Der Mittwoch brachte eine Überraschung. Wir hatten den ersten Treffer beim Presseaufruf.
Marieluise war ganz aufgeregt. »Eine Frau hat eben angerufen, weil sie am Sonntag einen dunkelgrauen Opel Corsa mit Sylter Kennzeichen auf dem Parkplatz in Kampen Mitte gesehen hat. Und stellt euch vor, sie konnte sogar beobachten, wie eine Frau mit dem Fahrzeug weggefahren ist.«
»Was? Wann?«, riefen wir alle durcheinander.
»So ungefähr um zwei, sagte die Frau.«
»Wo ist die Frau? Ist sie Sylterin?«, erkundigte sich Müller.
»Nein, sie kommt vom Festland, eine Urlauberin. Sie ist schon daheim, in Bochum. Unseren Zeugenaufruf hat sie zufällig im Internet gesehen. Ihr könnt sie anrufen, hier ist die Nummer.«
Das war vielleicht endlich der Durchbruch. Jetzt wussten wir, dass die Täterin eine Frau war, beziehungsweise, dass eine Frau an der Tat beteiligt war.
»Ich spreche mal mit ihr«, sagte ich zu Müller und schnappte mir ein Festnetztelefon vom Revier.
»Anna Hübner«, meldete sich eine Frauenstimme.
Ich stellte mich vor und bat sie, mir genau zu berichten, was sie gesehen hatte.
»Wissen Sie, wir haben Urlaub in Hörnum gemacht, das machen wir seit Jahren, immer in derselben Ferienwohnung. Und letzten Sonntag, da war Flohmarkt in List, da sind wir dann hingefahren. Und auf dem Rückweg, da sag ich zu meinem Mann: ›Lass uns doch mal wieder die reichen Leute in Kampen begucken‹, deshalb haben wir auf diesem Parkplatz geparkt. Der war schon ziemlich voll, aber wir haben noch einen Platz gefunden.«
Geduld, sagte ich mir, lass sie reden.
»Mein Mann, der hat dann noch seinen Geldbeutel im Auto gesucht, das macht er ja immer, der sucht immer was, und ich habe draußen gewartet, das kenne ich auch schon. Und da habe ich die Frau gesehen. Sie ist mir so aufgefallen, weil sie die ganze Zeit über den Parkplatz gelaufen ist und dabei den Schlüssel in die Luft gehalten und rumgeguckt hat. Als wüsste sie nicht mehr, wo ihr Auto ist. Vielleicht hat sie auch was getrunken am Abend vorher, sie wäre nicht die Einzige. Und besser ist es, sie hat’s stehen lassen, ich meine, das Auto. Auf einmal hat der graue Opel aufgeblinkt, und sie wusste endlich, wo ihr Wagen steht. Sie ist ganz schnell hingegangen und hat sich reingesetzt. Dabei habe ich mir das Auto angeschaut. Wissen Sie, ich interessiere mich ja nicht für Autos, die sind zum Fahren da und fertig. Aber diese Frau ist mir eben aufgefallen. Deshalb habe ich auch das Fahrzeug angeschaut und das Nummernschild gesehen NF, SK und drei gleiche Nummern, 333 oder 555, ich weiß nicht mehr. Ich dachte nur, eine Einheimische, das hat mich gewundert, denn irgendwie wirkte sie wie eine Touristin.«
Sie holte tief Luft. »Tja, und in dem Moment hat mein Mann endlich sein Geld gefunden und wollte plötzlich ganz schnell los. So ist es immer, erst muss man auf ihn warten, und dann kann es ihm nicht schnell genug gehen. Männer eben. Ich habe deshalb nicht mehr gesehen, wie die Frau losgefahren ist. Ich hätte ja nicht gedacht, dass sich die Polizei dafür interessiert. War das jetzt eine Mörderin, o mein Gott? Mitten in Kampen, und ich habe sie gesehen.«
Ihr Erschauern vibrierte geradezu durch die Telefonleitung.
»Das wissen wir nicht, Frau Hübner, wir suchen im Moment nur eine Zeugin«, beruhigte ich sie. »Können Sie mir denn beschreiben, wie sie aussah?«
»Ja, was soll ich sagen? Ich habe sie fast nur von hinten und von der Seite gesehen, wie sie da hin und her gelaufen ist. Sie war schlank und hatte so ein weißes Käppi auf dem Kopf wie die Golfspieler, die man auf Sylt immer sieht. Und Jeans und eine lange Bluse. Man sah eigentlich gar nicht viel von ihr.«
»Haben Sie ihre Schuhe gesehen?«
»Ich glaube, es waren Turnschuhe, weiße Turnschuhe, die sieht man ja auch oft.«
»Wie waren ihre Haare?«, fragte ich gespannt.
»Die sah man eigentlich gar nicht, die hat sie unter die Kappe gestopft. Ich denke, sie waren hell. Und sie hatte eine Sonnenbrille auf, so eine ganz große.«
Na wunderbar, dachte ich.
»Können Sie was über die Körpergröße der Frau sagen?«
»Normal eben, nicht so groß und nicht so klein, vielleicht eins siebzig.«
»Und wenn Sie das Alter schätzen müssten?«
»Also, sie wirkte ja jugendlich, wie sie so herumgelaufen ist, aber es war kein junges Mädchen, es war eine Frau um die dreißig oder vierzig, vielleicht sogar älter, das kann man ja heute gar nicht mehr so genau sehen, wo die so viel an sich herummachen lassen. Außerdem habe ich sie auch gar nicht richtig sehen können.«
Dann handelte es sich schon mal nicht um Sandras Freundin Paula, die eher klein und etwas stämmig war.
Ich fragte weiter: »Hatte sie irgendwelche besonderen Kennzeichen?«
»Wie? Was meinen Sie damit?«
»Ist Ihnen etwas an Ihrem Gang aufgefallen oder hatte sie etwas besonders Auffallendes, zum Beispiel einen großen Busen, oder trug sie eine Tasche oder einen Schal?«
»Also ihr Busen ist mir nicht aufgefallen, und mitgehabt hatte sie auch nichts, außer dem Autoschlüssel«, versicherte Frau Hübner.
Somit war es nicht Yvonne, denn deren Busen wäre der Zeugin garantiert ins Auge gestochen.
»Vielen Dank, Frau Hübner, Sie helfen uns sehr. Jetzt noch eine Frage: Haben Sie ein Smartphone?«
»Ja klar, ein Samsung.«
»Ich werde Ihnen jetzt ein paar Fotos rüberschicken. Bitte schauen Sie sich diese genau an, ganz in Ruhe. Ich melde mich in einer halben Stunde wieder und werde Sie fragen, ob es eine dieser Frauen gewesen sein könnte. Ist das für Sie in Ordnung?«
»Jaja, natürlich. Ich schaue mir alles an, ich kann Ihnen jedoch nicht versprechen, dass ich sie erkenne, sie war wirklich nicht gut zu sehen, so wie sie hergerichtet war, mit der Mütze und der Sonnenbrille und der langen Bluse. Dabei hat die Sonne an dem Tag vom Himmel gebrannt.«
»Dann bedanke ich mich schon mal, Frau Hübner, bis gleich.« Ich legte auf und berichtete den Kollegen, was ich erfahren hatte.
»Wow«, seufzte Müller erleichtert, »endlich geht es vorwärts. Wenn sie eine Frau gesehen hat, kommen ja nicht mehr viele infrage, eigentlich nur Tanja von Freudenberg, Paula Kleinfels und Yvonne Bechtheim, falls Scharffner sie zum Parkplatz geschickt hat.«
»Aber Paula und Yvonne passen nicht zur Beschreibung«, werfe ich ein.
»Genau«, meinte Müller, »ich sage doch schon die ganze Zeit, dass es die Freudenberg war!«
»Du weißt, wie unsicher Zeugenaussagen sind«, gebe ich zu bedenken, »lass uns sicherheitshalber auch die Fotos von Paula und Yvonne dazunehmen. Und am besten auch die Fotos der beiden anderen Frauen, der Schauspielerin und der Kirchenfrau. Ich weiß, die sind raus, weil sie angeblich schon seit Samstag auf der Insel waren, doch das wissen wir nur, weil sie es behauptet haben. Ich hatte sowieso vor, die beiden heute zu befragen.«
»Klar«, bestätigte Müller, »das kann nicht schaden.«
Hastig stellten wir die Fotos zusammen, wobei wir darauf achteten, dass wir nicht nur Porträtaufnahmen und Profile verwendeten, sondern auch Ganzkörperfotos, um die Körperhaltung und -größe zu zeigen.
Von Tanja von Freudenberg hatten wir mehrere Fotos, von Paula ebenfalls, von Yvonne Bechtheim gab es jede Menge in einschlägigen Portalen, die allerdings leider nicht für jedermanns Augen geeignet waren. Daher montierte Amar einfach ihren Kopf auf einen ähnlichen, aber bekleideten Körper, somit funktionierte das auch. Passende Fotos von der Schauspielerin dagegen fanden wir im Internet zuhauf, genau wie von der Pröpstin, wobei diese gar nicht zu der Beschreibung Hübners passte, dazu war sie etwas zu mollig.
Unsere Erwartungen waren groß, als ich die Zeugin wieder anrief.
»Ich weiß nicht genau, ob die Frau wirklich eine von denen war, die Sie mir geschickt haben«, jammerte die Frau, »das ist ja so schwer, dazu was zu sagen, man will ja auch nichts Falsches sagen.«
»Versuchen wir es doch mal andersrum«, schlug ich vor, »wer von denen war es mit Sicherheit nicht?«
»Die Junge« –also Paula –, »die war es nicht, die ist kleiner und rundlicher, die Frau, die ich gesehen habe, hatte eine ganz andere Figur. Und die mit den langen schwarzen Haaren« – damit meinte sie Yvonne –, »die war es auch nicht, die sieht ja ganz anders aus.« Sie kicherte. »Jetzt weiß ich auch, was Sie mit dem großen Vorbau gemeint haben. Die Ältere, die so ernst aussieht« – die Pröpstin –, »die ist ja eher kompakt gebaut. Die anderen beiden würden passen, die haben beide so eine ähnliche Figur und Größe, aber irgendwie sah die Frau dieser Schauspielerin am ähnlichsten. Das ist doch die – wie heißt sie noch mal? – äh, die Kruse aus dieser Serie.«
»Sie haben recht, Frau Hübner, das sind Fotos von Kristina Kruse. Und Sie sagen, die Frau sah ihr ähnlich?«
»Ja schon, aber das kann sie doch nicht gewesen sein, oder? Die würde doch nichts Schlimmes machen.«
»Wir suchen die Frau erst mal nur als Zeugin, Frau Hübner.«
»Wenn das so ist, vielleicht war sie es ja. In Kampen, da sind viele von diesen Promis, da passt sie ja hin. Doch dass die nicht mehr weiß, wo ihr Auto steht, das hätte ich wirklich nicht gedacht.«
Ich versuchte noch herauszufinden, wie sicher sich die Frau war, dass sie Kristina Kruse erkannt hatte, oder ob sie diese nur auswählte, weil sie die Schauspielerin schon des Öfteren im Fernsehen und in der Presse gesehen hatte.
Auf alle Fälle bat ich sie, zum örtlichen Polizeirevier zu gehen, um ein Phantombild der Frau vom Parkplatz erstellen zu lassen. Sie war sofort, ich würde sogar sagen, voller Begeisterung, einverstanden, und so machte ich mich daran, die Aktion zu organisieren.
»Die Kruse, die hatten wir ja noch gar nicht im Visier«, staunte Müller, »meinst du, da ist was dran?«
»Keine Ahnung«, erwiderte ich, »am besten, wir rufen sie gleich mal an.«
»Soviel ich weiß, wollten die beiden Frauen zwei Wochen auf Sylt bleiben, vielleicht sind sie ja noch da«, warf Amar ein.
Und tatsächlich, das waren sie. Sie hielten sich im Moment beide in Kampen auf, daher konnten wir gleich hinfahren und mit ihnen sprechen.
»Schiete, ich befürchte, wir haben einen Riesenfehler gemacht, wir hätten nicht einfach glauben dürfen, dass die Schwestern schon Samstag auf der Insel waren und dass Sandra Keller darüber Bescheid wusste«, sagte ich etwas bedrückt zu Müller, als wir im Auto saßen. »Meinst du, das hängt damit zusammen, dass Claudia Rombach eine Pröpstin ist und wir eine Kirchenfrau für besonders glaubwürdig halten?«
Müller runzelte die Stirn. »Was ist eigentlich eine Pröpstin?«
»Das ist so was wie die Chefin von mehreren Gemeindepastoren, die hat irgendeine leitende Funktion in der Kirche, unter dem Bischof oder so ähnlich.«
»Ich sehe schon, du bist eine große Kirchengängerin.« Müller schmunzelte.
»Mit achtzehn ausgetreten«, erwiderte ich, »aber ganz kriegt man das ja nie los.«
»Da kannst du recht haben«, meinte er, »und vielleicht ist da auch etwas dran, dass man einer Pastorin eher was abnimmt als anderen Leuten.«
»Ich habe noch nie mit einem Pastor zu tun gehabt, weder beruflich noch privat. Außer natürlich früher, in der Schule oder beim Konfirmationsunterricht. Kennst du einen Pastor?«
Hier wurde Müller plötzlich verlegen. »Ja, schon«, sagte er zögernd, »auf Sylt gibt es ja einige, da kennt man sich eben.«
Dann waren wir auch schon am Haus der Schauspielerin, ein kleines, romantisches Häuschen unter Reet in einem großen, mit Büschen eingefassten Garten. Wir klingelten, und die Hausherrin öffnete uns, nicht sehr begeistert.
Sie war eine schöne Frau, mit langen blonden Locken und schmalem, wenn auch etwas mürrisch wirkendem Gesicht. Obwohl sie garantiert schon Mitte vierzig war, hatte sie die schlanke Figur einer jungen Frau, ein Eindruck, den die kurzen weißen Shorts und das knappe Top noch unterstrichen. Allerdings wirkte sie alles andere als sympathisch.
»Ich habe doch schon mit Ihrem Kollegen gesprochen«, sagte sie schnippisch, »was gibt es denn noch?«
»Es haben sich neue Erkenntnisse ergeben, Frau Kruse, daher müssen wir Sie noch einmal sprechen«, erwiderte ich freundlichst, »wir brauchen nicht lange. Dürfen wir reinkommen?«
»Bitte, wenn es denn sein muss. Aber ich habe wirklich keine Zeit, ich habe noch etwas vor!« Mit steifer Miene führte sie uns ins Wohnzimmer.
Der Raum war unglaublich, ein altes friesisches Wohnzimmer mit Kacheln an den Wänden, bemalter Decke und Kachelofen. Das Haus war sicherlich hundert Jahre alt, ein Wahnsinn. Man fühlte sich fast wie in einem Museum. Die Möbel erschienen mir zwar nicht ganz stilecht, nur nachgemachte Bauernmöbel, doch immerhin aus solider Eiche. Sofa und Sessel hatten Blümchenmusterbezüge.
Die Schauspielerin bemerkte unsere Bewunderung und lächelte kurz. So ganz konnte sie ihren Stolz offensichtlich nicht verhehlen.
»Wunderschön haben Sie es hier«, staunte ich, und Müller nickte bestätigend.
Doch sofort fiel sie in ihre widerspenstige Haltung zurück. »Also, was gibt’s?«, fragte sie brüsk. »Warum sind Sie hier?«
Was für eine Zicke, dachte ich, während Müller in seinem freundlichsten Ton mit der Befragung begann: »Wie Ihnen bekannt ist, untersuchen wir den Tod Ihrer Hausbetreuerin Sandra Keller. Wir wissen, dass sich Sandra Keller Samstagnacht und Sonntag in Kampen im Umfeld Ihres Hauses aufgehalten hat. Und wir fragen uns natürlich, was sie da getan hat.«
Ich zückte meine Notizen und fuhr fort: »Sie haben ausgesagt, dass Sie Samstag hier angekommen sind. Uns interessiert nun, wann genau Sie letzte Woche nach Sylt gereist sind, und zwar in allen Einzelheiten. Wann sind Sie losgefahren, wann angekommen, welchen Zug haben Sie genommen?«
Sie verdrehte gereizt die Augen. »Das habe ich alles Ihrem Kollegen schon mitgeteilt. Ich sehe überhaupt nicht ein, warum Sie das noch einmal hören wollen.«
»Es würde uns helfen, den Tag zu rekonstruieren.«
Jetzt wurde sie regelrecht aggressiv: »Ich habe überhaupt keine Lust, alles noch mal zu berichten. Muss ich eigentlich überhaupt mit Ihnen sprechen?«
Ich wollte ihr gerade eine passende Antwort geben, als die Pröpstin plötzlich in der Tür stand und fragte: »Kristina, was ist hier los?«
Kristina Kruse drehte sich um und erwiderte: »Die Polizei ist hier, aber die wollten gerade gehen. Leg dich ruhig wieder hin.«
Doch Claudia Rombach ließ sich nicht beirren, sondern ging zur Sitzecke und nahm auf einem Sessel Platz. »Warum sind Sie denn hier?«, erkundigte sie sich, »Geht es wieder um Sandra Keller? Wir sind erschüttert darüber, was mit der jungen Frau passiert ist. Es ist ganz schrecklich.«
Claudia Rombach war das Gegenteil ihrer Schwester. Sie wirkte viel älter und sah ziemlich fertig aus, mit eingefallenem Gesicht und tiefen Augenringen. Sie schien auch ziemlich viel abgenommen zu haben, von der etwas rundlichen Figur der Pressefotos war nichts mehr zu sehen. Die Fastenkur zeigte offensichtlich Wirkung, dachte ich.
»Die Herrschaften wollen wissen, wann wir hierhergekommen sind, aber das haben wir ihnen bereits mitgeteilt, wie du dich erinnerst. Deshalb habe ich sie gebeten, zu gehen«, erklärte Kristina Kruse energisch ihrer Schwester, doch diese ignorierte das und fragte: »Was wollen Sie denn wissen?«
Müller wiederholte sein Anliegen, und die Pröpstin wandte sich an ihre Schwester: »Dann erzähle es doch.«
Verächtlich schnaubte diese. »Wenn du meinst.«
Anschließend leierte sie missmutig die Einzelheiten der Anreise herunter, wobei auffallend war, dass sie alle Daten noch genau im Kopf hatte: »Wir nahmen den Zug um 15 Uhr 02 vom Kieler Hauptbahnhof, sind in Elmshorn umgestiegen und kurz nach vier weitergefahren. In Westerland angekommen sind wir 18 Uhr 35, ich kenne die Zeiten natürlich, da ich öfter mit dem Zug zu meinem Haus fahre. Am Bahnhof haben wir uns beeilt und konnten daher gleich in den Bus einsteigen. Gegen halb acht sind wir hier angekommen, Gott sei Dank.«
Die Fahrkarten hatten sie am Automaten gezogen und bar bezahlt, ein Schleswig-Holstein-Ticket für kleines Geld.
»Wir gehören noch zu der Generation, die daran gewöhnt ist, kleine Summen bar zu begleichen, und ich habe die Tickets natürlich nicht aufbewahrt, ich bin doch keine Müllsammelstelle«, erklärte Kristina Kruse hochnäsig.
»Haben Sie auf dem Weg Bekannte getroffen oder sich mit jemandem unterhalten?«
»Nein, wir haben keine Bekannten getroffen, und warum sollten wir uns unterhalten? Der Zug war voller schrecklicher Touristen, ganze Gruppen fielen in die Abteile ein und grölten herum. Ich habe meine Kopfhörer aufgesetzt und Musik gehört und war heilfroh, als wir wieder aussteigen konnten.«
»Sind Sie in der zweiten Klasse gereist?«
Sie verzog den Mund. »Es war die Idee meiner Schwester, das Schleswig-Holstein-Ticket zu nehmen, und das ließ sich leider nicht upgraden. Auf dem Rückweg werde ich darauf bestehen, dass wir in der ersten Klasse fahren. Im Sommer sind die Züge so voll, dass man es sonst kaum aushalten kann.«
Während sie sprach, beobachtete ich die Pröpstin, die wie ein Häufchen Elend auf dem wuchtigen Sessel kauerte. Je mehr ihre Schwester sich aufplusterte, desto mehr sank sie in sich zusammen, irgendetwas stimmte mit dieser Frau nicht.
Das fiel jetzt auch der Kruse auf, die sich sofort bemühte zu erklären, dass sie beide eine Fastenkur gemacht hätten, die ihr glänzend bekommen sei, ihrer Schwester jedoch nicht. Diese hätte zum ersten Mal gefastet und fühle sich jetzt krank und ausgelaugt.
»Das ist sehr schade«, schloss sie das Thema ab, »denn ich glaube an die außerordentlich positive Wirkung des Fastens, aber es verträgt nun mal nicht jeder. Jetzt muss sich Claudia davon erholen.« Sie blickte die Pröpstin an. »Willst du dich nicht wieder hinlegen?«
Gehorsam nickte die Pröpstin und stand auf. »Gut, ich gehe jetzt nach oben, wenn es Ihnen recht ist«, sagte sie an uns gewandt.
»Natürlich ist es ihnen recht, es gibt keinen Grund, dich hier festzuhalten, wenn es dir nicht gut geht«, kam die Kruse uns zuvor, »das wäre ja noch schöner.«
Es schien, als wollte die Schauspielerin ihre Schwester loswerden, und ich fragte mich, warum.
Nachdem die Pröpstin sich zurückgezogen hatte, ließen wir uns von Kristina Kruse noch den weiteren Verlauf des Abends und des nächsten Morgens schildern.
»Wir haben ausgeschlafen, das hatten wir auch nötig nach dieser schrecklichen Bahnfahrt, danach bin ich zum Bäcker und habe Brötchen geholt, unsere letzte richtige Mahlzeit vor der Kur. Da können Sie sich gerne erkundigen. Wenn das jetzt alles ist, ich habe heute noch etwas vor.«
»Wie lange bleiben Sie noch hier?«, fragte ich und erhob mich.
»Wir planen, am Sonntag zurückzufahren. Schließlich müssen wir ab Montag wieder arbeiten.«
Müller sagte eifrig: »Ich habe gelesen, Sie sind die Kommissarin bei einer neuen Netflix-Serie, die in Hamburg spielt.«
Ein kleines Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie erwiderte: »Ja, die Dreharbeiten fangen am Montag an, ich brauchte die Auszeit hier auch, um mich in die Rolle einzuarbeiten.«
»Dann wünsche ich Ihnen viel Glück!«, sagte Müller beim Hinausgehen.
»Diese blöde Zicke, was glaubt die eigentlich?«, schimpfte ich, als wir draußen waren. »Wir hätten ihr viel früher auf den Zahn fühlen müssen. Mit den beiden stimmt was nicht, die Pröpstin stand ja kurz vorm Zusammenbruch.«
»Vielleicht ist sie schwer krank!«, vermutete Müller.
»Nie im Leben, in dem Fall hätte sie nicht einfach so alleine angefangen zu fasten. Schwerkranke fasten höchstens in einer Klinik, wo sie vom Arzt überwacht werden können.«
»Oder sie hat einfach zu lange gefastet, die hing ja wirklich in den Seilen.«
»Es könnte auch sein, dass irgendetwas sie furchtbar belastet. Vielleicht haben die beiden ja doch was mit dem Tod der Keller zu tun.«
Müller runzelte kritisch die Stirn. »Auch wenn die beiden überraschend Sandra Keller im Haus begegnet wären, warum sollten sie diese umbringen? Die beiden Frauen haben doch nichts zu verbergen. Zwei Schwestern im mittleren Alter, die eine geschieden, die andere ledig, eine abgehalfterte Soap-Darstellerin und eine Kirchenfrau. Da gibt es einfach kein Motiv.«
Dazu fiel mir allerdings auch nichts ein, zurück blieb dennoch ein ungutes Gefühl, die beiden Schwestern betreffend.
»Halt bitte mal beim Bäcker an, ich will mit denen reden«, bat ich deshalb Müller.
In dem Geschäft ging ich an einer langen Schlange vorbei zum Verkaufstresen. Böse Blicke folgten mir, aber keiner sagte etwas.
An der Theke zückte ich meinen Ausweis. »Kann ich kurz mit Ihnen sprechen?«
Jetzt wurden die Blicke aufmerksam.
Die Bedienung erwiderte in gebrochenem Deutsch: »Einen Moment, ich holen Chefin«, und diese bat mich ins Hinterzimmer.
»Kennen Sie Frau Kruse?«, fragte ich.
»Klar«, entgegnete sie, »Frau Kruse ist schon seit vielen Jahren Kundin hier.«
»Wann haben Sie sie zuletzt gesehen?«
»Moment, das habe ich doch schon mal einem jungen Mann gesagt, sie war letzten Sonntag hier, Sonntagfrüh, da hat sie wie immer Brötchen geholt. Sie hat mir erzählt, dass sie Samstag mit ihrer Schwester angekommen ist und eine Fastenkur machen würde. Daher würde sie auch die nächsten Tage nicht mehr vorbeikommen. Wir haben noch gescherzt, dass dies die Henkersmahlzeit war, bevor es nichts mehr gab. Nun ja, wer das mag. Nötig hätte sie das Fasten ja nicht, so dünn, wie die ist.« Dabei schaute sie mit einem bedauernden Seufzen auf ihre rundlichen Hüften.
»Können Sie sich noch an die Uhrzeit erinnern, wann Frau Kruse hier war?«
»So gegen zehn, wie immer. Die Frau Kruse schläft gerne aus.«
»Wissen Sie noch, was sie anhatte, und hatte sie etwas dabei, zum Beispiel eine Tasche?«
»Wieso wollen Sie das alles wissen, was ist denn mit Frau Kruse? Die kenne ich schon so lange, eine gute Kundin, und Sie fragen so seltsame Dinge.«
»Reine Routine, das hat nichts zu bedeuten«, beschwichtigte ich sie, was sie mir, ihrem misstrauischen Blick nach zu schließen, mit Sicherheit nicht abnahm.
Dennoch antwortete sie: »Frau Kruse hatte etwas übergezogen, wie immer, wenn sie morgens vor dem Frühstück Brötchen holt, da richtet man sich ja nicht groß her. Sie müssten mal sehen, wie die Leute hier morgens aussehen. Manchmal denkt man, die sind gerade aus dem Bett gefallen.«
»Sie kam also von zu Hause?«
»Wo soll sie denn sonst hergekommen sein?«
»War sie alleine?«
»Ja, sie hat aber erzählt, dass ihre Schwester auch hier ist. Ich habe zu ihr gesagt, da können sie ja gemütlich zusammen frühstücken, und sie meinte, die Schwester deckt schon den Tisch auf der Terrasse, es war ja auch ein schöner Tag, keine einzige Wolke am Himmel.«
Ich bedankte mich. Beim Rausgehen fiel mein Blick auf die große Wanduhr. Wahrscheinlich hatte die Bäckerin die Zeit gut im Blick, man konnte daher davon ausgehen, dass die Schauspielerin tatsächlich um zehn Uhr im Laden war.
Im Auto berichtete ich Müller von dem Gespräch und machte mir Notizen. Anschließend rief ich Amar an und bat ihn, alles über die beiden Frauen zu recherchieren, was er finden konnte. Vielleicht hatten sie ja irgendwelche Altlasten, wer weiß?
Als wir wieder im Revier eintrudelten, lagen die Phantomzeichnungen aus Bochum schon auf Müllers Schreibtisch. Eine Frau in verschiedenen Positionen: Porträt, Profil, Ganzkörperbild von vorne, seitlich und von hinten. Da war einer fleißig gewesen. Neugierig starrten wir auf die Bilder.
»Und, erkennt ihr sie?«, fragte Amar.
Müller neigte beim Betrachten den Kopf. »Das könnte schon die Schauspielerin sein. Was meinst du, Neele?«
»Schon«, bestätigte ich, »aber ehrlich gesagt, es könnte auch die Freudenberg sein, beide sind etwa gleich groß, schlank und wirken elegant. Und dass die eine etwas älter ist, kann man auf die Entfernung und mit der Sonnenbrille und Kappe nicht erkennen.«
»Etwas älter ist gut«, feixte Amar, »die ist Jahrzehnte älter.«
»Quatsch«, verneinte Marieluise, »die ist gerade mal zweiundvierzig. Das habe ich in einem Journal gelesen.«
»Das sind immerhin dreizehn Jahre«, beharrte Amar.
»Sind wir jetzt hier im Kindergarten oder was?«, fragte Müller, bevor er fortfuhr: »Auf alle Fälle bringen uns die Bilder ein gutes Stück weiter. Wir wissen jetzt, dass eine der beiden Frauen wahrscheinlich das Auto der Keller vom Parkplatz geholt hat. Leute, das ist schon mal ein Riesenfortschritt.« Zur Bestätigung schlug er mit der Faust auf den Tisch und sagte: »Jetzt können wir uns auf die beiden Frauen konzentrieren.«
»Oder auf die beiden Gruppen«, ergänzte ich, »Freudenberg und Stiefsohn einerseits, und die beiden Schwestern auf der anderen Seite. Beide Paare geben sich gegenseitig Alibis, das ist das Problem.«
»Ein Motiv gibt es ganz klar bei den von Freudenbergs, bei den Schwestern sehe ich das noch nicht«, warf Amar ein.
»Noch nicht«, sagte ich, »hast du schon was über sie herausgefunden, Amar?«
»Klar doch.« Er schaute auf seinen Computerbildschirm und ratterte die Informationen, die er zusammengestellt hatte, herunter. Darin war er einfach spitze.
»Erst einmal zu der Schauspielerin«, begann er, »Kristina Kruse, geboren 1977 in Kiel, sie ist also tatsächlich zweiundvierzig Jahre alt, der Vater ist Pastor, einundachtzig, und lebt in einem Altersheim in Kiel. Die Mutter ist früh an Krebs verstorben, da war Kristina gerade mal vier. Sie ist bei ihrem Vater aufgewachsen. Nach der Mittleren Reife machte sie zuerst eine Ausbildung zur Krankenschwester, dann ging sie nach München auf die Filmakademie. In die Zeit fiel die erste Ehe mit einem Mitstudenten, die schon nach zwei Jahren wieder geschieden wurde.
Anschließend hat sie eine Weile in München gelebt, später in Köln, wo sie in verschiedenen Soaps mitspielte. Mit dreißig hat sie noch mal geheiratet, und zwar einen Kölner Immobilienmakler. Diesmal hielt die Ehe etwas länger, acht Jahre, bis 2015, keine Kinder.
Nach der Scheidung zog sie nach Hamburg. Sie kaufte sich dort eine Eigentumswohnung, außerdem das Haus in Kampen. Angeblich hat sie bei der Scheidung gut abkassiert.
Doch dann ging es bergab mit ihr. Sie verursachte einen Unfall mit zwei Promille Alkohol im Blut, zum Glück ohne Personenschaden, allerdings hat sie seitdem keinen Führerschein mehr.«
»Jetzt wissen wir auch, weshalb sie mit der Bahn fährt«, höhnte Müller, »obwohl das ja so gar nicht ihrem Niveau entspricht.«
Amar grinste pflichtschuldig. »Danach ist es ruhig um sie geworden. Anscheinend hat sie keinen Film mehr gedreht, es kamen wohl keine Angebote mehr.«
»Gute Arbeit«, lobte ich ihn, »wie hast du das alles so schnell herausgefunden?«
»Sie war ja immerhin so etwas wie ein Promi, sicher kein A-Promi, doch eine Zeit lang war sie häufig in den Klatschblättern.« Er öffnete ein neues Dokument auf seinem Computer und fuhr fort: »Die Schwester ist eine Claudia Rombach, ebenfalls geboren in Kiel, zehn Jahre früher als die Schauspielerin, also 1967, das heißt, sie ist jetzt zweiundfünfzig. Sie war schon vierzehn, als die Mutter gestorben ist, und hat die kleine Schwester quasi mit aufgezogen.«
»Da kann man davon ausgehen, dass die beiden eine enge Bindung zueinander haben«, überlegte ich laut, »die würden sich gegenseitig wahrscheinlich jedes Alibi geben.«
»Kann sein«, meinte Amar und fuhr fort: »Claudia Rombach studierte nach dem Abi Theologie und arbeitete danach als Pastorin in verschiedenen Gemeinden. Geheiratet hat sie nie. In der Kirche hat sie Karriere gemacht, ist zurzeit Pröpstin in Kiel und eine der Kandidatinnen bei der Landesbischofswahl im nächsten Monat. Wenn man den Medien glaubt, sogar die Favoritin.«
»Oha.« Müller pfiff durch die Zähne.
»Die Karriere der anderen, der Kruse, hat auch wieder einen Anlauf genommen. Sie hat nämlich gerade eine der Hauptrollen in einer neuen Netflix-Krimiserie ergattert, der Drehbeginn ist im September.«
»Dann steht bei den beiden ganz schön was an«, sagte Müller, »da darf nichts dazwischenkommen.«
»Wie sollte Sandra Keller den Frauen bei irgendetwas dazwischenkommen?«, fragte ich, denn da fehlte mir jede Idee.
»Vielleicht haben die nicht gefastet, sondern sich irgendwelche Jungs zu Sexspielchen geholt, und die Putzfrau hat sie dabei erwischt?«, schlug Amar vor.
Wir verdrehten die Augen, woraufhin Amar nur mit den Schultern zuckte. »Warum auch nicht?«
»Lasst uns erst mal eine kurze Mittagspause machen«, schlug Müller vor und stand auf, »ich bin gleich wieder da.«
Die anderen ließen sich das nicht zweimal sagen und gingen ebenfalls vor die Tür.
Ich setzte mich an Müllers Besprechungstisch, der mir als Schreibtisch diente, und überlegte. Wenn Kristina Kruse tatsächlich die Frau war, die Sandras Opel vom Parkplatz abgeholt hatte, und das auch noch ohne gültigen Führerschein, dann hatte sie definitiv etwas mit dem Tod der jungen Frau zu tun. Aber was konnte der Grund sein? Welche schrecklichen Geheimnisse konnte Sandra aufgedeckt haben und wie? Das alles war sehr rätselhaft.
In dem Moment klingelte das Festnetztelefon. Die Nummer der Kieler Polizei. Diese Nummer kannte ich sehr gut, denn ich hatte bis vor zwei Jahren dort gearbeitet.
Am Hörer war mein Ex-Verlobter, Hauptkommissar Julian Dirks, die Stimme hätte ich unter Tausenden erkannt. Er mich anscheinend auch, denn er fragte überrascht: »Neele, bist du jetzt auf Sylt?«
»Wir haben einen Fall hier«, erwiderte ich knapp, »um was geht es denn?«
Bloß keine privaten Gespräche, dachte ich.
»Erst mal hallo«, sagte er erfreut, »wie geht es dir so?«
Ich muss gestehen, auch wenn er sich vor zwei Jahren wie ein Schweinehund verhalten hatte und ein paar Wochen vor unserer geplanten Hochzeit zu einer rothaarigen Lehrerin übergelaufen war, so hatte er mir doch im Mai, bei meinem letzten Einsatz auf Sylt, das Leben gerettet. Daher versuchte ich, zumindest höflich zu sein.
»Gut, danke. Und wie geht’s dir?«
»Auch gut.«
»Was kann ich für dich tun?«, fragte ich schnell weiter, bevor wir uns in Plattitüden verloren.
Er wurde sachlich: »Es geht um eine Verdächtige in einem meiner Fälle. Sie hält sich im Moment auf Sylt auf, und ich muss sie dringend vernehmen. Ist Müller noch der Leiter auf Sylt?«
»Ja, aber der ist gerade nicht da. Um wen handelt es sich denn?«
»Sie heißt Claudia Rombach«, erwiderte er.
»Was?«, schrie ich ihm ins Ohr. »Claudia Rombach?«
»Kennst du sie?«, erkundigte er sich verblüfft.
»Sie hat auch mit meinem Fall zu tun. Wessen verdächtigt ihr sie?« Ich konnte es nicht fassen. Aufgeregt trommelte ich auf den Tisch. »Nun sag schon.«
»Unfall mit Todesfolge und Fahrerflucht. Hast du das nicht mitbekommen? Letzte Woche wurde ein siebzehnjähriger Junge auf der Landstraße, die von Molfsee nach Kiel führt, nachts angefahren. Er war auf dem Heimweg von einer Party und starb noch am Unfallort. Der Unfallfahrer ist abgehauen, und es gab keine Zeugen.«
»Nein, habe ich nicht mitgekriegt. Wann war das denn?«
»Samstagnacht, am siebzehnten.«
»Und was hat das mit der Rombach zu tun? Habt ihr die im Verdacht?«, fragte ich aufgeregt nach.
»Folgendes«, erwiderte er, »auf dem T-Shirt des Toten und an seiner Haut befanden sich blaumetallische Lackpartikel, die wir untersucht haben. Leider hat das gedauert, du weißt ja, wie überlastet die Labore sind. Jedenfalls hatten wir dann Glück. Sie stammten eindeutig von einem Fahrzeuglack, und dieser Lack wurde nur für eine einzige Marke eingesetzt, für den Audi A3, Baujahr 2009. Und das auch nur für kurze Zeit, weil das Zeug irgendwelche Macken hatte. Kurz und gut, es gibt in Kiel und Umkreis nur zwanzig Zulassungen mit dieser Lackierung, die haben wir jetzt alle überprüft. Neunzehn Autos konnten wir uns anschauen, die waren sauber, keinerlei frische Unfallspuren. Jetzt fehlt nur noch ein Fahrzeug …«
»Und das gehört Claudia Rombach«, unterbrach ich ihn.
»Genau, das ist die Halterin. Ich habe heute mit ihr telefoniert, sie ist auf Sylt und behauptet, dass sie schon letzten Samstag das Auto auf dem großen Pendlerparkplatz in der Nähe des Bahnhofes abgestellt hat, weil sie mit dem Zug nach Sylt gefahren ist, aber wir haben das schon überprüft, das Auto ist nicht dort.«
»Boah.« Mein ganzer Körper vibrierte vor Spannung. »Sie hat also gelogen.«
»Möglicherweise. Daher rufe ich an. Ich muss wissen, seit wann sie auf der Insel ist.«
»Wart ihr schon in der Wohnung der Rombach?«
»Wir haben uns ihr Haus angeschaut, es ist ein altes Bauernhaus, mit einem Riesengrundstück drumherum, der nächste Nachbar ein halber Kilometer entfernt. Kein Mensch hat irgendetwas gesehen.«
In dem Moment kamen die anderen aus der Pause zurück, und ich gab Julian Bescheid, dass wir uns gleich wieder bei ihm melden würden. Dann berichtete ich den Kollegen die Neuigkeiten.
Anschließend hielten wir eine Konferenzschaltung nach Kiel ab, um das weitere Vorgehen zu besprechen.
Die Frage war: Könnte Claudia Rombach Samstagnacht den Unfall verursacht haben, danach das Auto abgestellt und nach Sylt gefahren sein, so dass sie Sonntag früh im Haus war? Und könnte sie von Sandra Keller, die dort vielleicht schlief, überrascht worden sein?
Das alles machte jetzt eher Sinn. Denn wenn Sandra etwas ausgeplaudert hätte, wäre Rombachs Traum von der Bischöfin für immer geplatzt.
Und ihre Schwester könnte sie unterstützt haben, indem sie Sonntagmorgen zum Bäcker ging und nachmittags das Auto der Toten abholte. Irgendwie passte jetzt alles zusammen, und zwei Fälle wären damit gelöst – eine verführerische Vorstellung für uns wie für die Kieler Kollegen.
Inzwischen hatte Amar auch schon die Abfahrtszeiten der Züge, die Sonntag von Kiel nach Westerland fuhren, überprüft und eine passende Verbindung gefunden.
»Wenn die beiden Frauen um 5 Uhr 02 in Kiel losgefahren sind, konnten sie kurz nach halb zehn in Kampen sein und um zehn beim Bäcker«, sagte er triumphierend. »Sie mussten nur in Elmshorn umsteigen.«
Theoretisch hätte Claudia Rombach also beide Taten begehen können.
»Wenn wir die Handyortung der Pröpstin vom letzten Wochenende haben, wissen wir, wo sie sich aufgehalten hat«, sagte Müller zu den Kielern, »das müsste doch möglich sein.«
»Wir haben schon den Oberstaatsanwalt eingeschaltet, er beantragt eine Funkzellenabfrage beim Amtsrichter. Ich würde sagen, wir melden uns gleich wieder.«
»Dann kann man nur hoffen, dass der Richter nicht den Schwanz einzieht«, brummte Müller.
Doch genau so war es. Wir erhielten keine Genehmigung zur Handyortung der Frauen. Das Argument: Wir könnten nicht beweisen, dass der Audi der Pröpstin an dem Unfall in Kiel beteiligt war. Klar, der Audi war ja wahrscheinlich deshalb nicht auffindbar. Da biss sich die Katze wieder mal in den Schwanz.
Aber der Richter konnte dies entscheiden, so war das eben. Ob seine Weigerung damit zu tun hatte, dass es sich dabei um eine bekannte Schauspielerin und eine künftige Bischöfin handelte, würde ich jetzt nicht unterstellen.
Auf alle Fälle war es sehr ärgerlich.
Also Plan B. Die Kieler beschlossen, eine groß angelegte Suchaktion nach dem metallicblauen Audi der Pröpstin zu starten. Sie würden alle Kameras zwischen dem Molfsee und dem Kieler Hauptbahnhof überprüfen, alle verfügbaren Streifenwagen einsetzen, die Spitzel anzapfen und die Bevölkerung um Mithilfe bitten.
Und wir verschoben die weitere Befragung der Schwestern erst einmal, um das Ergebnis dieser Suchaktion abzuwarten. Auf alle Fälle wollten wir die beiden Frauen in der Zwischenzeit im Auge behalten.
Um Beamte für eine umfassende Observation zu organisieren, blies Müller daher kurzerhand eine geplante Alkoholkontrolle für den nächsten Tag ab, da war er recht pragmatisch.
Den Rest des Tages verbrachten wir am Schreibtisch. Ich schrieb mal wieder einen Bericht an die Staatsanwaltschaft, während Müller sich um seine Leute kümmern musste, die gerade während der Saison jede Menge Straftaten zu bearbeiten hatten: Schließlich werden jährlich fast eintausendfünfhundert Drogendelikte, Einbrüche, Fahrraddiebstähle und Verkehrsvergehen auf unserer idyllischen Insel begangen.
Als ich gegen Abend endlich am Gehen war, klingelte mein Handy. Es war Hans-Peter.
»Bist du schon zu Hause?«, fragte er.
»Gerade auf dem Weg.«
»Dann komme ich bei dir vorbei, ich habe gerade Blumen weggebracht und bin ganz in der Nähe.«
So richtig Lust auf Gesellschaft hatte ich nicht, dennoch sagte ich: »Wenn du früher da bist als ich, setz dich doch einfach in den Garten, ich komme gleich.«
»Alles klar«, erwiderte er bestens gelaunt, »bis gleich.«
Na gut, dachte ich, warum nicht? Ich habe noch eine Pizza im Kühlfach, die können wir uns teilen.
Als ich nach Hause kam, saß er schon im Garten, eine Flasche Wein stand vor ihm auf dem Tisch.
»Hi«, begrüßte ich ihn, »schön, dass du vorbeigekommen bist. Ich schiebe uns eine Pizza in den Ofen.«
»Mach dir ruhig eine, ich esse nichts.«
»Hast du schon was gegessen?«
»Nein.« Er verzog das Gesicht und deutete auf den Ansatz eines Bauches. »Ich muss unbedingt noch etwas abnehmen, deshalb mache ich eine Diät.«
»Aha«, bemerkte ich, ehe ich das Haus aufschloss und in die Küche ging, und Hans-Peter mir mit seiner Weinflasche folgte.
Interessiert beobachtete er, wie ich die Pizza aus der Packung nahm und den Backofen einschaltete, dann suchte er in der Schublade nach einem Korkenzieher. Endlich fand er einen und öffnete zufrieden die Weinflasche.
»Ich mache eine Alkoholdiät«, sagte er dabei.
»Was, du trinkst keinen Wein mehr?«, fragte ich verblüfft, denn das konnte ich mir bei Hans-Peter beim besten Willen nicht vorstellen. »Und warum hast du die Flasche mitgebracht und auch noch gleich geöffnet?«
»Nein, Neele, ich esse abends nichts mehr, stattdessen trinke ich zwei Gläser Wein. Daher habe ich keinen Hunger.«
»O mein Gott.« Ich verdrehte die Augen. Was Vernünftiges hatte ich gar nicht erwartet, aber das?
»Und hast du Erfolg?«, fragte ich.
Er ignorierte die Ironie in meiner Stimme und erklärte stolz: »Ich habe schon zwei Kilo abgenommen.«
Darauf konnte ich nur noch sagen: »Glückwunsch!«
Kurz darauf saßen wir im Garten in der Abendsonne. Es war einfach wunderschön hier. Ich sog die Farbenpracht in mich auf, das Rosa und Azur der explodierenden Hortensien, das satte dunkle Rot der Rosen und die knallgelben Sonnenblumen. Wie ich diesen Garten liebte, der mittlerweile schon etwas verwildert war.
Zufrieden aß ich meine Pizza. Auch Hans-Peter, der seine seltsame Diät doch nicht ganz so ernst nahm, griff sich ein Stück davon.
»Was sagst du eigentlich zu eurem Müller?«, erkundigte er sich plötzlich.
»Was soll ich sagen?« Ich hatte keine Lust, mit Hans-Peter über die Arbeit zu sprechen, daher winkte ich ab. »Ich mag jetzt nicht an den Fall denken, ich brauche eine Pause.«
»Habt ihr immer noch nicht den Mörder von unserer Sandra gefunden? Das dauert ja«, meinte er. »Aber ich habe nicht deinen Fall gemeint. Ich habe von Müller gesprochen. Da redet doch die ganze Insel drüber.«
»Über was redet die ganze Insel?«, fragte ich irritiert.
»Weißt du nicht, was passiert ist?« Hans-Peter genoss augenscheinlich die Rolle des Eingeweihten.
Ungeduldig schnaufte ich. »Sag, was ist passiert? Nun spuck es schon aus! Das nervt jetzt so langsam.«
Bedächtig nahm er einen Schluck seiner Diät, bevor er endlich mit den Neuigkeiten herausrückte: »Da muss ich ein bisschen ausholen. Kennst du den Hilmar Harig, den früheren katholischen Pfarrer von Westerland?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, kenne ich nicht.«
»Der war, wie gesagt, kurze Zeit katholischer Priester, hier in Westerland. Jeder wusste, dass er schwul ist, ab und zu hat man ihn mal in einer Bar gesehen.«
»Ja, und?«, fragte ich nicht übermäßig interessiert.
»Jetzt wart halt ab, ich erzähl es ja. Dann hat er so einen schnuckeligen Typen kennengelernt, aber als katholischer Priester darf er das ja nicht.« Er grinste. »Und dieser Brian war wirklich schnuckelig.«
»Okay, und weiter?«
»Der Hilmar Harig ist einfach konvertiert«, trumpfte Hans-Peter auf, »plötzlich war er kein katholischer Priester mehr, sondern ein evangelischer Pastor, und so konnte er das Schnuckelchen heiraten. Ganz einfach.«
»Ja und, was hat das jetzt mit Müller zu tun?« Langsam wurde das Ganze anstrengend.
»Gleich«, wiegelte er ab, »also der neugebackene evangelische Pastor hat sogar eine Pfarrei in Morsum gekriegt, seinen Brian geheiratet und ist mit ihm ins Pfarrhaus gezogen.«
»Okay«, warf ich ein, »und wenn sie nicht gestorben sind, leben sie noch heute glücklich und …«
»Moment, ich bin noch nicht fertig«, unterbrach er mich, »wo waren wir jetzt? Der Harig wohnte also mit seinem Brian im Pfarrhaus. Und die alten Morsumer mussten sich dran gewöhnen, dass der neue Pastor jetzt ständig von seinem Mann sprach. Toll fanden sie das nicht.«
»Okay, nette Geschichte, aber was hat das mit Müller zu tun?«
Er kicherte. »Das Liebesglück des Pastors dauerte gerade mal ein paar Monate, dann kam dein smarter Müller und hat ihm sein Sahnestückchen ausgespannt. Jetzt sitzt der evangelische Pastor allein in seinem Pfarrhaus und bläst Trübsal. Und Brian ist bei deinem Müller eingezogen.«
»Nein«, sagte ich, »das ist nicht wahr!«
»Das ist gerade das Inselgespräch. Du kriegst ja gar nichts mehr mit. Die Morsumer lachen sich kaputt über den Pastor, den sowieso keiner mochte. Ich glaube nicht, dass der noch lange bleibt.«
»Schau an, der Müller.« Ich war total verblüfft und wußte gar nicht, was ich sagen soll, während Hans-Peter sich diebisch darüber freute, dass er so etwas Interessantes zu erzählen hatte.
»Was macht eigentlich der schöne Brian?«, erkundigte ich mich schließlich.
»Der ist Mathe- und Physiklehrer am Westerländer Gymnasium«, erwiderte er.
Gerade als Hans-Peter aufbrechen wollte, klingelte mein Handy. Sofort setzte sich mein Freund wieder auf die Bank, schließlich wollte er hören, wer jetzt noch anrief.
Es war Julian, und da es sich um die Arbeit handelte, musste ich drangehen.
»Wir haben den Wagen leider noch nicht gefunden«, sagte er, »ich denke, wir sollten die Rombach jetzt in die Zange nehmen. Ich will wissen, ob sie uns anlügt. Daher habe ich mir überlegt, morgen nach Sylt zu kommen, wir sollten die beiden Frauen noch mal in die Mangel nehmen.«
»Wann willst du denn kommen?«, fragte ich.
»Ich fahre früh los und kann um neun im Präsidium sein. Läuft die Bewachung eigentlich noch?«
»Ja.«
»Dann habt ihr sie ja im Auge.«
»Gut, bis morgen«, wollte ich mich verabschieden, aber er sprach weiter: »Und was machst du heute Abend? Bist du im Haus deiner Großmutter?«
Was geht dich das an, sollte ich fragen, doch ich sagte einfach: »Also bis morgen, tschüss.«
»Wer war das denn?«, erkundigte sich Hans-Peter neugierig.
»Arbeit«, war meine knappe Auskunft.
»Hast du immer noch was mit deinem Ex zu tun, dem Bullen aus Kiel?«, fragte er plötzlich.
»Wie kommst du denn darauf?«
»Dein Gesichtsausdruck, der war so ungnädig.«
Ich musste schmunzeln. »So, war er das?«
Er nickte. »Und wie.«
»Okay«, gab ich zu, »das war Julian. Es ging nur um die Arbeit.«
»Aha«, lautete sein Kommentar, und ich räumte den Tisch ab.
Gerade als ich zu Bett gehen wollte, läutete mein Handy wieder. Es war Stefanie. Mein erster Impuls war, das Telefon auf Lautlos zu stellen und wegzulegen, doch irgendein diffuses Pflichtbewusstsein meiner Familie gegenüber ließ mich das Gespräch dennoch annehmen.
»Weißt du, was deine tolle Freundin getan hat?«, schrie sie in den Hörer. »Sie erzählt überall rum, dass Andy es nachts im Restaurant mit den Angestellten treibt. Ihr beide hättet ihn dabei überrascht. Das ist doch unglaublich. Was hast du mit dieser blöden Kuh überhaupt nachts im Restaurant zu suchen? Oder lügt sie nur wie gedruckt? Mit dir habe ich immer nur Ärger …«
Sie war überhaupt nicht zu beruhigen.
Mir lief es heiß und kalt über den Rücken. Das war das Letzte, was ich gewollt hatte, dass die Affäre meines Schwagers auch noch zum Stadtgespräch wurde.
»Wer hat denn so was behauptet?«, fragte ich halbherzig.
»Ich habe eben mit Sabine telefoniert, und die hat mir das erzählt. Sinja hat behauptet, ihr wärt nachts bei Andy im Störtebeker vorbeigegangen und hättet gesehen, wie er mit einer Bedienung rummachte. Ist das nun wahr oder nicht?«
»Na, so ganz stimmt das nicht«, druckste ich herum. »Sie standen zusammen, und Sinja hat das wohl falsch interpretiert.«
»Was heißt falsch interpretiert? Was war da, was haben die gemacht? Und mit wem? Sag mir sofort, wer das war!« Ihre Stimme überschlug sich.
O mein Gott, dachte ich, wie kann ich sie wieder beruhigen?
»Die Sinja war total betrunken«, versuchte ich sie zu besänftigen. »Sie ist ins Störtebeker reingerannt, ich konnte sie nicht mehr zurückhalten, und da stand Andy mit einer Bedienung zusammen.«
»Was heißt hier ›stand zusammen‹? Was haben die gemacht? Sinja hat Sabine erzählt, sie hat ihn beim Poppen erwischt.« Sie brach in Tränen aus. »Und du warst dabei und hast mir kein Wort gesagt. Du bist einfach nur gemein!«
Wenn Sinja jetzt hier wäre, könnte ich ihr gut und gerne den Hals umdrehen. Was konnte sie auch ihre Klappe nicht halten?
»Die haben vielleicht ein bisschen geknutscht, mehr war da nicht«, beeilte ich mich zu sagen.
»Ein bisschen geknutscht, das ist wohl schlimm genug, dieses Schwein. Und ich sitze da mit dem dicken Bauch. O Gott, ich kriege gleich Wehen, aua …« Sie schrie laut und heulte.
»Beruhige dich, ich komme rüber«, sagte ich spontan. »In fünf Minuten bin ich da.«
»Du brauchst nicht zu kommen, ihr seid alle so eklig«, stieß sie hervor, aber ich wiederholte: »Ich bin gleich da, ich lege jetzt auf, bis gleich.«
Schnell zog ich wieder meine Hose über und rannte zum Auto.
Fünf Minuten später klingelte ich bei meiner Schwester.
Es dauerte eine Weile, bis sie die Tür öffnete. Stefanie war völlig aufgelöst. Ihr sonst so perfekt gepflegtes Haar hing strähnig im Gesicht, ihr T-Shirt war feucht von den Tränen, und Schnodder hing in ihrer Nase.
Ich nahm sie einfach in den Arm, und sie ließ sich das gefallen.
Anschließend brachte ich sie ins Bett und wärmte ihr eine Tasse Milch mit Honig. Dabei versuchte ich sie die ganze Zeit zu beruhigen, indem ich pausenlos auf sie einredete.
»Ich spreche mit Sinja, damit sie nicht noch mehr herumtratscht, das verspreche ich dir. Es war alles nicht so schlimm, wie du glaubst, es ist gar nichts passiert. Du musst jetzt an deine Kinder denken, das ist das Allerwichtigste!«
Das Kleine im Bauch bewegte sich schon wie wild, wahrscheinlich spürte es die Erregung ihrer Mutter. Zum Glück war mein Neffe nicht aufgewacht. Er schlief tief und fest in seinem Bettchen, wie ich erleichtert feststellte.
Irgendwann war Stefanie endlich eingeschlafen, und ich machte mich wieder auf den Heimweg.
Nicht ohne vorher Andy anzurufen und ihm zu sagen, was er da angerichtet hatte.
Mit Sinja wollte ich am nächsten Morgen sprechen. Das war mir heute Abend doch zu viel.