7.

Die Stimmen in Walters Kopf wurden von Mal zu Mal aufsässiger. Nach der Geschichtenabnahme blieb er ein bis zwei Tage stumm und abwesend, als versuchte er, alles wieder zu vergessen, was ihm im Sterbezimmer anvertraut worden war. Aber er vergaß nicht, er verdaute. Er hatte die ganze Zeit ausgeharrt, um Wort für Wort die Rätsel zu ergründen, die in der Erinnerung des Sterbenden wohnten, und jetzt war sein Kopf zum Bersten voll. Ihn auszuhorchen, so etwas fiel niemandem ein. Jeder wusste, dass diese Mühe umsonst gewesen wäre. Also ließ man ihn in Ruhe.

Don Pietro, damals schon über sechzig, kam sich bei der ganzen Sache mit der Geschichtenabnahme elend unnütz vor. Er wartete meist draußen vor dem Sterbezimmer, gab vor, in seiner Bibel zu lesen, richtete aber vergebens die Ohren auf die verschlossene Tür. Er durfte erst hinein, nachdem Walter seine Pflicht erfüllt und der Sterbende die Augen bereits geschlossen hatte. Wenn der Priester Walter auf der Türschwelle kreuzte, fragte er:

»Ist er tot?«

»Er ist verloschen«, antwortete Walter.

Don Pietro trat nach kurzer Zeit gesenkten Hauptes wieder heraus. »Was soll ich noch?«, murmelte er und ging nach Hause.

Dort erwartete ihn Erminia. Sie war keine Geistliche, wohnte aber bei den Nonnen, die für den Kindergarten zuständig waren. Der Kindergarten lag zwei Schritte vom Pfarrhaus entfernt, sodass Erminia im Nu für Don Pietro da sein konnte. Sie sorgte dafür, dass in der Kirche alles blitzblank aussah. Sie verbrachte viele Stunden damit, den Staub von Kerzen, Statuen und Bänken abzuwischen, und hatte immer das leidende Gesicht des am Kreuz sterbenden Jesus vor Augen. Für sie gab es nie etwas zu lachen, schon gar nicht, wenn sie sich nach der Abendmesse in ihr Zimmer bei den Nonnen zurückzog und allein war. Erminia hatte eine schwierige Kindheit gehabt, sie stammte aus einer kinderreichen und bitterarmen Familie und hatte nie geheiratet. Sie folgte Don Pietro auf Fuß und Tritt und teilte alle seine Ansichten, auch die Skepsis gegenüber der Geschichtenabnahme. Deshalb, wenn niemand es sah, zog sie Walter an den Haaren und zischte ihm zu, er solle mit dieser Sache aufhören.

 

Walter hörte nichts. Nach dem Geschichtenabnehmen war er auf sich allein gestellt. Es plagten ihn Albträume und ein hartnäckiges Dröhnen an den Schläfen. Wenn er es nicht mehr aushielt, flüchtete er sich zum großen Teich. Er zog sich aus, legte sich im Wasser auf den Rücken, hielt die Ohren unter Wasser und ließ sich tragen. Er schloss die Augen, wartete geduldig und lauschte in die Tiefe hinein, bis die Stimmen allmählich dem dumpfen Wasserton wichen. Nun atmete er geräuschvoll ein und aus, sein Brustkorb hob und senkte sich, sein Puls hämmerte gegen die Ohren. Er öffnete die Augen und blickte zum Himmel. Im Sommer, bei schönem Wetter, stand die Luft still, und die Sonne blendete ihn. Im Herbst schob der Wind die Wolken hin und her.

Elvira stieg irgendwann zum Teich hoch und setze sich ans Ufer, leise »Walter, Walter …« rufend, um ihn nicht zu erschrecken.

Die wenigsten in Gruma konnten schwimmen. Wasser war nicht ihr Element. Deshalb auch die Angst, der Teich könnte Walter nicht zurückgeben. Elvira konnte nichts anderes tun als warten und hoffen. Natürlich erschien nach kurzer Zeit auch Zia Filina. Auch sie konnte nicht schwimmen, schaffte es aber nicht, still sitzen zu bleiben und zu warten. Sie rief: »Nerì, Nerì, komm da raus!« Sie warf Steine ins Wasser, zog den Rock hoch und wagte sich ein paar Schritte hinein. Ihre Schwester Elvira verdrehte die Augen. Filina musste aufgeben, sonst wäre sie auf dem glitschigen Untergrund ausgerutscht und womöglich noch ertrunken. Es kamen auch andere Dorfbewohner, um Walter beim Wasserliegen zuzusehen. Es sprach sich nämlich schnell herum: »Walter fa il morto.« Der, der den Sterbenden zuhörte, machte den Toten. Es war ein stiller Moment, bei dem das geschwätzige Gruma gern dabei war.

Am Teichrand hin- und herschreitend, verlor Zia Filina nach einer Weile die Geduld. Sie rief lauter nach ihrem Neffen, aber er nahm sie nicht wahr, so wie er die Schaulustigen nicht wahrnahm. Er hatte die Arme ausgebreitet und ließ sich von der Laune des Teichs auf dem Wasserspiegel um die eigene Achse treiben. Manchmal hob er den Kopf, um den Windhauch in seinen Haaren zu spüren und das Rascheln der Blätter zu hören. Zia Filina winkte ihm zu. Er sah sie nicht. Seine Atmung wurde flacher, seine Gesichtszüge entspannter. Zia Filina dachte, das sei ihrem Rufen zu verdanken, sie konnte nicht wissen, dass das Wasser die Stimmen in Walters Kopf leiser machte.

Dann kam der Moment, in dem alle verstummten. Walter ließ sich langsam bis zum Grund sinken. Unten angekommen, spürte er den glitschigen Boden an seiner Haut. Er hielt den Atem an, so lange er konnte, bis das schlammgrüne Wasser ihn in einen Halbschlaf versetzte. Da wurden die Stimmen in seinem Kopf zu einem Gesang.

Zia Filina sollte ihm jedes Mal von Neuem erzählen, wie alle um den Teich herum gespannt warteten, bis er wieder auftauchte. Das konnte eine Minute, sogar zwei dauern, hatte Filina gezählt. Sie beschrieb ihm, wie Elvira die Augen schloss, wie sie, Filina, ihre Finger ins feuchte Gras krallte und die anderen erwartungsvoll aufs Wasser starrten und warteten, bis Walter eine Bewegung andeutete. Niemand von ihnen konnte wissen, dass er dort unten mit den Stimmen eins geworden war. Er ließ sich bis zum Teichrand treiben. In dem Moment, als er die Augen öffnete und von unten zur Wasseroberfläche hochschaute, erschraken die Schaulustigen und traten zurück.

Walter tauchte wieder auf. Es war aber noch nicht genug. Er blieb weiter liegen, bis das kühle Wasser seine Ohren betäubte, bis er zum Seegrund hineinhorchend ein dunkles Summen in seinem Kopf spürte. Alles um ihn herum wurde unscharf. Es war ihm, als schwebte er über dem Teich. Er empfand eine seltsame Mischung aus Trauer und Verlorenheit. Es fühlte sich aber nicht an wie Sterben, er wusste ja, wie das Sterben war, es kam ihm eher wie Träumen vor. Er war aus der Zeit gefallen, die Stimmen in seinem Kopf hatten aufgehört zu singen. Der Teich hatte sie gezähmt.

Aus dem Augenwinkel erblickte er seine Mutter und seine Tante. Mit langsamen Bewegungen ging er ans Ufer. Er stieg aus dem Wasser. Er hatte ganz blaue Lippen. Sein bleiches Gesicht strahlte. Die Tante nahm ihn in Empfang, indem sie ihn in eine Decke wickelte, seine Mutter rieb ihm die Haare trocken. Dann gingen sie nach Hause, zogen ihn aus und begossen ihn mit heißem Wasser, um die Kälte vom Körper abzuwaschen.