Tag 7

Sonntag, 25. August

»Ja«, stimmte Müller zu, als er am nächsten Vormittag die Videos anschaute, »die Marmorplatte kommt mir auch bekannt vor. Der Kratzer ist mir zwar nicht aufgefallen, aber da du ihn gesehen hast, wissen wir, dass es sich um den Tisch in Scharffners Haus handelt. Und das Tattoo passt auch. Das müsste jetzt doch Grund genug für eine Hausdurchsuchung sein. Ich rufe Dr. Kerner an, der soll das mit dem Richter klären.«

Doch der Richter spielte nicht mit.

»Die Verdachtsmomente, dass dieses Video im Haus der Richterin gedreht wurde, beruhen darauf, dass Sie glauben, die Ecke eines Tisches zu erkennen. Das ist sehr dürftig«, lautete sein Kommentar. »Ich kenne Frau Scharffner gut, sie ist über jeden Verdacht erhaben. Wenn Sie mit solch einer schweren Unterstellung kommen, sollten Sie schon mehr in der Hand haben. Und was das Tattoo betrifft, besser gesagt, der kleine Teil eines Tattoos, mit dem sie Oliver Scharffner identifizieren wollen, nachdem Sie ein einziges Mal einen Blick auf seinen nackten Bauch geworfen haben, so scheint mir das Ganze etwas weit hergeholt. Für einen Durchsuchungsbeschluss brauche ich mehr Futter. Außerdem, das wissen Sie ebenso gut wie ich, ist es kein Verbrechen, Sexfilmchen ins Internet zu stellen, und das scheint mir bisher der einzige Verdacht, den Sie haben. Daher vergessen Sie das mit dem Beschluss. Sie können ja noch mal mit dem jungen Mann sprechen, er war doch kooperativ, wie Sie selbst feststellten. Befragen Sie ihn nochmals zu dem Todesfall. Das ist alles, was ich Ihnen hier raten kann.«

Danke, dachte ich verärgert, darauf wären wir sogar selbst gekommen.

Auch mit Yvonne Bechtheims Telefonnummer kamen wir nicht weiter, niemand nahm ab. Daher beschlossen wir, die Hamburger Kollegen um Amtshilfe zu ersuchen. Sie versprachen uns, noch am selben Tag zum Wohnsitz der Frau zu gehen und zu überprüfen, ob sie sich dort aufhielt. Vielleicht hatte ich dann die Chance, sie zu sprechen. Dazu würde ich auch nach Hamburg fahren.

Doch im Moment konnten wir nicht viel tun. Wir diskutierten den Fall nochmals in allen Einzelheiten. Es war wie verhext. Auf unsere Aufrufe hatte sich bisher kein einziger Zeuge gemeldet. Keiner hatte einen dunkelgrauen Opel Corsa in Kampen oder List bemerkt, keiner hatte einen unserer Verdächtigen auf einem der Parkplätze gesehen.

Es war zum Verrücktwerden. Wir hatten immer noch nicht das Fitzelchen eines Beweises in der Hand.

Richie von Freudenberg würde für Montag eine Vorladung für eine Befragung als Zeuge erhalten, der er Folge leisten musste. Sollte sein Vater ihm keine anwaltliche Unterstützung gewähren, kamen wir vielleicht an ihn ran. Das war im Moment Müllers größte Hoffnung.

Wir könnten auch nochmals mit Oliver Scharffner sprechen, doch davon erhofften wir uns nicht viel, solange wir nicht die Aussage der Frauen hatten. Daher warteten wir lieber ab, ob die Hamburger Kollegen Yvonne Bechtheim ausfindig machen würden.

Es gab natürlich auch den verschmähten Ex-Freund der Toten, Olaf Paulsen. Seine Mutter hatte zwar behauptet, er wäre am Sonntagvormittag zu Hause gewesen, doch mittlerweile wussten wir, dass sie das gar nicht wissen konnte, da sie ihn erst zum Mittagessen gesehen hatte. Vorher hatte sie die Messe in der evangelischen Kirche besucht, war also gar nicht daheim gewesen.

Olaf hatte Sandra gestalkt, nachdem sie aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen war. Mit großer Wahrscheinlichkeit wusste er daher, dass sie in den Häusern ihrer Kunden schlief, und er könnte sie dort überrascht haben. Vielleicht hatten sie gestritten, und er war in Wut geraten. Wir mussten ihn uns dringend vornehmen, und zwar nicht zu Hause, sondern hier im Präsidium.

Daher rief Müller ihn an und bat ihn äußerst freundlich, doch heute Nachmittag im Präsidium vorbeizukommen, da er noch ein paar Fragen habe. Und tatsächlich, Paulsen sagte zu. Die Befragung wollte Müller übernehmen, so dass ich gegen Mittag zu meiner Großmutter fahren konnte.

Oma strahlte übers ganze Gesicht, als ich sie abholte. Sie hatte sich ausgehfein gemacht, mit weißer Bluse, Perlenkette, passenden Ohrringen und sorgfältig frisierten Haaren. Zur Feier des Tages hatte sie sogar einen rosa Lippenstift aufgelegt.

»Du siehst ja super aus«, lobte ich sie, »wie hast du das so toll hingekriegt?« Mit ihren schlechten Augen und zittrigen Fingern war es ihr unmöglich, eine Kette zu verschließen.

»Radu hat mir geholfen, du weißt schon, der neue Pfleger. Der macht das richtig gut. Was Männer heutzutage alles können«, stellte sie kopfschüttelnd fest, »früher gab es so was nicht. Dein Opa, den konnte man für überhaupt nichts gebrauchen. Also, wo gehen wir hin? Ich möchte gerne Fisch essen.«

»Nach Munkmarsch?«, fragte ich.

Sie nickte. »Da war Opa immer, bei seinem Boot. Ach, wie oft haben wir dort gesessen.« Sie schwelgte in Erinnerungen.

Bei dem herrlichen Wetter war die Terrasse des Seglerlokals komplett besetzt, nur ein Tisch, für Vereinsmitglieder reserviert, war noch frei.

»Setzt euch ruhig da hin«, sagte die Wirtin, die Oma gut kannte, »schön, dass du mal wieder da bist, Enna, gut siehst du aus.«

Wir bestellten Fisch und Wasser, und Oma orderte außerdem einen Wein.

»Weißt du, so etwas krieg ich in dem Heim nicht«, meinte sie zufrieden, als die Wirtin ein Glas einschenkte.

Das sollte sie eigentlich nicht trinken, mit ihren Nieren, ihren Tabletten, die sie immer einnehmen musste, aber sollte ich einer 86-Jährigen dieses Vergnügen vermiesen? Garantiert nicht.

Unser Pannfisch kam bald, und wir machten uns mit Appetit darüber her.

»Das war mal lecker«, schwärmte Oma, als sie ihr Besteck auf den Teller legte, »also ein Gläschen trinke ich noch.« Ihre Augen strahlten.

Wir orderten einen weiteren Wein und für mich einen Kaffee.

»Ich möchte mal was mit dir besprechen«, sagte ich dann zu ihr.

Denn die Geschichte mit dem Mann meiner Schwester lag mir auf dem Magen. Ich musste mit jemandem drüber reden, und meine Oma war die vernünftigste Frau, die ich kannte.

»Was hast du denn auf dem Herzen, Kind?«, fragte sie.

Ich erzählte von unserer Zufallsbegegnung mit Andy im nächtlichen Restaurant.

»Ach du je«, sagte sie, »und die Sinja war dabei? O mein Gott, da könnte man ja gleich die Zeitung anrufen.«

»Nein, nein«, entgegnete ich, »ich habe gestern mit ihr gesprochen. Sie wird es keinem weitererzählen.«

»Und das glaubst du? Die kann nichts für sich behalten, genau wie ihre Mutter.«

Ich wunderte mich, dass Oma sich gar nicht so sehr über Andy aufregte.

Sie meinte nur: »Klar ist er ein Hallodri, das habe ich sofort gesehen. Doch deiner Schwester konnte man noch nie was sagen, die musste schon immer mit dem Kopf durch die Wand. Und jetzt ist sie mit ihm verheiratet. Bis jetzt ist ja alles gut gegangen. Dein Vater hält übrigens viel von ihm. Er arbeitet gut und setzt sich für das Restaurant ein, das muss man ihm lassen.«

»Aber ich würde doch wissen wollen, was mein Mann so treibt«, wandte ich ein.

»Klar, theoretisch will das jeder. Es hängt jedoch immer von der Situation ab. Stefanie kriegt in ein paar Wochen ihr zweites Kind und muss sich erst einmal darauf konzentrieren. Wir behalten den Andy im Auge. Ich werde auch mit deiner Mutter sprechen.«

Ich erschrak. »Du sagst ihr das doch nicht!«

»Nein, natürlich nicht. Ich sage ihr nur, dass man den Andy ein bisschen beobachten muss. Er hat deine Schwester geheiratet und ihr Kinder gemacht, jetzt soll er sich gefälligst zusammenreißen!«

Wir quatschten noch eine Zeit lang, doch dann gähnte sie immer öfter, und ich brachte sie zurück zum Heim.

»So ein schöner Tag«, bemerkte sie immer wieder, als ich den Rollstuhl in ihr Zimmer schob. »So schön.«

»Das müssen wir öfter wiederholen.« Ich gab ihr zum Abschied einen Kuss. »Bis bald, Oma.«

Anschließend konnte ich es doch nicht lassen und begab mich auf den Weg ins Störtebeker.

Es war mittlerweile siebzehn Uhr, da begannen in der Küche des Restaurants immer die Vorbereitungen für den Abend. Ich wusste, dass Andy, wie früher mein Vater, jeden Tag Punkt fünf im Restaurant eintraf, um alles zu überwachen und letzte Hand für die Abendschicht anzulegen. Also würde ich ihn jetzt erwischen.

Ich hatte recht. Als ich meinen Audi auf dem Parkplatz abstellte, ging Andy gerade zum Eingang.

»Hi!«, rief ich ihm zu.

Er fuhr zusammen und drehte sich zu mir um. »Hallo, Neele, was ist?«, fragte er angespannt.

»Kann ich dich kurz sprechen?«

Er zuckte mit den Schultern. »Klar.«

Begeistert klang das nicht gerade, was mich allerdings auch nicht wunderte. Wir stellten uns in eine schattige Ecke vor dem Haus, und er schaute mich trotzig an.

»Sag schon, was du zu sagen hast.«

»Du kannst dir ja denken, dass ich ziemlich schockiert war, als ich dich in der Küche bei deiner nächtlichen Entspannungsübung gesehen habe«, kam ich gleich zur Sache.

Er presste die Lippen zusammen und sagte erst mal gar nichts. Ich wartete ebenfalls ab.

Dann meinte er: »Nun spuck schon aus, was du mir sagen willst.«

»Du weißt es selbst«, erwiderte ich. »Deine Frau erwartet gerade dein zweites Kind und braucht einen Mann, auf den sie sich verlassen kann.«

»Steffi kann sich auf mich verlassen. Mein Gott, ich habe Scheiße gebaut, aber das ist zum ersten Mal passiert, es hat nichts zu bedeuten«, presste er hervor.

Für wie blöd hielt der mich eigentlich? »Das soll ich dir glauben?«

Jetzt wirkte er regelrecht verzweifelt und fragte ängstlich: »Willst du es ihr etwa sagen?«

»Kommt drauf an.«

»Auf was kommt es an?«

Ich antwortete nicht, sondern fuhr fort: »Die Frau war doch sicher eine von den Bedienungen, ich habe sie ja nicht richtig gesehen. Mittlerweile kenne ich auch gar nicht mehr alle Aushilfen hier.«

»Es war Ramona. Glaub mir, es war wirklich eine einmalige Sache, ich weiß nicht, warum ich das gemacht habe, es war einfach nur blöd.«

In dem Moment fiel es mir wieder wie Schuppen von den Augen.

Die nächtlichen Streitereien meiner Eltern, während Stefanie und ich auf der Treppe hockten und ängstlich horchten, wie meine Mutter über die Weiber meines Vaters schimpfte; die Kellnerinnen, die Knall auf Fall das Restaurant verließen; die flüchtigen Berührungen und Blicke zwischen einigen der weiblichen Angestellten und meinem Vater. Das alles hatte ich in den letzten Jahren fest im hintersten Winkel meines Gehirns verschlossen.

Und Stefanie, die unseren Vater immer anhimmelte – sein Lieblingsmädchen Stefanie –, war mit ihrem Andy nun auf dem besten Weg in eine exakte Wiederholung unserer Familienverhältnisse. Na bravo.

»Es hatte wirklich nichts zu bedeuten«, beteuerte er nochmals, »und für Stefanie wäre das furchtbar, jetzt in ihrem Zustand. Das kannst du ihr nicht antun.«

Jetzt schob er mir die Schuld in die Schuhe. Wütend zischte ich: »Wie bitte? Ich tue ihr was an? Wer hat denn mal schnell eine Bedienung gevögelt?«

»Du brauchst nicht gleich ordinär zu werden. Ich habe dir gesagt, dass es ein Fehler war, es tut mir leid«, erwiderte er trotzig. »Irgendwie habe ich viel zu lange gearbeitet, ich war total entnervt und aufgedreht. Ich weiß auch nicht, warum das passiert ist.«

Plötzlich schwante mir Böses: »Nimmst du wieder was?«

Wie viele andere im stressigen Restaurantbusiness hatte Andy früher Aufputschmittel genommen und auch gekokst.

Er schüttelte den Kopf, blickte mich allerdings nicht dabei an.

»Du nimmst wieder was«, sagte ich etwas schärfer. »Koks?«

»Verdammt, wenn du wüsstest, was hier seit Wochen los ist. Unser Sous-Chef hat gekündigt, daher muss ich das auch noch übernehmen. So schnell finden wir keinen neuen, das weißt du selbst.«

Das war fast so etwas wie ein Eingeständnis.

»Du hast also wieder angefangen zu koksen«, seufzte ich, »seit wann?«

»Ach, nur ein paarmal. Was meinst du, wie stressig es hier war, seit Kuno abgehauen ist?«

»Warum ist er weg, mitten in der Saison? Ihr wart doch befreundet.«

»Klar sind wir befreundet. Aber er hatte ein Superangebot in Hamburg. Seine neue Freundin arbeitet bei diesem neuen Restaurant, im Tavolo, und als dort der Küchenchef gegangen ist, hat er sich beworben. Tja, das war’s dann. Für ihn war das eine Riesenchance, da musste er zugreifen.«

»Und was ist mit Papa?«, fragte ich. »Dem geht es doch jetzt gut, kann der nicht helfen?«

»Du weißt doch, dass er den ganzen Tag auf dem Golfplatz ist. Karl schaut zwar jeden Morgen und jeden Abend kurz rein, aber er macht eigentlich nichts mehr.«

Dabei war mein Vater sein Leben lang ein Workaholic in Reinkultur gewesen, zumindest bis zu dem Herzinfarkt, der ihn fast das Leben gekostet hätte. Danach hatte man ihm Stents eingesetzt und dringend geraten, bei der Arbeit kürzerzutreten, Sport zu treiben und abzunehmen, die üblichen Ratschläge, die jeder am Anfang akribisch befolgt, bis sich nach ein paar Wochen der alte Schlendrian breitmacht.

Mein Vater jedoch betrieb die Umsetzung der neuen Lebensweise äußerst konsequent. Er übergab die Verantwortung für die Küche des Restaurants seinem Schwiegersohn, nahm vierzig Kilo ab und fing an, Sport zu treiben. Mit dem gleichen Ehrgeiz, mit dem er vorher gekocht hatte, spielte er nun Golf, und statt von Jus und Confit sprach er unentwegt von Birdies und Handicaps.

Manchmal fragte ich mich, ob man auch vom Sport an der frischen Luft einen Herzinfarkt bekommen konnte. Wundern würde es mich jedenfalls nicht, wenn ich meinen Vater so betrachtete.

»Was sagt eigentlich Stefanie dazu, dass du so viel arbeiten musst?«, fragte ich weiter, »vielleicht kann sie ja mal mit Papa sprechen.«

»Vergiss es, Stefanie hat selbst genug um die Ohren. Der Kleine, die Schwangerschaft und jetzt auch noch die beiden Jungs, die uns auf der Pelle hocken.«

Ah, die beiden, die ich bei mir rausgeschmissen hatte, das war auch ein Thema, über das ich noch nachdenken musste. Sollte ich sie wieder bei mir wohnen lassen, wenn ich wegfuhr, oder nicht? Aber jetzt ging es erst einmal um Andy.

»Weiß sie eigentlich, dass du wieder kokst?«, provozierte ich ihn.

Er atmete laut aus. »Wird das jetzt ein Verhör, Frau Polizistin? Um das mal klarzustellen, ich kokse nicht! Ich habe das nur ein paarmal genommen, mehr war da nicht. Und nein, Stefanie weiß es nicht. Das soll auch so bleiben, Stefanie ist im achten Monat.«

»Schön, dass dir das jetzt einfällt«, konnte ich mir nicht verkneifen zu sagen.

Er blickte mich böse an und sagte: »Spiel dich mal nicht so auf.«

Im ersten Moment lag mir eine scharfe Antwort auf der Zunge, doch ich ließ es bleiben. Was brachte es, wenn wir uns ankeiften?

Eigentlich ging es mich nichts an, was Andy und meine Schwester aus ihrem Leben machten. Auch wenn ich null Verständnis dafür hatte, dass er meine schwangere Schwester betrog, so beneidete ich ihn keineswegs um den Druck, dem er ausgesetzt war. Er, der Angeheiratete, führte das erfolgreiche Restaurant meines Vaters zusammen mit meiner Schwester und musste sich jetzt beweisen. Und zwar unter den kritischen Augen meines Vaters, der noch jeden Tag vorbeikam und immer noch der alleinige Eigentümer des Restaurants war. Spaßig war Andys Lage garantiert nicht.

»Ich will nicht mit dir streiten«, lenkte ich daher ein, »ich werde auch Stefanie nichts sagen, aber ich möchte eins wissen: Wo besorgst du dir den Stoff?«

Das interessierte mich, da Andy möglicherweise die gleiche Quelle hatte wie der Sohn der Richterin. Es war ein Schuss ins Blaue, ganz schön weit hergeholt. Doch wer weiß? So viele Dealer gab es auf Sylt wahrscheinlich nicht.

»Was?« Er tat, als hätte er mich nicht verstanden.

»Du weißt, was ich meine. Wo kaufst du das Kokain?«

»Willst du jetzt kleine Dealer festnehmen?«

»Ich will niemanden festnehmen, es interessiert mich einfach. Ich habe einen Verdächtigen in Kampen, der kokst. Vielleicht kauft er beim gleichen Typen wie du. Es würde mir helfen, wenn ich mit dem reden könnte.«

»Das darf doch nicht wahr sein, du willst mich für deine Ermittlungen benutzen? Vergiss es!«, sagte er erregt. »Außerdem ist der Typ nicht von hier, sondern aus Kiel, er kommt nur ab und an mal her.«

Jetzt wurde ich hellhörig. Aus Kiel, wie der junge Scharffner?

»Heißt er etwa Oli?«, fragte ich aufs Geratewohl.

Überrascht starrte er mich an. »Du kennst den? Ist der bei euch bekannt?«

Ich hatte noch die Fotos von Oliver Scharffner in der Tasche und zeigte ihm eins. »Ist es der?«

Er schaute kurz drauf und nickte. »Was ist mit dem? Was hat der gemacht?«

»Darüber kann ich noch nicht sprechen«, sagte ich entschieden. »Aber ich hoffe, wir wissen bald mehr. Im Moment hilft uns jede Information. Also, was weißt du über ihn?«

Andy habe den Sohn der Richterin vor etwa einem halben Jahr kennengelernt, als er mit Kuno, seinem damaligen Beikoch, in Kampen in der Disco gewesen sei. Kuno kenne den Scharffner aus der Hamburger Szene, und da Kuno Geburtstag hatte, habe Scharffner eine Runde Koks ausgegeben.

Seitdem habe Andy ihn zwei- oder dreimal getroffen. Oliver habe ihm seine Handynummer gegeben, so konnte Andy eine SMS schicken, wann immer er etwas benötigte, und Oliver schlug einen Treffpunkt vor.

Ich ließ mir die Handynummer zeigen, es war natürlich eine andere als die Nummer, die Scharffner uns gegeben hatte.

Als ich Andy anschließend fragte, ob er bereit wäre, zu bezeugen, dass er Kokain von Scharffner bezogen hatte, schreckte er zurück.

»Nein, ich sage gar nichts aus. Bist du wahnsinnig? Ich werde mich doch nicht selbst an den Pranger stellen.«

»Kein Mensch will dir wegen ein paar Gramm Kokain, die du in der Vergangenheit von jemandem bekommen hast, irgendetwas anhängen. Das interessiert keinen Menschen. Uns interessiert nur, ob Scharffner etwas mit dem Tod von Sandra Keller zu tun hat, und alles, was wir über ihn wissen, kann uns dabei helfen, das herauszufinden. Nur darum geht es uns.«

»Ich sage nur etwas aus, wenn das niemand hier erfährt«, erwiderte er. »Kannst du mir das versprechen?«

Polizisten versprechen grundsätzlich nichts, aber das behielt ich jedoch für mich.

»Es gibt keinen Grund, dass irgendjemand das erfährt«, versicherte ich stattdessen.

Es ging noch ein bisschen hin und her, bis er sich schließlich bereit erklärte, eine Aussage zu unterschreiben.

Ich wollte im Gegenzug noch mal mit meiner Freundin Sinja sprechen, um sicherzustellen, dass sie keinem erzählte, was Andy des Nachts in seiner Küche so ausprobierte.

Das Gespräch mit meinem Schwager hatte mich ziemlich ausgelaugt, und ich gähnte in einem fort, als ich zum Kommissariat zurückfuhr.

Dort empfing mich eine ungewohnte Leere. Die Abendsonne hatte die verlassenen Büros in ein warmes Licht getaucht, alles strahlte eine sonntägliche Ruhe und Trägheit aus.

Müller war der Einzige, den ich antraf. Er saß an seinem Schreibtisch und telefonierte. Als er aufgelegt hatte, schüttelte er den Kopf und sagte: »Du glaubst es nicht, das waren gerade die Kollegen aus Hamburg. Yvonne Bechtheim ist hier, auf der Insel. Sie war wahrscheinlich im Haus der Scharffner, als wir bei dem Sohn waren.«

»Wieso wissen die Kollegen das?«

»Die Bechtheim war nicht zu Hause, als sie an der Wohnung waren. Von einem Nachbarn haben sie erfahren, wo sie arbeitet. Und dort sagte man den Kollegen, dass die Bechtheim sich ein paar Tage freigenommen hat, weil sie nach Sylt fahren wollte. Am Dienstag wollte sie zurückkommen. Abends ist sie in einer Schicht eingeteilt. Tja, da hat uns der Scharffner ganz schön an der Nase rumgeführt.«

»Ich habe auch ein paar Neuigkeiten zu ihm«, sagte ich und berichtete, was ich von Andy erfahren hatte.

»Der Sohn unserer Richterin dreht nicht nur Pornos im Haus seiner Mutter, sondern dealt auch noch. Na prima. Wir sollten mit dem Richter sprechen. Wenn das kein Grund für eine Hausdurchsuchung ist, weiß ich auch nicht.«

Wir beschlossen, den Oberstaatsanwalt und den Richter jetzt gleich zu informieren und die Durchsuchung am nächsten Morgen vorzunehmen. Und diesmal klappte es tatsächlich, das Fax spuckte den Beschluss aus, und Müller organisierte ein Team für Montagfrüh.

»Was war eigentlich mit Olaf Paulsen? Konntest du da noch was erfahren?«, fragte ich Müller, bevor wir gingen.

»Der Typ hat schon eine Macke!«, entgegnete er. »Nach einer Weile ist er heulend zusammengebrochen und hat erzählt, dass er ihr ein paarmal nachgefahren ist und gesehen hat, dass sie in den Häusern der Kunden übernachtet. Letzte Woche hat er allerdings damit aufgehört, denn sie hatte ihn ein paarmal erwischt und ihm gedroht, ihn wegen Stalking anzuzeigen. Jetzt fühlt er sich mitschuldig an ihrem Tod, den er vielleicht hätte verhindern können, wenn er ihr Samstag nachgefahren wäre.«

»Glaubst du ihm?«, fragte ich.

»Ja, ich glaub ihm. Der hat sie nicht umgebracht. Und er wusste nicht, wo sie Samstag geschlafen hat. Wäre zu schön gewesen, wenn er ihr nachgefahren wäre.«

»Wo hat sie denn vorher oft geschlafen? Gab es da ein System?«

»Der Paulsen sagt, immer woanders. Sie scheint tatsächlich alle Häuser ihrer Kunden benutzt zu haben, alle außer dem Haus der Juweliere. Sie hatte kein System, sie hat immer irgendwo anders geschlafen.«

»Das hilft uns auch nicht weiter«, meinte ich resigniert. »Wir sehen uns dann morgen früh.«

Vielleicht würden wir ja mit dem Scharffner weiterkommen.

Als wir schon an der Tür waren, fragte Müller: »Was meinst du, sollen wir die Richterin informieren?«

»Auf keinen Fall«, erwiderte ich. »Jedenfalls nicht jetzt. Wir können sie anrufen, wenn wir im Haus sind, aber nicht vorher.«

Müller schnaubte. »Das wird ein Spaß!«

Auf dem Heimweg stoppte ich am Haus meiner Eltern. Während der Woche, die ich schon auf der Insel war, hatte ich mich erst einmal blicken lassen, und meinen Vater hatte ich noch gar nicht gesehen. Obwohl ich keine Lust dazu hatte, fühlte ich mich dazu verpflichtet, meine Eltern zu besuchen, denn irgendwo in meinem Innern war immer noch dieses Gefühl, eine gute Tochter sein zu müssen.

Beide waren zu Hause und hatten gerade zu Abend gegessen.

Als ich den Wurstsalat, die Heringe und das Brot sah, merkte ich, wie hungrig ich schon wieder war.

»Warum hast du nicht angerufen? Dann hätte ich doch was gekocht.«

»Schon gut«, winkte ich ab, »ich kann doch hiervon was essen, das sieht sehr lecker aus. Ich habe den ganzen Tag gearbeitet und wusste nicht, wann ich wegkomme.«

»Geht’s um die Tote im Auto?«, fragte mein Vater.

»Ja, deshalb bin ich hier.«

»Habt ihr denjenigen gefunden, der es getan hat?«

»Noch nicht«, erwiderte ich.

»Der ist sicher schon über alle Berge«, meinte mein Vater und fuhr fort: »Ich hatte ja heute einen Tag, kann ich euch sagen. Ich habe mit Hallvorden gespielt, der hat jetzt ein Handicap von 9, stellt euch das mal vor, dabei spielt er erst seit zwei Jahren. So was passiert ganz selten …«

Während mein Vater ausführlich seine Golferlebnisse schilderte, reichte mir Mutter Teller und Besteck, und ich machte mich über den Wurstsalat her.

Plötzlich schaute mein Vater auf die Uhr und stand auf. »Ich sehe mir jetzt die Nachrichten an. Also, mach’s gut«, und schwupp, marschierte er ins Haus.

Auch meine Mutter stand auf und fing an, den Tisch abzuräumen. »Willst du auch noch mit reinkommen?«, fragte sie halbherzig.

»Nein, Mama, ich bin todmüde und muss ins Bett.«

Anschließend begab ich mich auf den Heimweg, satt, aber nicht zufrieden, sondern mit einem leeren Gefühl in der Brust, wie immer, wenn ich meine Eltern besuchte.