ein gelber Fleck aus. Sie hatte sich vor Lachen in die Hosen gemacht.

Als sie sich ausgelacht hatte, lag sie schlaff in ihrem Bett. Mit einem erschöpften Atemzug sagte sie:

»Geh nur, Nerì, bei mir ist es noch nicht so weit, aber ich musste es loswerden.«

Es war Walters letzte Geschichtenabnahme gewesen, wie bei Giannino eine unvollendete.