Tag 11

Donnerstag, 29. August

Am nächsten Morgen fragte ich Müller, ob in der Nacht alles ruhig war im Haus der Schauspielerin.

»Sie hatte gestern Abend Besuch«, erwiderte Müller, »von einem älteren Ehepaar. Die beiden kamen um, Moment …« Er schaute in seine Unterlagen. »Um halb acht mit einem Porsche mit Kölner Kennzeichen. Um elf sind sie wieder gefahren. Wahrscheinlich hätten wir eine erfolgreiche Alkoholkontrolle durchführen können, aber das war ja nicht der Sinn unserer Überwachung. Ansonsten war nichts. Der Kollege hat übrigens durchs Fenster gesehen, dass sie die ganze Zeit beim Essen saßen, allerdings nur zu dritt, also die Schauspielerin mit dem Besuch. Die Pröpstin war nicht dabei, vielleicht ist sie ja wirklich krank.«

»Vielleicht vor schlechtem Gewissen«, fügte ich hinzu.

Anschließend informierte ich den Kollegen darüber, dass Julian Dirks auf dem Weg nach Sylt war.

»Er will die Rombach zu dem Unfall befragen, da sollte einer von uns dabei sein.«

Müller zog die Brauen hoch. Anscheinend war er etwas irritiert, weil Dirks mir Bescheid gesagt hatte und nicht ihm. Doch er sagte nichts, sondern fragte: »Und was ist mit dem Auto?«

»Die haben es noch nicht gefunden, sind aber noch intensiv bei der Suche, soweit ich weiß.«

»Dann fahr du mit ihm hin, hier ist mal wieder die Hölle los, ich habe keine Zeit.«

Klar, Müller hatte ja nicht nur den Mord an Sandra Keller am Hals, sondern alles, was so auf Sylt passierte, und im Sommer war das nicht wenig.

»Ich glaube, die Befragung der Rombach bringt mehr, wenn ihre Schwester nicht dabei ist. Könnten wir nicht die Kruse als Zeugin hierherbestellen, damit sie nicht zu Hause ist, wenn wir zur Rombach fahren?«

»Meinst du, sie würde kommen?«

»Wenn wir ihr sagen, wir brauchen ihre Zeugenaussage, um die Sache mit dem Auto ihrer Schwester ad acta zu legen, vielleicht schon. Schließlich ist der Wagen der Rombach eventuell in einen tödlichen Unfall verwickelt, da sollte sie schon zur Zeugenaussage bereit sein, um ihre Schwester zu entlasten.«

Während wir noch am Diskutieren waren, rief Julian an, um sein Eintreffen auf vierzehn Uhr zu verschieben.

»Okay«, meinte Müller schließlich, »dann bestelle ich die Schauspielerin um halb drei hierher und nehme ihre Zeugenaussage auf, während ihr zur Rombach fahrt. Hoffen wir, dass es was bringt.«

Danach schaute ich mir zum zigsten Mal unsere Fallunterlagen an. Was hatten wir übersehen, welcher Fehler war uns noch unterlaufen?

Manchmal liegt die Lösung direkt vor der Nase und man guckt die ganze Zeit woanders hin und sieht sie nicht.

Wieder einmal vertiefte ich mich in den Fall und machte mir Notizen. Ich bat Amar, das Gleiche zu tun, daher setzte er sich ebenfalls an seinen Computer.

Zwischendurch rief ich Sinja an und fragte sie, was sie sich dabei gedacht hatte, über unser kleines Intermezzo im Störtebeker zu quatschen, und dann auch noch bei Sabine, die ähnlich funktionierte wie eine Rohrpost. Alles wird weitergegeben, und bei jedem neuen Bericht gewinnt die Information an Brisanz.

»Wie konntest du nur?«, sagte ich in scharfem Ton.

»Ach, mir ist es so rausgerutscht«, jammerte sie, »es tut mir ja leid.«

Von wegen rausgerutscht, dachte ich, da war sicher auch eine kleine Lust am Skandal dabei, dieses Vergnügen, ein bisschen in die heile Welt von Stefanie zu piksen.

»Was soll ich denn jetzt machen? Soll ich Sabine anrufen?«, fragte sie.

Ich überlegte. »Das Kind ist schon in den Brunnen gefallen. Am besten, du redest gar nicht mehr darüber. Und wenn dich jemand danach fragt, sagst du einfach, da war nichts, du weißt von nichts. Dann wird das Ganze bald wieder vergessen sein. Kriegst du das hin?«

»Klar«, sagte sie überzeugt, »und es tut mir wirklich leid.«

»Schon gut.«

Ich legte auf. Was für ein Kram. Ich wollte, wir wären nicht im Störtebeker gewesen, denn es gibt Sachen, die mag man weder sehen noch erfahren.

Bis Mittag war ich mit meinen Überlegungen zu unserem Fall, der jetzt vielleicht mit einem weiteren verknüpft war, keinen Schritt weitergekommen. Es hing alles an dem Auto. Wenn die Kollegen das fanden, würden wir mehr wissen. Ich hoffte bloß, dass es nicht auf dem Grund der Ostsee lag.

Ein Blick auf die Uhr meines Handys zeigte mir, dass ich bis zur Ankunft Dirks’ noch eine gute Stunde hatte. Die würde ich nutzen, um meine Großmutter zu besuchen. Ich sagte den anderen, dass ich eine Pause einlegte, und machte mich auf den Weg zum Altersheim.

Im Heim wurde immer gegen elf gegessen, denn die Mitarbeiter wollten fertig werden und danach selbst in ihre Mittagspause gehen. So saß Oma schon wieder in ihrem Zimmer im Rollstuhl und hörte wie üblich ein Hörbuch.

Es schmerzte mich jedes Mal, wenn ich diesen Raum betrat, der trotz aller Dekoration und persönlicher Attribute wie ein Krankenzimmer wirkte, und sie so dasitzen sah, so klein, zerbrechlich und zusammengesunken in diesem Ungetüm von einem Rollstuhl.

Sie hörte mich nicht hereinkommen, daher zuckte sie zusammen, als ich sie vorsichtig an der Schulter berührte.

In dem Moment, als sie aufblickte, verwandelte ein Strahlen ihr Gesicht. »Schön, dass du kommen konntest. Hast du schon was gegessen?«, rief sie erfreut aus.

Ich hielt die Tüte in meiner Hand hoch und erwiderte: »Komm, lass uns rausgehen, dann können wir zusammen was essen. Wie ich dich kenne, hast du wieder fast den gesamten Mittagstisch zurückgehen lassen.«

»Du weißt ja, ich habe keinen großen Appetit mehr, außerdem schmeckt hier alles nach, nach …« Sie suchte nach Worten und sagte schließlich: »… nach nichts.«

Ich schmunzelte. Dann schob ich ihren Rollstuhl zu einem der Strandkörbe im Garten hinter dem Heim. In der Mittagssonne standen sie alle leer, so konnten wir uns den besten aussuchen.

Anschließend holte ich uns Teller, Wasser und Kaffee aus der Küche und packte die Fischbrötchen aus.

Omas Augen blitzten vor Vergnügen, als sie eins nahm und reinbiss.

Wir genossen unser Mahl schweigend, dann sagte sie: »Das war jetzt mal gut, besser als die Pampe, die man hier meistens kriegt.«

»Ist es so schlimm?«, fragte ich.

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, natürlich nicht, ist schon ganz okay. Aber so ein Essen aus der Großküche schmeckt nun mal nicht wie selbst gekocht, ist doch klar, alles ist ein bisschen matschig. Da sind die Fischbrötchen eine schöne Abwechslung … Übrigens«, fuhr sie gleich fort, »weißt du, wer mich heute früh besucht hat?«

»War Mama da?«

»Nein, heute nicht.«

»Onkel Fiete?«

»Nee, der kommt doch nicht mehr aus seiner Bude, der kann ja kaum noch laufen.«

Ich hatte keine Lust zum Rätseln und sagte: »Dann spuck’s schon aus.«

Sie grinste. »Dein Schwager.«

»Andy?«, staunte ich. »Alleine?«

»Ja«, bestätigte sie, »und das war das erste Mal, dass er mich hier besucht hat. Ich frage mich, ob das etwas mit dem kleinen Zwischenfall zu tun hat, von dem du mir erzählt hast?«

»Und, hast du ihm etwas gesagt?«

»Bin ich blöd? Ich habe natürlich nicht darüber geplaudert.«

»Und, was hat er erzählt?«

»Ach, er hat über das Restaurant gesprochen, dass er zu wenig Leute hat und so viel zu tun und wie sehr er sich über das zweite Kind freut. Es wird ein Mädchen, hat er mir mitgeteilt, was ich schon lange weiß, und dass er es nach mir benennen will. Ich sagte dazu bloß: ›Tut das dem Kind nicht an. Wer will heutzutage schon Enna heißen? Kein Mensch!‹«

»So schlimm ist der Name doch nicht«, meinte ich.

»Na ja, jedenfalls ist er bald wieder gegangen. Ich glaube, er wollte nur herausbekommen, ob ich etwas weiß. Wahrscheinlich geht ihm der Arsch auf Grundeis.« Sie kicherte schadenfroh, denn sie war noch nie ein Fan von Andy gewesen.

Dann quatschten wir ein bisschen über Gott und die Welt, das Heim, die Pfleger, die Mitbewohner, die Ärzte und ihr Häuschen, von dem sie gerne sprach.

Die Zeit verging rasend schnell, und als ich schon am Losgehen war, rief sie mich zurück. »Das hätte ich fast vergessen«, sagte sie, »du kannst etwas für mich tun.«

»Gerne, Oma. Was kann ich denn tun?«

»Da ist doch dieser nette Pfleger, den du mal kennengelernt hast. Der, der mich so schön hergerichtet hat.«

»Ich weiß, Radu aus Rumänien.«

»Genau. Mit dem unterhalte ich mich manchmal. Der kennt sich ja nicht aus hier bei uns im Norden. Und als ich ihm erzählt habe, dass wir nach dem Biikebrennen immer einen Friesengeist trinken, wollte er genau wissen, was das ist. Da habe ich ihm gesagt, du bringst mal einen mit, dann trinken wir den zusammen.«

»Klar, Oma, das müssen wir aber am Abend machen, sonst kann ich nicht mehr arbeiten.«

Friesengeist ist ein Kräuterlikör, den man anzündet, bevor man ihn trinkt. Dazu gibt es einen sinnigen Trinkspruch. Ein Ritual, das sich bei den Friesen, die ja gerne mal ein Schnäpschen trinken, großer Beliebtheit erfreut.

»Diese Woche hat Radu sowieso Spätschicht, da können wir uns schön zusammensetzen«, sagte sie spitzbübisch.

Und ich versprach, beim nächsten Mal ein Fläschchen Friesengeist samt dem passenden Zubehör mitzubringen.

Dirks traf gleichzeitig mit mir im Kommissariat ein. Wie immer sah er unverschämt gut aus, doch das ließ mich mittlerweile kalt, na gut, ziemlich kalt.

Er strahlte mich an. »Schön, dich zu sehen, Neele, du siehst super aus.«

»Danke«, bemerkte ich knapp und ging in Müllers Büro.

»Die Schauspielerin kommt tatsächlich um halb drei her, ihr habt also die Rombach für euch«, begrüßte uns Müller.

»Wie hast du das geschafft?«, wollte ich wissen.

»Was meinst du, wie schnell sie bereit war?«

»Oha«, sagte ich, »das bedeutet, dass sie etwas zu verheimlichen haben. Wenn sie Samstagnacht, als der Unfall in Kiel stattfand, schon hier gewesen wären, könnte sie uns die Funkdaten ihres Handys ohne Probleme abrufen lassen, denn dann wären die beiden ja entlastet.«

»Richtig«, erwiderte Müller, »das wirft kein gutes Licht auf die Schwestern. Ich hoffe, ihr kriegt die Rombach zum Reden!«

Als Julian auf dem Beifahrersitz meines Wagens Platz nahm, versuchte er sich sogleich in Small Talk. »Du hast ja immer noch den Audi«, bemerkte er.

Wortlos nickte ich.

»Ganz schön heiß hier drinnen.«

Wieder ein Nicken meinerseits.

»Sehr gesprächig bist du ja heute nicht gerade.«

Ich zuckte mit der Schulter.

Er gab die Plauderei auf und fragte nach der Rombach: »Wie hast du sie erlebt?«

»Sie wirkte total fertig, als wir bei den Schwestern waren. Sie roch richtig nach Schuldgefühlen. Also mich würde es kein bisschen wundern, wenn sie etwas mit der Sache zu tun hätte. Habt ihr schon die Nachbarn in Kiel gesprochen?«

Julian bejahte das: »Jo, aber die Pröpstin lebt sehr abseits, die Nachbarn, die ja so weit weg wohnen, sehen sie äußerst selten. Doch sie sprechen in den höchsten Tönen von ihr. Sie scheint irre beliebt bei allen.«

»Tja, vielleicht hat sie einfach Pech gehabt mit dem Unfall.«

»Pech ist gut. Der, der wirklich Pech hatte, war der Junge, der nach Hause gegangen ist. Der ist jetzt tot.«

Da hatte er unzweifelhaft recht.

Dann waren wir endlich am Haus der Schauspielerin angelangt. Der Zivilwagen des Kollegen stand im Schatten eines Walnussbaumes in der Nähe. Wir konnten den Beamten nirgends entdecken, doch er hatte uns anscheinend sofort gesehen, denn plötzlich stand er vor uns.

»Na, was ist?«, fragte ich.

»Die Schauspielerin ist vor einer Viertelstunde mit dem Taxi weggefahren, die andere ist noch da.«

»Danke. Du kannst jetzt übrigens kurz weggehen, vielleicht willst du aufs Klo oder einen Kaffee holen, wir sind jetzt eine Zeit lang im Haus.«

»Super«, freute sich der Kollege, »das werde ich glatt ausnutzen.«

Ehe die Pröpstin an die Tür kam, mussten wir eine Weile Sturm läuten. Claudia Rombach sah noch schlimmer aus als beim letzten Besuch, ganz blass und verhärmt, ja, sie wirkte richtig krank.

»Meine Schwester ist nicht da«, sagte sie abwehrend, als sie mich erblickte, »sie ist auf dem Weg zur Polizeiwache in Westerland. Wahrscheinlich ist sie sogar schon dort.«

»Wir wollten nicht zu Ihrer Schwester, sondern zu Ihnen, Frau Rombach«, klärte ich sie freundlich auf. »Das ist mein Kollege, Hauptkommissar Dirks aus Kiel. Dürfen wir eintreten?«

Bei dem Wort »Kiel« war sie zusammengezuckt, aber sie fing sich sofort wieder und entgegnete hastig: »Ja, natürlich.«

Dann bat sie uns in das heimelige Wohnzimmer. Julian staunte nicht schlecht, als er den original friesischen Raum sah.

»Was kann ich für Sie tun?«, fragte die Frau, nachdem wir uns gesetzt hatten.

»Sind Sie krank, Frau Rombach, geht es Ihnen nicht gut?«, erkundigte sich Julian voller Verständnis.

»Alles in Ordnung, danke. Also, was kann ich für Sie tun?«, sagte sie abweisend.

»Wie Sie wissen, befindet sich Ihr Fahrzeug nicht auf dem Parkplatz in der Nähe vom Bahnhof.«

Dirks nahm Fotos aus seiner Tasche und legte sie auf den Tisch.

»Das ist doch der Platz, wo Sie das Auto abgestellt haben?«

»Äh, ja«, antwortete die Pröpstin, »ich verstehe gar nicht, weshalb das Auto nicht mehr da ist.«

»Können Sie mir die Stelle zeigen, wo das Fahrzeug stand?«

Mit diesen Worten reichte ihr Julian einen Stellplan des Parkplatzes. »Wo hatten Sie geparkt?«

Sie zögerte. »Ich habe kein gutes Ortsgedächtnis. Irgendwo da.« Sie tippte mit dem Finger auf die Mitte des Platzes. »Ich habe gar nicht so genau darauf geachtet.«

»Sie wollten doch Ihr Fahrzeug später wiederfinden. Haben Sie vielleicht ein Foto von der Stelle gemacht, wo das Auto stand?«

»Ein Foto?«, fragte sie erstaunt.

»Damit Sie wissen, wo Sie das Auto geparkt hatten.«

»Die Plätze waren doch nicht mit Nummern gekennzeichnet. Das ist einfach ein großer freier Platz, auf dem man kostenlos parken kann.« Sie bemühte sich, ihre Nervosität zu verbergen, was ihr nicht gelang. Sie atmete schnell, und ihre Finger bewegten sich ständig.

»Gut, Sie haben also Ihren Wagen in der Mitte des Platzes abgestellt. Können Sie uns sagen, um wie viel Uhr?«

Die Pröpstin schaute Müller mit großen Augen an. »Um, äh, um, ich weiß gar nicht genau, es war früh.« Sie wurde rot und schüttelte sich. »Früh am Nachmittag, so halb drei.«

In dem Sinne ging die Befragung weiter. Julian wollte wissen, mit welchem Zug sie angereist waren, wann sie ankamen und so weiter. Es fiel der Pröpstin schwer, zu antworten, sie suchte nach Worten und wurde immer fahriger. Wie eine Karrierefrau und zukünftige Bischöfin wirkte sie ganz und gar nicht.

Plötzlich blickte Julian sie ernst an und sagte: »Hat sich das alles nicht ganz anders abgespielt? Sind Sie nicht erst am Sonntagmorgen zum Bahnhof gefahren und haben den Zug um 5 Uhr genommen?« Jetzt beugte er sich vor und wurde lauter: »Sie konnten nämlich erst morgens den Zug nehmen, weil Sie nachts mit Ihrem Auto einen Unfall hatten, einen Unfall, bei dem dieser junge Mann ums Leben kam.«

Mit diesen Worten knallte er ein Foto des Siebzehnjährigen auf den Couchtisch.

»Ja, schauen Sie sich das Opfer an. Ein junger Mann, kurz vor dem Abitur, siebzehn Jahre alt. Ein Junge, der nur nach Hause gelaufen und nun tot ist. Weil ihn ein metallicblauer Audi nachts angefahren hat!«

»Nein«, rief die Pröpstin, »ich habe niemanden angefahren! Was reden Sie da?« Sie zitterte am ganzen Körper.

In dem Moment schellte die Türglocke. Erleichtert erhob sich Claudia Rombach und eilte zur Eingangstür. Wir hörten sie mit jemandem sprechen, konnten aber nichts verstehen. Kurz darauf kam sie mit einem etwa vierzigjährigen Mann mit Priesterkragen zurück.

»Das ist Pastor Harig aus Morsum. Er ist hier, weil wir etwas zu besprechen haben. Darf ich Sie bitten, zu gehen?«

Aha, sie hat jetzt Unterstützung, dachte ich. Harig, das war doch der Mann, von dem Hans-Peter erzählte, Hilmar Harig, dem Müller seine bessere Hälfte ausgespannt hat.

»Wir brauchen noch einen Moment, Pastor«, sagte Julian sehr bestimmt, »wenn Sie bitte draußen kurz warten.« Er deutete auf die Tür, die zum Garten führte, während der Angesprochene ihm einen bösen Blick zuwarf.

»Der Pastor bleibt hier«, sprach die Pröpstin plötzlich mit einem festeren Tonfall, »er kann gerne mithören, was Sie zu sagen haben.«

Sie schaute zu Harig, der ihr mit einem Lächeln zunickte, bevor er neben ihr auf dem Sofa Platz nahm.

Die Befragung war damit mehr oder weniger gelaufen. Wir hatten diese eine Gelegenheit gehabt, bei der die Rombach vielleicht geredet hätte, weil sie dem Druck nicht standhielt und sich erleichtern wollte. Aber die war vorüber.

Danke, Pastor Harig.

Julian versuchte, die Befragung fortzusetzen, doch der Moment der Offenheit war vorbei.

Schließlich gaben wir auf. Bevor wir gingen, zündete Julian allerdings noch ein kleines Bömbchen.

»Was glauben Sie«, sagte er zu der Kirchenfrau, »was werden wir erfahren, wenn wir Ihre Handydaten abfragen? Wo war es Samstag auf Sonntag eingeloggt? In Kiel oder auf Sylt?«

Hier zuckte die Pröpstin vor Schreck so zusammen, dass es fast wie ein Geständnis wirkte.

Leider fing sie sich sofort wieder und forderte uns auf zu gehen.

»Wir werden Sie informieren, sobald Ihr Wagen gefunden ist«, sagte ich freundlich, »bis bald.«

Energisch schloss sie die Tür hinter uns.

Als wir zum Auto gingen, hielt ein Taxi vor dem Haus. Kristina Kruse war von Westerland zurück und stieg gerade aus.

Wie eine Furie kam sie auf uns zu. »Was haben Sie hier gemacht?« Sie schaltete schnell: »Aha, deshalb sollte ich unbedingt zum Revier kommen, damit Sie in der Zwischenzeit meine kranke Schwester belästigen können. Ich werde mich über Sie beschweren, das können Sie mir glauben!«

Wir lächelten ihr freundlich zu und stiegen in den Audi.

»So ein Ärger«, schimpfte Julian, als wir losfuhren, »die Rombach war kurz davor zu gestehen. Und dann kam dieser blöde Pfaffe, das darf doch nicht wahr sein.« Er griff nach seinem Mobiltelefon und wählte eine Nummer. »Habt ihr was?«, hörte ich ihn fragen. »Nein, schon gut, bleibt dran.« Er legte wieder auf.

»Kein Auto?«, erkundigte ich mich.

»Nein, kein Auto. Wenn wir das Unfallfahrzeug nicht finden, müssen wir an die Handydaten der Rombach rankommen, dann haben wir sie«, stieß er hervor.

»Fragt sich nur wie«, murmelte ich, »wenn der Richter nicht mitspielt.«

Der Rest der Fahrt verlief schweigend.

Im Büro hielt Müller einen Ausdruck hoch.

»Hier, die Zeugenaussage der Kruse. Die gute Frau beschwört, dass sie mit ihrer Schwester Samstagabend auf der Insel angekommen ist und das Fahrzeug mittags auf dem Parkplatz abgestellt hat.«

Er machte eine kurze Pause, bevor er fortfuhr: »Übrigens, es gibt Neuigkeiten zu unserer zweiten Verdächtigen. Tanja von Freudenberg ist an die Öffentlichkeit gegangen und hat ihren Macker angezeigt und ein Interview gegeben.«

Er winkte uns zu seinem Computerbildschirm.

Ich las vor: »›Hat ihr Mann sie verprügelt? Die Frau des Baulöwen packt aus.‹«

Dazu wurde eine Nahaufnahme der geröteten und leicht geschwollenen Wange der jungen Frau gezeigt.

»Nein!«, rief ich laut aus.

Amar und Marieluise kamen ebenfalls näher.

»Was ist los? Gibt’s Neuigkeiten?«

Ich deutete auf die Website.

»Jesses«, meinte Amar, »da will sich wohl jemand rächen.«

»Der hat sie verprügelt«, stellte Marieluise entsetzt fest, »so ein fieser Typ, dabei sieht er so harmlos aus.«

»Vielleicht ist er ausgerastet. Geht natürlich gar nicht, aber irgendwie muss ich sagen, schön ist das ja nicht, was der erlebt hat, die Frau und der Sohn …«

»Du willst den wohl nicht in Schutz nehmen«, empörte sich Marieluise.

»Natürlich nicht«, beeilte sich Amar zu sagen.

Ich überflog den Artikel.

Tanja von Freudenberg beklagte sich über das eintönige und freudlose Leben an der Seite des Macho-Bauunternehmers. Er hätte sie in die Arme des jungen Mannes getrieben. Natürlich bereue sie die Affäre, die eigentlich gar keine gewesen sei, nur eine kleine, einmalige Schwäche, die jedem mal passieren könne, aber ihr Mann, bald Ex-Mann, habe sie gequält und schließlich verprügelt, als er davon erfahren hatte.

Jetzt verlangte sie eine Entschädigung von ihm und Schmerzensgeld.

Na dann, viel Erfolg, dachte ich. Jeder muss sehen, wo er bleibt, so läuft das nun mal.

»Wenn sie schuldig wäre, würde sie nicht so einen Aufriss veranstalten«, sagte ich laut, »ich kann mir nach dem Auftritt nicht vorstellen, dass sie etwas mit dem Tod Sandras zu tun hat.«

»Aha, ist das auch eine eurer Verdächtigen?«, fragte Julian.

»Schon«, erwiderte Müller, »es war sogar bisher unsere Hauptverdächtige.«

Er schilderte dem Kieler kurz unseren Fall.

Dann überlegten wir noch, was wir im Hinblick auf die beiden Schwestern unternehmen konnten, und kamen schließlich überein, bis morgen abzuwarten, ob man das Fahrzeug fand. Morgen war Freitag, da würde Julian noch mal jeden verfügbaren Mann darauf ansetzen. »Natürlich auch jede Frau«, meinte er mit Blick auf Marieluise, die Julian mal wieder ungeniert anhimmelte.

Gut, dass Amar das nicht mehr zu stören schien. Er hatte das Thema Marieluise anscheinend tatsächlich ad acta gelegt.

Julian machte sich dann auf den Weg zum Bahnhof, und ich schrieb einen weiteren Bericht für die Staatsanwaltschaft.

Anschließend telefonierte ich mit Kriminalrätin Husfeld, der Stellvertreterin meines Chefs Dr. Schütz, der sich zum Glück immer noch in Urlaub befand.

Sie wollte wissen, wann wir endlich Ergebnisse liefern würden, und ich berichtete ihr, dass wir kurz vor dem Durchbruch standen.

»Auf alle Fälle sind Sie Montag wieder in Flensburg«, beschied sie mir, »hoffentlich mit einem Ergebnis.«

Selbstverständlich, Frau Husfeld, dachte ich. Langsam, aber sicher wurde die gute Frau zum Klon von Dr. Schütz, Gratulation.

An diesem Abend hatte ich nichts vor. Ich wollte nur eine Lasagne in den Backofen schieben und mich in den Garten setzen. Irgendwie war ich ziemlich trübsinniger Stimmung, was mir immer dann passierte, wenn die Ermittlungen nicht zum Ende kamen.

Wir waren uns mittlerweile alle einig, dass die Rombach nicht nur den Unfall verursacht, sondern auch den Totschlag an Sandra verübt hatte. Aber ohne die Handydaten, ohne das Auto, ohne Geständnis hatten wir nichts in der Hand. Also hieß es abwarten. Und das war ungefähr das, was mir am meisten lag.

Außerdem bedrückte mich die Sache mit meiner Schwester. Sie hatte sich seit dem gestrigen Abend nicht mehr gemeldet, und ich fragte mich, was jetzt wohl los war im Hause Eriksson.

So schäbig ich das Verhalten meines Schwagers auch fand, ich war mir nicht sicher, ob es gut wäre, wenn Stefanie sich von ihm trennte. Gerade jetzt, kurz vor der Geburt ihres zweiten Kindes. Stefanie war ein schwieriger Mensch, und es gab sicher wenige Männer, die mit ihr klarkommen würden. Andererseits konnte es auch nicht gut sein, wenn sie ihm alles verzieh.

Ich mochte gar nicht darüber nachdenken, denn ich hatte eigentlich keine Ahnung, was gut für meine Schwester war. Das musste sie schon selbst herausfinden. Ich ärgerte mich nur, dass Sinja und ich das ganze Desaster ausgelöst hatten.

Vergiss es, sagte ich mir, du kannst sowieso nichts daran ändern. Der Blick auf den Garten erinnerte mich daran, dass es einige Tage schon nicht geregnet hatte. Bevor alles vertrocknete, sollte ich mal dringend gießen. Hannes, ein Nachbar und Freund meiner Oma, der es sich nicht nehmen ließ, immer noch ihren Garten zu pflegen, war länger nicht da gewesen. Er war auch schon fast achtzig und konnte nicht mehr so, wie er wollte. Wahrscheinlich machte ihm die Hitze zu schaffen.

So warf ich den Schlauch aus und wässerte den Garten, bevor ich endlich mit meiner Lasagne auf meinem Lieblingsplatz zum gemütlichen Teil des Abends kommen konnte.

Wie immer übte der verwunschene Garten eine nahezu euphorisierende Wirkung auf mich aus. Die Sonne und die Lasagne taten ihr Übriges, so dass ich ganz zufrieden auf Omas – jetzt meiner – Bank saß.

Plötzlich hörte ich Gitarrenklänge. Da spielte wohl jemand in der Nähe auf seiner Klampfe, es klang gar nicht schlecht. Den Song kannte ich doch von irgendwoher, mir fiel allerdings nicht ein, von wem er war.

Dann hörte ich eine Stimme. »If I could turn back time …«

Verdammt, das war … Ich glaubte es nicht, das war eindeutig Mats’ Stimme.

Ich lief ums Haus, und tatsächlich stand er vor der Tür und sang.

War der Typ noch ganz dicht? Sollten das etwa alle Nachbarn hören?

Unwirsch packte ich ihn am Arm, damit er aufhörte. »Sonst geht’s noch?«, stieß ich hervor.

Er lächelte mich bloß an und meinte: »Schön, dich zu sehen.«

Mittlerweile schaute auch schon die erste Nachbarin aus der Tür und rief: »Schöne Musik, Frau Eriksson, nicht wahr?«

Ich gab Mats ein Zeichen, mir in den Garten zu folgen, was er sich nicht zweimal sagen ließ.

»Was ist denn in dich gefahren?«, fuhr ich ihn an. »Bist du jetzt unter die Minnesänger gegangen?«

»Ich dachte, wenn du nicht mit mir reden magst, probiere ich es mal auf meine Weise.«

Obwohl ich so ungehalten reagierte, berührte mich sein Auftritt. Der Einsatz, den er an den Tag legte, um mich wieder zu umwerben, ließ mich nicht kalt, und mein Widerstand zeigte die ersten Risse.

Obwohl ich ihn noch skeptisch anschaute, bot ich ihm etwas zu trinken an.

»Gerne«, erwiderte er erfreut und setzte sich an den Tisch.

Jetzt brauchte ich auch einen Schluck Wein, daher holte ich die Flasche, die ich bei meinem letzten Großeinkauf mitgebracht hatte.

Und was soll ich sagen, ich wurde schwach. Wir redeten lange und kamen uns langsam wieder näher.

Was soll’s, dachte ich schließlich, ich will ihn ja nicht heiraten. Es ist einfach ein bisschen Spaß, mehr nicht. Und so teilte ich letztendlich Omas Ehebett für diese eine Nacht mit ihm, es war ja groß genug.

Julians Anruf ignorierte ich. Egal, was er wollte, es gab nichts, was nicht bis morgen früh warten konnte.