Tag 9

Dienstag, 27. August

Wie schon am Samstag sorgte auch heute die Presse wieder für eine unliebsame Überraschung.

»Hast du schon die Zeitung gesehen?«, fragte Müller, als ich ins Revier kam.

»Ist unser Aufruf drinnen?«, fragte ich zurück. »Hat sich schon jemand gemeldet?«

»Ja, den gibt’s auch, ganz klein im Innenteil. Aber schau mal auf den Titel.«

Ich griff nach der Zeitung auf dem Tisch. Die Schlagzeile sprang mir direkt in die Augen: Das bittere Geheimnis der Toten von List. Ihre Freundin packt aus. Dazu die Kleinfels, wie sie mit ernster Miene in die Kamera starrt.

Na wunderbar. Und die Subline lautete: Was uns die Polizei verschweigt: Sandra Kellers aufreibendes Leben als Schlafnomadin.

»Schau dir das an«, stöhnte Müller, »diese blöde Kuh hat ein Interview gegeben, eine Spekulation nach der anderen.«

Ich nahm die Zeitung und überflog das Interview. Paula sprach über ihre arme Freundin, die in vielen Jobs gleichzeitig arbeitete und sich keine Wohnung auf der Insel leisten konnte. Die daher heimlich in den Häusern ihrer Kunden schlief, im eigens mitgebrachten Schlafsack, damit sie keine Spuren hinterließ, während sie ihren gesamten Besitz in ihrem Wagen mit sich führte. Und schließlich fand man Sandra Keller in diesem Auto, tot in ihrem Blut liegend. Dazu drei Fotos, ein Strandbild des Opfers aus glücklichen Tagen sowie ein Schnappschuss von Paula, wie sie Blumen auf den Parkplatz in List legte, auf dem die Tote gefunden worden war, und eine Nahaufnahme dieser Parkbucht, die sich mittlerweile zu einer Gedenkstätte entwickelt hatte, mit Blumen, Kerzen, Stoffbärchen und Fotos der Toten.

Verärgert pustete ich aus und wollte die Zeitung weglegen, doch Müller meinte: »Schau weiter, Seite drei.«

»›Die Schattenseiten der reichsten Insel Deutschlands. Wie die Wohnungsnot die Insulaner in die Armut treibt‹«, las ich laut vor und fragte: »Steht hier auch was drin, was wir wissen sollten?«

Müller verneinte. »Paula hat zum Glück keine Namen genannt, sie beschreibt nur, wie Sandra die letzten Wochen vor ihrem Tod gelebt hat. Außerdem gibt es die üblichen Statements zur Wohnungsnot. Von den Grünen, von den Linken, von den Insulanern.«

»Jedenfalls schlägt’s ganz schön hohe Wellen«, sagte ich.

In dem Moment kam Marieluise zur Tür herein. »Habt ihr schon gelesen?«, rief sie aufgeregt und wedelte mit der Sylt-Zeitung. »Die hat sich interviewen lassen.«

Müller zeigte auf das Blättchen auf seinem Schreibtisch.

Sie schlug sich mit der Hand gegen die Stirn und sagte: »Klar, wir haben die Zeitung ja hier.« Dann schüttelte sie den Kopf. »Die Leute sind so was von verrückt danach, in die Zeitung zu kommen, das ist ekelhaft.«

»Jeder will eben seine fünfzehn Minuten Ruhm, das kennen wir doch«, kommentierte ich in Anspielung auf Warhols Spruch.

»Wieso fünfzehn Minuten, was …?«, wollte sie wissen.

»Also Leute«, unterbrach Müller sie ungeduldig, »was meint ihr? Schadet uns der Artikel?«

»Eigentlich nicht«, überlegte ich, »Gott sei Dank werden nicht die Namen von Sandras Kunden erwähnt, so schlau sind die Autoren, die wollen nicht verklagt werden. Nur vage Andeutungen über den Husumer Bauunternehmer, das ist ja nichts Neues. Und von den Befragungen Scharffners haben sie offensichtlich nichts mitbekommen.«

»Ich nehme an, dass Paula nicht die Namen der Kunden genannt hat, weil sie jetzt bei denen arbeitet. Wenn die wegen des Interviews durch den Dreck gezogen werden, kann sie ihre lukrativen Jobs vergessen«, meinte Müller. Dann schlug er vor: »Ich denke, wir ignorieren den Artikel erst mal. Neele, magst du mit Kerner sprechen, bevor ihm das in die Hände fällt?«

Ich ließ mich dazu breitschlagen und zog mein Mobiltelefon aus der Tasche.

Dr. Kerner war natürlich verärgert, aber er wusste auch, dass wir auf die Aussagen der Leute aus dem Umfeld der Opfer wenig Einfluss hatten. So besprachen wir nur, wie wir mit der Presse verfahren wollten. Die Staatsanwaltschaft würde die Information der Presseleute übernehmen und konnte darauf verweisen, wenn jemand sich bei uns meldete. Besser ging es gar nicht, denn wir verzichteten gerne auf unsere Minuten im Rampenlicht, wenn wir dafür unsere Ruhe hatten, da waren Müller und ich uns einig.

Da jetzt allmählich doch die Anrufe eintrudelten, die unsere Aufrufkampagne im Sylt TV sowie im Radio und in den Zeitungen generiert hatten, übernahmen Marieluise und Amar den Dienst am Telefon. Jan Hagen war weiterhin krankgeschrieben, so dass wir die ganze Woche nicht mit ihm rechnen konnten, da war nichts zu machen.

Müller musste sich mit allem möglichen Papierkram beschäftigen, und ich fasste den Stand unserer Ermittlungen für den Oberstaatsanwalt zusammen. Während wirklich jeder Kollege, den ich kannte, diese Arbeit aus tiefstem Herzen verabscheute und sich, wenn irgend möglich, davor drückte, erledigte ich das gar nicht ungern. Die schriftliche Zusammenfassung eines Falls hatte mir schon oft weitergeholfen, denn es brachte Klarheit in meine Gedanken, wenn ich sie aufschreiben musste. Das kannte ich auch aus Gesprächen. Oft löste sich ein Problem von selbst, wenn man es anderen schilderte.

Damit war heute allerdings nichts. Ich stand noch genauso auf dem Schlauch, nachdem ich den Bericht geschrieben hatte, wie vorher. Wir hatten die Verdächtigen, doch wir hatten keine Beweise. Es war wie verhext.

Auch der Abgleich der DNA-Proben, sowohl von Tanja von Freudenberg als auch von Oliver Scharffner, der sie uns sogar freiwillig zur Verfügung gestellt hatte, ergab keinen Treffer.

Ich ging in die Abstellkammer, wo Amar seine IT-Zentrale eingerichtet hatte. In dem Notrevier, das nun schon seit über einem Jahr die Sylter Polizei beherbergte, weil das Präsidium saniert wurde, konnte man schon froh sein, dass Amar überhaupt einen eigenen Raum hatte, wo er seine Computer einigermaßen vernünftig aufbauen konnte.

»Und gibt’s was Neues?«, fragte ich.

»Viele Anrufe und nichts dabei, leider«, brummte er.

Marieluise, deren Schreibtisch auf dem Flur vor Müllers Zimmer platziert war, hatte ebenfalls noch keinen Hinweis erhalten.

»Aber es ist gerade eine E-Mail von dem Freudenberg-Anwalt aus Husum eingegangen«, sagte sie, »der schmeißt den Job hin.«

»Lass mal hören«, rief Müller, der das von seinem Platz hinter dem Schreibtisch mitbekommen hatte.

Marieluise las vor: »Hiermit zeige ich an, dass ich ab sofort Frau Tanja von Freudenberg nicht mehr anwaltlich vertrete. Die Übersendung von Schriftstücken, Verfügungen oder förmlichen Zustellungen hat mithin unmittelbar an die bisher vertretene Tanja von Freudenberg in Husum, Alleenweg 8, zu erfolgen.«

Müller nickte zufrieden. »Tja, ihr Mann hat wohl den Geldhahn zugedreht. Das heißt, wir können damit rechnen, dass auch der Sohn keinen gewieften Rechtsverdreher bei sich hat. Was meinst du, wollen wir den in meinem Büro vernehmen oder im Kabuff?« Das Kabuff war, genau wie Amars Interimsbüro, ein winziger, fensterloser Raum im Notrevier, der spärlich mit einem Ikea-Tisch und vier Plastikstühlen ausgestattet war und ab und zu für Befragungen oder interne Besprechungen genutzt wurde. Der triste Raum war nützlich, um den Druck auf den Befragten zu verstärken, während Müllers Büro eher dafür geeignet war, den Anschein einer privaten Zusammenkunft zu erzeugen, wo man offen reden konnte.

Was besser funktionierte, war schwer vorherzusehen. Manch einer, wie die Hässler, packte eher aus, wenn er sich in die Enge getrieben sah, aber viele andere, die eine Straftat begangen hatten, waren selbst so unglücklich darüber, dass sie einfach nur ihr Herz ausschütten wollten.

»Wenn er alleine kommt, gehen wir in dein Büro, wenn er einen Anwalt mitbringt, nehmen wir das Kabuff, was meinst du?«

»Okay.« Müller nickte.

Wir hatten noch eine Stunde bis zu Richies Eintreffen, daher beschlossen wir, uns eine Mittagspause zu gönnen.

Müller und Marieluise wollten kurz nach Hause fahren, nur Amar saß noch unschlüssig an seinem Platz, daher fragte ich ihn: »Wie sieht’s aus, Lust auf ein Fischbrötchen?«

»Warum nicht?« Er stand auf.

Da wir beide unsere Fahrräder dabeihatten, fuhren wir zur Strandpromenade. Die Zelte des Kitesurf Cups waren inzwischen abgebaut, daher hatte man wieder einen freien Blick aufs Meer.

»Wow«, staunte Amar.

»Sag mal, warst du noch gar nicht am Strand?«

»Nee, wann denn?«, gab er zurück.

»Das darf doch nicht wahr sein, dann wird’s aber Zeit!«

Wir schlenderten zu einer Bude und holten uns Lachsbrötchen, Krabbenbrötchen, Matjesbrötchen und etwas zu trinken. Was für ein Festmahl. Auch wenn Amar sich eine Cola zum Fischbrötchen bestellte, was ein Fauxpas erster Güte war.

Da alle Strandkörbe belegt waren, setzten wir uns auf eine der weißen Bänke der Arena gegenüber der Musikmuschel. Es war Mittag, daher war das Kurorchester zu hören, das während der Saison jeden Tag mittags und abends spielte. Mal populäre klassische Musik, mal Schlager, mal Oldies. Heute waren leider die Schlager dran, Matthias Reim und Co. Gerade ertönte: »Ich hab’ geträumt von dir …«

Amar konnte es gar nicht fassen. »Spielen die immer hier?«, fragte er. »Das sind also die berühmten Kurkonzerte?«

»Jeden Tag«, bestätigte ich, »gibt’s so was in Leverkusen nicht?«

»Zum Glück nicht.« Er grinste.

»So schlimm?«

»Na ja, schon ein bisschen gewöhnungsbedürftig, die Musik.«

Ich wusste, dass Amar auf Techno stand, und das Konzert hier war eindeutig meilenweit davon entfernt.

»Wie gesagt, manchmal spielen die auch Oldies. Aber den Leuten scheint das hier zu gefallen.«

Ich deutete zur Musikmuschel, vor der eine immer größere Gruppe Urlauber zur Musik schunkelte. Inzwischen grölte der Sänger, er wolle sein Herz zurück, und die Zuschauer stimmten begeistert ein.

»Oh nein!« Amar verzog missfallend das Gesicht und meinte nur: »Na ja, die Brötchen sind wirklich lecker.«

Ich schmunzelte, da musste er jetzt durch. Mich störte die Musik überhaupt nicht, ich mochte die Stimmung am Strand, die Sonne, die frische Brise, das Meer und gut gelaunte Menschen. Eine bessere Mittagspause, als mit einem Fischbrötchen am Strand zu sitzen, konnte ich mir gar nicht vorstellen.

»Und, wie ist es so bei den Kleinschmidts?«, erkundigte ich mich nach einer Weile. Marieluises Mutter, Frau Kleinschmidt, vermietete Fremdenzimmer und beherbergte öfter Polizisten, die vom Festland auf die Insel abgeordnet waren.

»Schon okay«, meinte er, »ich bin sowieso nur zum Schlafen da.«

Das klang nicht wirklich begeistert. Im Mai war er noch hin und weg gewesen von dem Angebot, im gleichen Haus wie die hübsche Kollegin zu übernachten, doch inzwischen schien sein Interesse merklich abgeflaut. Ging mich ja nichts an, trotzdem fragte ich: »Und wie läuft’s mit Marieluise?«

»Was soll da laufen?«, entgegnete er etwas unwirsch. »Wir sind eben Kollegen.«

Okay, das Thema ließ ich wohl besser sein. Schweigend beendeten wir unsere Mahlzeit. Inzwischen war die Band bei Roland Kaiser angelangt, und Amar machte den Eindruck, als hätte er seine erträgliche Dosis Schlagermusik jetzt endgültig erhalten. Außerdem mussten wir sowieso los, auf in den nächsten Fight.

Wie erhofft kam Richard von Freudenberg ohne einen Anwalt. Seit unserer letzten Begegnung hatte er sich merklich verändert. Diesmal trug er kein »Fuck google, ask me«-Shirt, sondern ein hellblaues Polohemd zu beigen Chinos und Timberlands, der sprichwörtliche brave Sohn aus gutem Hause. Ansonsten sah er allerdings zum Erbarmen aus, tiefe Augenringe, blasse, eingefallene Wangen und nervöse Hände. Er wirkte viel jünger und verletzlicher als bei unserer letzten Begegnung. Wie konnte sich Tanja von Freudenberg nur an diesem Jüngling vergreifen, wenn sie so einen attraktiven Mann wie Reinhard von Freudenberg an ihrer Seite hatte? Sehr rätselhaft, das Ganze, aber in Beziehungen kann man nun mal nicht reinblicken.

Wir ließen den jungen Mann an Müllers Besprechungstisch Platz nehmen und servierten ihm Kaffee und Plätzchen.

Hastig trank er einen Schluck und starrte uns mit einer Mischung aus Furcht und Trotz an.

»Vielen Dank, dass Sie so kurzfristig kommen konnten«, sagte Müller freundlich. Anschließend klärte er ihn über seine Rechte auf und informierte ihn darüber, dass wir das Gespräch protokollieren würden.

So weit, so gut. Der Junge hörte gar nicht richtig hin und sagte kein Wort.

Dann stellte ihm Müller die Fragen zur Person, die Freudenberg nur einsilbig und mit leiser Stimme beantwortete. Und als das alles erledigt war, versuchte er, ein bisschen mit dem Jungen zu plaudern, über das Wetter, das Studium in Kiel, die Aufwärmphase eben.

Ich schielte auf die Uhr, mittlerweile war schon eine halbe Stunde vergangen.

Endlich kam er zur Sache: »Am Freitag, den 16. August, holte Ihre Stiefmutter Sie von zu Hause ab, um mit Ihnen einen Kurzurlaub auf Sylt zu verbringen. Bitte erzählen Sie noch einmal, was Sie von dem Zeitpunkt an getan haben, als Sie losgefahren sind. Bitte lassen Sie nichts aus, uns interessiert, was in diesen Tagen auf Sylt passiert ist.«

Der Student verdrehte die Augen. »Das habe ich Ihnen doch schon alles erzählt.«

»Ich weiß«, entgegnete Müller, »aber bitte seien Sie so freundlich, berichten Sie den Ablauf dieser Tage noch einmal.«

Es ist eine gängige Methode, Verdächtige immer wieder nach dem Gleichen zu fragen, um Widersprüche aufzudecken.

Mit brüchiger Stimme berichtete Freudenberg, dass er mit seiner Stiefmutter nach Sylt gefahren sei, dass die Stiefmutter vorher Lebensmittel und Getränke besorgt habe und sie am Abend im Haus angekommen und dortgeblieben seien, den Cayenne hätten sie in der Garage abgestellt. Keiner sei vorbeigekommen, und sie seien nicht ausgegangen.

Ich warf ein: »Ihre Stiefmutter erzählte, dass Sie am Strand waren.«

Er errötete. »Äh, das habe ich vergessen, wir waren mal spazieren, klar, und mal morgens schwimmen.«

»Wie oft waren Sie am Strand? Nehmen Sie sich Zeit, und überlegen Sie. Ich habe hier auch die Aussage von Frau von Freudenberg und möchte das überprüfen«, fuhr ich fort.

Jetzt wurde er noch nervöser und rieb die ganze Zeit mit dem Finger an seiner Wange.

Nach etwas Hin und Her gab er schließlich an, dass sie Samstagfrüh kurz schwimmen gewesen seien und Samstagnachmittag zwei Stunden am Strand verbracht hätten, beim Schwimmen und Sonnenbaden, sie hätten aber niemanden getroffen. Samstagabend hätten sie dann zusammen gekocht, etwas Einfaches, Nudeln mit Pesto und Salat, und gegessen.

»Das machen Sie sehr gut«, lobte Müller zwischendurch, denn der Mann war so nervös, dass er manchmal kaum ein Wort herausbrachte. »Und wie sah es mit dem Trinken aus? Was haben Sie zum Essen getrunken?«

Sie hätten tatsächlich nicht nur zwei Flaschen Rotwein geleert, wie der Junge gestand, sondern auch Grappa getrunken, so dass sie schon gegen zwölf geschlafen hätten.

»Sind Sie nachts mal aufgewacht, oder haben Sie etwas gehört?«, fragte ich.

Er schüttelte den Kopf, nein, er habe durchgeschlafen, erst morgens sei er einmal kurz zur Toilette gegangen, aber danach gleich wieder eingeschlafen.

»Und was war mit Tanja von Freudenberg?«

»Die hat auch fest geschlafen«, sagte er, »ich habe nichts bemerkt.«

»Dann sprechen wir jetzt über den nächsten Morgen. Wann sind Sie aufgewacht?«, erkundigte sich Müller.

Der Junge überlegte. »So gegen zehn, halb elf.«

»Was haben Sie danach gemacht?«

Jetzt färbten sich seine Wangen wieder rötlich. »Na, was wohl?«, raunte er.

»Keine Ahnung«, sagte Müller, »also, was haben Sie gemacht?«

Er senkte den Kopf und sagte leise: »Wir haben miteinander geschlafen?«

»Sie hatten demnach um zehn oder zehn Uhr dreißig Sex mit Ihrer Stiefmutter. Überlegen Sie bitte: Wann war das genau?«

»Ich habe nicht auf die Uhr geschaut«, erwiderte er.

»Wie laut waren Sie dabei?«, fuhr Müller fort.

Entsetzt starrte ihn der Junge an. »Warum wollen Sie das wissen? Das ist ja unmöglich.«

Ich schaute demonstrativ erst in meine Notizen und anschließend zu ihm. »Wir wissen, dass Sandra Keller am Sonntag in den frühen Morgenstunden bis Sonntagmittag in Kampen war. Wir gehen davon aus, dass sie heimlich in Ihrem Haus geschlafen hat und aufgewacht ist, als sie am Morgen etwas hörte.« Ich machte eine kleine Pause. »Sie ging dem Geräusch nach und hat Sie beim Sex überrascht. Das muss ein furchtbarer Schreck für Sie gewesen sein.«

»Nein!«, schrie Richard von Freudenberg auf. »Das ist nicht wahr, es war niemand im Haus, das ist gelogen.«

»Herr von Freudenberg, wir wollen Sie nicht anlügen, glauben Sie mir«, sagte Müller daraufhin. »Wir wissen, dass Sie in einer schwierigen Lage waren, Sie haben Ihren Vater mit Ihrer Stiefmutter hintergangen, obwohl Sie das vielleicht gar nicht wollten. So etwas verursacht Stress, vielleicht mehr Stress, als man ertragen kann. Und als diese Frau reinplatzte und Sie unter Druck setzen wollte … das war einfach zu viel, das kann man verstehen …«

»Nein, das ist doch Blödsinn, das stimmt doch alles gar nicht«, fiel ihm der Junge verzweifelt ins Wort.

»Vielleicht war es ein Unfall, und Sie hatten gar nichts damit zu tun. Ich kann gut verstehen, dass Sie Ihre Stiefmutter beschützen wollen, das würde jeder Mann tun. Aber damit bringen Sie sich selbst in Verdacht, und das können Sie auch nicht wollen.«

Freudenberg saß nur noch da, schüttelte den Kopf und atmete schwer. Dann stand er auf und sagte: »Ich muss mal raus, ich kann nicht mehr.«

Wir legten eine Pause ein.

Anschließend setzten wir das Verhör noch gut zwei Stunden fort, probierten es mit Verständnis, mit Druck, mit Verbrüderung, doch der junge Mann blieb bei seiner Aussage, da war nichts zu machen. Daher beendeten wir die Vernehmung und boten ihm Brötchen und Getränke an und wollten ihn in Ruhe das Protokoll lesen lassen. Doch er blickte nur kurz drauf und unterschrieb es. Er wirkte so fix und fertig, dass wir befürchteten, er könne nicht mehr nach Kiel fahren.

Wir fragten ihn daher, ob er in dem Haus in Kampen bleiben wolle, woraufhin er in Tränen ausbrach. Als einmal die Schleusen geöffnet waren, war er nicht mehr aufzuhalten.

»Ich musste meinem Vater die Schlüssel zurückgeben, ich darf das Haus nicht mehr betreten«, stammelte er, »auch das Haus in Husum nicht.« Er schniefte. »Und für meine Wohnung zahlt er nur noch drei Monate die Miete. Ich muss kündigen und mir eine billige suchen, die ich selbst bezahlen kann. Er will mich fertigmachen, er redet nicht mehr mit mir.« Er holte tief Luft. »Ich kriege jetzt nur noch den Bafögsatz, da kann kein Mensch leben davon, er ist so gemein, er hat sogar gesagt, er hätte jetzt keinen Sohn mehr!«

Bitter schluchzte der junge Mann auf. Der Entzug des Geldes und seiner Privilegien schien ihn viel mehr zu belasten als der Mordverdacht.

Jetzt, wo er einmal ins Reden gekommen war, erfuhren wir auch, dass der Freudenberg schon die Scheidung eingereicht hatte. Und da sie einen Ehevertrag hatten, würde sie ohne einen Pfennig dastehen.

Der Noch-Ehemann hatte also Tabula rasa gemacht, in jeder Beziehung.

Wenn sie, wie es aussah, nichts mit dem Tod Sandras zu tun hatten, konnten die beiden einem leidtun. Wer begeht nicht mal eine Dummheit, gerade, wenn man jung ist? Wenn die Hormone im Zenit stehen, ist man anfällig für alles Mögliche und oft auch Unmögliche. Wer will da jemanden verurteilen? Besonders wenn ein junger Mann in enger familiärer Bindung mit der fast gleichaltrigen, äußerst attraktiven Stiefmutter lebt. Und die Stiefmutter, selbst eine junge Frau, die an einen doppelt so alten Mann gebunden ist. Vielleicht war es zu Beginn Liebe, aber irgendwann schlägt die Realität zu, und man sieht jeden Mangel des anderen wie durch eine Lupe. Tanja von Freudberg wirkte auf mich wie eine Frau, die viel Bewunderung und Aufmerksamkeit brauchte, und ich bezweifelte, dass ihr Mann auf Dauer bereit war, das zu geben. So war zuerst der Sohn ins Spiel gekommen – dann die Katastrophe. Das Leben kann schon gemein sein.

Ich wischte meine trübseligen Gedanken weg, die hingen wohl damit zusammen, dass ich ziemlich geschafft war. So ein Verhör ist Schwerstarbeit, auch für den Ermittler. Und in diesem Fall kam danach auch das Hochgefühl nicht auf, das einen für die Strapazen entschädigt, wenn der Fall erfolgreich mit einem Geständnis abgeschlossen werden kann: Adrenalin pur, gemischt mit Endorphinen. Damit war heute definitiv nichts.

Wir ließen den armen Jungen von einem Kollegen zum Zug bringen und machten uns erschöpft auf den Heimweg.

Ich wollte nur noch etwas essen, ins Bett gehen und den Tag vergessen. Doch das sollte mir nicht gegönnt sein.

Als ich nach Hause kam, klingelte mein Mobiltelefon. Es war meine Schwester, und ich ging nicht dran, dafür hatte ich jetzt wirklich keine Nerven.

Kurz darauf blinkte eine neue Sprachnachricht auf, und ich hörte sie ab, es konnte ja auch etwas Wichtiges sein.

Stefanies Stimme klang sehr ungehalten.

»Ich bin vorhin bei dir vorbeigefahren, aber du warst ja nicht da. Du wolltest dich doch melden, wegen Andys Cousin«, sagte sie vorwurfsvoll. »Wann habt ihr denn den Fall endlich mal abgeschlossen? Scheint ja nicht gut zu laufen für dich, mal wieder. – Also sag mir bitte Bescheid, ob die beiden Jungs ein paar Wochen bei dir wohnen können. Hier ist es nicht mehr auszuhalten. Ich habe den Kleinen und kriege bald den Zweiten.« Sie schnaufte. »Na ja, Familie war dir ja noch nie wichtig, du denkst lieber an dein Vergnügen«, fügte sie giftig hinzu.

Puh! Und dann setzte sie tatsächlich noch einen drauf.

»Wir haben dich heute Mittag übrigens gesehen, als du mit einem Typen zum Strand geradelt bist. Scheint ja nicht so weit her zu sein mit der Arbeit. Ich habe gerade den Kleinen vom Kindergarten abgeholt, und er hat gerufen: ›Tante Neele, das ist Tante Neele.‹ Tja, ich musste ihm erklären, dass du keine Zeit für uns hast, da war er natürlich traurig.«

Das war jetzt in höchstem Maße unverschämt. Sie wusste ganz genau, dass ich den Kleinen sehr mochte und ihn gerne gesehen hätte. Und sie wusste auch, dass sie mir damit einen Stich versetzte. Jetzt hatte ich natürlich ein schlechtes Gewissen, denn ich musste mir eingestehen, dass ich ihn nicht besucht hatte, weil ich der Auseinandersetzung mit meiner Schwester aus dem Weg gehen wollte. Bravo, Stefanie! Sie hatte es mal wieder geschafft, mich so richtig runterzuziehen.

Ich löschte die Nachricht und ging zu Bett.