Schon als ich Müllers Büro betrat, spürte ich, dass sich etwas getan hatte.
»Dirks hat mich heute Nacht angerufen, die haben den Wagen«, verkündete er, »eine Streife hat ihn heute Nacht in Kiel-Mettenhof entdeckt. Er ist schon abgeschleppt worden.«
Der Stadtteil war mir aus meiner Zeit bei der Kieler Polizei wohlbekannt, denn er gehörte zu den sozialen Brennpunkten von Kiel.
»Die Unfallsachverständigen sind schon benachrichtigt, sie werden gleich den Wagen untersuchen, ich denke, bis Mittag wissen wir mehr.«
»Super«, freute ich mich, »scheint ja endlich vorwärtszugehen.«
»Schauen wir mal, was die herausfinden. Ich wette, es handelt sich um den Unfallwagen.«
Wieder konnte ich nur zustimmen. Dann erkundigte ich mich, ob es etwas Neues aus Kampen gab.
Er schüttelte den Kopf. »Nada. Also, lange können wir die Observation wirklich nicht mehr aufrechterhalten, ich brauche meine Leute hier!«
»Lass uns noch abwarten, wir werden ja in den nächsten Stunden mehr wissen.«
Und tatsächlich, zwei Stunden später hatten wir die Gewissheit. Der metallicblaue Audi, zugelassen auf die Pröpstin, war eindeutig das Fahrzeug, das in den tödlichen Unfall des Siebzehnjährigen involviert war, das hatte die Analyse der Spezialisten mittlerweile ergeben, auch wenn sie noch nicht abgeschlossen war. Die Einbeulungen auf der Motorhaube ließen sich eindeutig dem aufprallenden Körper des Jungen zuordnen.
Damit hatten die Kieler zumindest den Unfallwagen. Jetzt ging es nur noch um die Frage, wer ihn gefahren hatte.
Gespannt warteten wir auf die Ergebnisse des Labors. Bei 14000 Untersuchungsaufträgen pro Jahr konnte man sich vorstellen, dass es normalerweise Tage bis Wochen dauerte, bis die Auswertung der Spuren eines Wagens abgeschlossen war, aber Julian hatte offensichtlich sehr gute Beziehungen zum kriminaltechnischen Institut. Er war sich sicher, uns spätestens morgen Ergebnisse zu liefern.
»Was meint ihr, wollen wir erst mal abwarten, bis wir mehr wissen?«, fragte Müller in die Runde.
»Eines ist klar«, überlegte ich, »der Wagen der Pröpstin wurde nicht da gefunden, wo er angeblich abgestellt wurde, sondern in einem der Problemviertel. Mettenhof hat die höchste Kriminalität, die meisten Junkies und den größten Anteil an Sozialhilfeempfängern in Kiel.« Davon konnte ich ein Liedchen singen, denn vor Jahren, als ich bei der Polizei in Kiel angefangen hatte, war ich selbst dort auf Streife gewesen. »Wenn ich ein Auto loswerden wollte, würde ich es einfach in Mettenhof abstellen und nicht abschließen. Da bleibt es keine fünf Minuten.«
»Du meinst, die Pröpstin hat ihn selber dort abgestellt? Traust du der solch eine kriminelle Energie zu?«, gab Müller zu bedenken.
»In der Not frisst der Teufel Fliegen«, meinte Amar, »und wenn einer die eigene Haut retten will, kann jeder zum Verbrecher werden.«
»Das stimmt!« Marieluise nickte.
»Für diese Theorie spricht auch, dass die Rombach so fertig war«, argumentierte ich, »ihr hättet sie mal gestern sehen sollen. Sie war ein einziges Nervenbündel.«
»Gut, dann fahren wir nochmals zu ihr hin und konfrontieren sie mit der neuen Situation.«
Auf Marieluises Platz auf dem Flur klingelte das Telefon, und sie ging eilig raus. Kurz darauf kam sie zurück.
»Das war Hinrich Düsterbrok, der von der Bewachung. Die Schauspielerin ist gerade von dem gleichen Ehepaar abgeholt worden, das vorgestern zum Essen dort war. Alle waren in Weiß, und sie haben Picknickkörbe ins Auto geschleppt. Ich wette, die gehen zum White Dinner.«
»Ach stimmt«, Müller schlug sich an die Stirn, »das ist ja jetzt wieder.«
»Was ist mit der Pröpstin?«
»Die war nicht dabei.«
Das White Dinner am Roten Kliff war ein jährlich wiederkehrendes Sommerevent in Kampen. Man zog sich weiße Klamotten an, packte sein Essen und sein Geschirr in einen stilgerechten Picknickkorb und vergaß auch nicht, Gläser, Kühler und vor allem Wein- und Sektflaschen einzupacken. Dann nahm man an einer 180 Meter langen Dinner-Tafel am Strand Platz.
Ich hatte da noch nie mitgemacht, weil es mich gruselte, den ganzen Abend mit fremden Leuten am Tisch Wein zu trinken und Nichtigkeiten auszutauschen, aber ich kannte viele, die jedes Jahr begeistert hingingen.
»Die Pröpstin ist also alleine.« Müller schaute mich an. »Du hast recht, lass uns mal hinfahren und sie in die Mangel nehmen. Einmal muss dieser Fall ja ein Ende haben.«
In Kampen bewegte sich eine ganze Prozession weiß gekleideter Menschen Richtung Strand. Sie wirkten wie die Mitglieder einer Sekte, die zum Nirwana strebten.
Wir parkten auf dem gleichen Platz wie gestern und winkten dem Kollegen von der Überwachung zu, dann klingelten wir.
Kein Mensch öffnete. Wir probierten es wieder und wieder, doch im Haus blieb es ruhig. Nichts bewegte sich, kein Geräusch war zu hören. Ich ging zurück auf die Straße und suchte Düsterbrok auf.
»Moin, Kollege.« Ich stellte mich vor. »Ist es möglich, dass Frau Rombach weggegangen ist?«
Er schüttelte den Kopf. »Das hätte ich mitbekommen.«
»Wann hast du sie zuletzt gesehen?«
»Heute Morgen, da war sie im Garten.«
Ich kehrte zurück zur Haustür, wo Müller wartete.
Wir gingen ums Haus, vielleicht war ja die Terrassentür geöffnet.
Nein, alles war geschlossen. Durch die Fenster konnte man Blicke ins Wohnzimmer und in die Küche erhaschen, doch nirgendwo ein Lebenszeichen.
»Meinst du, sie schläft?«, fragte ich Müller.
»Keine Ahnung, woher soll ich das wissen?«, erwiderte er.
Wir klingelten nochmals und riefen ihren Namen – nichts war zu hören.
»Sollen wir wieder los?«
Ich schüttelte den Kopf. »Lass uns reingehen!« Ich hatte ein ganz ungutes Gefühl.
Er zögerte. »Meinst du wirklich?«
»Die war so fertig gestern, lass uns nachschauen, ob alles in Ordnung ist.«
»Na gut.« Müller zückte sein Portemonnaie und nahm eine Kreditkarte heraus, mit der er in Sekundenschnelle die Haustür öffnete.
»Frau Rombach, ist alles in Ordnung?«, rief ich beim Reingehen.
Keine Antwort.
»Wenn sie schläft, hat sie vielleicht ein Schlafmittel genommen«, bemerkte Müller.
Im Erdgeschoss war niemand, daher ging ich die Treppe hoch. Müller folgte mir.
Die Tür zu einem der Zimmer stand offen, aber es war leer. Wir schauten uns kurz um. Es war offensichtlich das Gästezimmer, in dem die Pröpstin übernachtete, denn auf dem Nachttisch lag eine Bibel, und auf dem kleinen Schreibtisch vor dem Fenster befanden sich verschiedene kirchliche Magazine.
Wir öffneten die nächste Tür, das Schlafzimmer der Hausherrin, ebenfalls leer. Es war recht mondän ausgestattet, mit einem riesengroßen Boxspringbett, einer weißen Schrankwand und einem überdimensionierten Schminktisch, beladen mit allem, was Douglas so zu bieten hatte.
Als ich die nächste Tür öffnete, blieb mir das Herz stehen.
»Micha, schnell, komm her!«, schrie ich.
Die Pröpstin lag bleich und leblos in der Badewanne, in rötlich braun gefärbtem Badewasser. Unverkennbar der metallische Blutgeruch.
Wir rannten zu ihr. Da war nichts mehr zu machen. Kein Puls zu spüren, die Pröpstin war noch warm, aber mausetot.
»Oh nein!«, stieß Müller hervor. »Das muss gerade passiert sein.«
Ich schaute automatisch auf die Uhr, es war 17 Uhr 55, und wählte anschließend die Nummer des Präsidiums, um Marieluise zu informieren, damit sie alles in die Wege leiten konnte.
Wir hatten noch nicht mal Handschuhe dabei, daher blieb uns nichts übrig, als auf die Kollegen zu warten.
Wasser aus der Badewanne war auch auf die Bodenfliesen des Badezimmers geschwappt, und an der Wand hinter der Wanne befanden sich Blutspritzer, sie hatte sich vermutlich in der Wanne die Adern aufgeschnitten. Man konnte jedoch keine Schnittverletzungen sehen, da die Arme unter dem rötlich-braunen Wasser waren. Die Augen waren geschlossen und der Kopf halb unter Wasser gesunken.
Es gab keinerlei Spuren eines Kampfes, das große Badezimmer war bis auf die Blutspritzer ordentlich und sauber. Ein weißer Frotteebademantel hing an einem Haken an der Tür, vielleicht hatte sie den aufgehängt, bevor sie in die Wanne stieg.
Ich zupfte ein Kosmetiktuch aus einer Box und inspizierte den Spiegelschrank und die Schubladen einer Kommode. Möglicherweise hatte sie Schlaftabletten genommen, das machte ungefähr die Hälfte aller Selbstmörder, die sich mit Schnittverletzungen töteten.
Im Schrank befand sich eine ansehnliche Tablettensammlung, unter anderem auch Tranquilizer, Barbiturate und starke Schlaftabletten. Die Schauspielerin brauchte anscheinend einiges an chemischer Hilfe, um sich zu beruhigen. Vorsichtig schloss ich die Spiegeltür wieder, darum würden sich die Kollegen kümmern müssen.
Der metallische Blutgeruch stieg mir mittlerweile immer aufdringlicher in die Nase, und ich ging ins Schlafzimmer der Pröpstin, wo sich Müller schon umschaute.
»Hast du was entdeckt?«, fragte ich. »Einen Abschiedsbrief, irgendetwas Schriftliches?«
Er schüttelte den Kopf. »Nichts!«
»Wie sieht es mit Tabletten aus?«
»Negativ. Die Pröpstin hat nur Aspirin im Nachttischchen.«
»Drüben im Bad sieht es anders aus. Die Schauspielerin ist bestens ausgestattet mit Medikamenten aller Art.«
Ich ließ Müller das Zimmer inspizieren und ging runter zum Eingang. Vielleicht war der Arzt schon im Anmarsch. Und tatsächlich, er kam gerade an die Tür, als ich sie öffnete, Dr. Swokan, ein praktischer Arzt aus Wenningstedt, ich kannte ihn noch von früher, als ich hier lebte.
»Sie schon wieder?«, begrüßte er mich. »Jedes Mal, wenn Sie auf der Insel auftauchen, gibt es eine Leiche.«
Was sollte man darauf schon antworten? Ich zeigte nur die Treppe hoch, und er ging schnellen Schrittes weiter.
Ich hörte Dr. Swokan fluchen. Das ist auch eine Möglichkeit, mit seinen Emotionen klarzukommen, wenn man mit schrecklichen Ereignissen konfrontiert wird. Denn es lässt keinen kalt, wenn er einen Menschen sieht, der gerade aus dem Leben gerissen worden ist, egal wie oft er das schon erlebt hat.
Jetzt rief er nach mir. Er war gerade dabei, den Totenschein auszufüllen. Als er mich sah, wandte er sich um und schnaufte.
»Sie ist noch nicht lange tot, eine halbe Stunde vielleicht, und es weist alles auf einen Suizid hin. Sie hat ein Küchenmesser benutzt, es liegt auf dem Boden der Wanne. Haben Sie schon die Rechtsmedizin informiert?«
Das bestätigte ich. »Die Kollegen sind schon unterwegs.«
Er reichte mir die Unterlagen. »Hier ist der Totenschein. Weiter ist für mich nichts zu tun. Auf Wiedersehen, das heißt wiedersehen möchte ich Sie nicht so schnell, wenn Sie mir jedes Mal einen Toten liefern.«
Und schon marschierte er mit eiligen Schritten die Treppe runter. Ich folgte ihm.
Plötzlich fiel mir ein, dass ich Julian informieren musste. Schließlich war die Rombach auch die Verdächtige in seinem Fall.
»Die Pröpstin ist tot«, fiel ich sofort mit der Tür ins Haus. Dann berichtete ich, wie wir sie gefunden hatten.
»Sie ist demnach tatsächlich die Täterin«, erwiderte er ernst.
»Sieht so aus.«
»Mmh«, brummte er, »ich melde mich, sobald ich Ergebnisse vom KTI habe.« Damit meinte er das kriminaltechnische Institut, das den Wagen der Pröpstin untersuchte.
In dem Moment kam Müller auf mich zu, mit einem Mobiltelefon und einem Laptop.
»Die Sachen gehören offensichtlich der Pröpstin, sie waren in ihrem Zimmer. Ich nehme sie mit ins Kommissariat, damit Amar sie anschauen kann.«
»Willst du schon zurückfahren?«, fragte ich ihn erstaunt.
»Es kann dauern, bis die Spurensicherung da ist. Wahrscheinlich kommen sie mit dem letzten Autozug. Es reicht, wenn einer von uns hierbleibt. Ich muss im Büro noch ein paar Sachen erledigen«, meinte er, »anschließend komme ich zurück.«
Ich war einverstanden. Die Kriminaltechniker mussten auf alle Fälle kommen, auch wenn es ein Suizid war. Denn die Pröpstin war jetzt die Hauptverdächtige in unserem Mordfall. Daher suchten wir hier jetzt ebenfalls nach Spuren in Bezug auf den Tod Sandra Kellers.
Müller hatte anscheinend denselben Gedanken, denn er sagte: »Ich versuche, auch einen Leichenspürhund zu organisieren. Mal sehen, ob das so kurzfristig klappt.«
Vielleicht kamen wir ja heute ein Stück weiter. Wenn Sandra Keller hier gestorben war, würden wir Blutspuren finden. Schließlich hatte man ihr eine stark blutende Kopfwunde zugefügt.
Auch einer Funkzellenabfrage des Handys der Pröpstin stand nun nichts mehr im Wege, darum würde sich Müller sofort im Kommissariat kümmern. Außerdem musste er den Oberstaatsanwalt informieren und mit ihm die nächsten Schritte besprechen.
»Und was machen wir mit der Schauspielerin?«, fragte Müller noch, bevor er losfuhr, »die ist jetzt wahrscheinlich noch beim White Dinner.«
»Wir werden sie auf keinen Fall dort suchen«, meinte ich, »wir fangen sie ab, wenn sie nach Hause kommt. Dann können wir auch gleich ihre beiden Freunde festhalten, die sie abgeholt haben. Die werden sie wohl wieder im Auto heimbringen. Mit denen müssen wir dringend ebenfalls sprechen.«
Nachdem Müller weggefahren war, kamen zwei Kollegen von der Schutzpolizei, daher konnte ich Schutzkleidung und Handschuhe überziehen. Jetzt hatte ich Zeit, mich in Ruhe umzusehen. Das Schlafzimmer der Pröpstin strahlte Wärme und Freundlichkeit aus. Es war ein behaglicher Raum mit grau gestreifter Tapete, zartgelb gemusterten Vorhängen, einer Tagesdecke aus dem gleichen Stoff und weißen Möbeln.
Allerdings wies nicht viel darauf hin, dass die Rombach hier immerhin fast zwei Wochen verbracht hatte. Außer der Bibel und den Zeitschriften lag nichts Persönliches herum. Den Laptop und das Handy hatte Müller ja mitgenommen. Ich öffnete die Schublade des Nachttischs, die allerdings leer war. In der Kommode war die Wäsche der Pröpstin fein säuberlich aufgeschichtet, es war nicht besonders viel. Im Schrank hingen zwei Blusen und zwei Sommerkleider. Außerdem lagen mehrere T-Shirts und Hosen in einem Fach. Der Koffer, den sie neben dem Schrank abgestellt hatte, war komplett leer.
Ihre Handtasche hing an einem Haken an der Tür. Sie enthielt ein Portemonnaie mit etwas Geld, Kreditkarten, den Personalausweis der Pröpstin sowie einen Kirchenausweis. Interessant war ein kleines Adressbuch mit jeder Menge Telefonnummern, alle in einer ordentlichen Schrift notiert. Beim Durchsehen entdeckte ich nichts Auffälliges, es gab keinerlei persönliche Notizen. Ich steckte das Büchlein in eine Beweistüte, da konnte sich Amar mit vergnügen.
Anschließend suchte ich sorgfältig alle möglichen Verstecke durch. Es wäre so schön, wenn wir ein Tagebuch oder irgendwelche schriftlichen Notizen zu den letzten beiden Wochen finden würden, aber ich fand nichts. Keinerlei Aufzeichnungen, keinerlei Kleinigkeiten, die die Persönlichkeit der Pastorin spiegelten, der Raum wirkte wie ein komfortables Hotelzimmer der gehobenen Kategorie.
Seltsamerweise entdeckte ich auch außer ein paar Kopfschmerztabletten keinerlei Pillen.
Anschließend ging ich in das Schlafzimmer der Hausherrin, sie war schließlich noch nicht da.
Dieses Zimmer war fast doppelt so groß wie das Gästezimmer und sehr luxuriös ausgestattet. Neben dem überdimensionierten Bett gab es auch eine kleine Couch mit Couchtisch, auf dem Zeitschriften und Bücher lagen. Ich nahm sie in die Hand, es waren Modezeitschriften und Romane, die man aus den Bestsellerlisten kannte. Außerdem ein aufgeschlagenes Drehbuch – Kristina Kruse war anscheinend dabei, für ihre neue Rolle in der Netflix-Serie zu lernen. Ich nahm es in die Hand und las:
Jonas:
Warum haben Sie das getan? Das hat mich sehr verletzt!
Clarissa:
(schmeichelnd)
Das haben Sie falsch verstanden, Jonas, das wollte ich nicht.
Sie geht einen Schritt auf ihn zu und greift nach seinen Händen.
Und so weiter und so fort. Ich legte das Skript zurück auf den Tisch und schaute auf die Schrankwand.
Der Schrank war wirklich groß, sicher fünf oder sechs Meter lang, und hatte weiße Lammellentüren, die ich nacheinander öffnete. Für ein Ferienhaus enthielt es nicht wenige Kleidungsstücke, zumindest mehr, als ich überhaupt besaß. Hosen, Röcke, Kleider, Pullover, Jacken, alles farblich sortiert. In einem Schrank lag ein Ordner, den ich durchblätterte, Dokumente zum Haus, Adressen von Dienstleistern. In dem Fach darüber entdeckte ich ein paar Briefe und Postkarten. Auch die schaute ich mir genauer an, doch das interessierte mich nicht Urlaubsgrüße, Rechnungen, Einladungen zu Vernissagen. Darunter auch ein Angebot einer Klinik für plastische Chirurgie in Hamburg, ein komplettes Facelifting für gesalzene 14.350 Euro plus Mehrwertsteuer. Oh, là, là! Auf dem Angebot hatte man handschriftlich eine Telefonnummer in Hamburg mit Ausrufezeichen notiert.
Das Leben als Schauspielerin war wahrscheinlich nicht nur ein Zuckerschlecken.
Aber nirgends ein Hinweis auf den Unfall in Kiel oder auf Sandra Keller. Das Badezimmer konnte ich mir noch nicht vornehmen, das müsste die Spurensicherung erst einmal untersuchen. Außerdem war die Tote noch nicht abtransportiert.
So ging ich erst mal ins Erdgeschoss und schaute mich in der Küche und im Wohnraum um. Außerdem gab es ein kleines Esszimmer mit eingebauter Sitzbank und altem Holztisch, es war einfach wunderschön. Auf dem Tisch stand ein Laptop, ich nahm an, dass er der Hausherrin gehörte.
Inzwischen war der Leichenwagen eingetroffen, um die Tote zur Gerichtsmedizin nach Kiel zu bringen. Gleichzeitig trafen die Kriminaltechniker vom Festland ein. Wir hatten ein Riesenglück, denn sie waren an einem Tatort in Husum gewesen und von dort sofort nach Sylt gefahren.
Sie machten sich sofort daran, die Spuren im Badezimmer zu sichern. In der Wanne stellten sie ein Messer sicher, offensichtlich das Tatwerkzeug. Leider war die Chance, darauf Fingerabdrücke sicherzustellen, wegen des warmen Wassers äußerst gering.
Ich bat sie, alle Medikamente mit einer sedierenden, beruhigenden oder schlaffördernden Wirkung einzupacken. Vielleicht hatte die Pröpstin eines davon genommen.
Nachdem die Kollegen mit dem Badezimmer fertig waren, bat ich sie, auch die anderen Zimmer mit Luminol zu überprüfen.
Plötzlich hörten wir aus dem Garten ein lautes Geschrei. Ich schaute aus dem Fenster. Die Schauspielerin war gerade vom White Dinner zurückgekommen. Wie wir angenommen hatten, mit ihren Freunden, die unten bei ihr standen, alle in blütenweißer Strandkleidung.
»Was tun Sie hier, was ist da los?«, schrie Kristina Kruse den Kollegen an, der sie aufhielt, bis ich runterkam. »Was tun Sie hier in meinem Haus? Wo ist meine Schwester?«, fuhr sie mich an, als sie mich sah.
»Frau Kruse, ich habe schlechte Neuigkeiten für Sie. Ihre Schwester ist leider verschieden.«
»Was? Was sagen Sie da? Was soll das?«
»Ihre Schwester ist tot. Sie wurde heute Nachmittag tot in der Badewanne aufgefunden.«
»Ist sie ertrunken?«
»Sie ist verblutet.«
»Wie bitte? Wieso verblutet?«
Ich erklärte ihr, dass wir sie mit aufgeschnittenen Pulsadern gefunden hatten.
»Wieso sind Sie überhaupt in die Wohnung gegangen?«
»Wir haben uns Sorgen gemacht«, erwiderte ich. »Ihre Schwester hat nicht auf unser Klingeln und Rufen reagiert, aber wir wussten, dass sie im Haus ist.«
Jetzt schlug die Kruse die Hände vors Gesicht und schluchzte: »Meine arme Schwester, wie furchtbar, wie schrecklich. Und ich habe gefeiert, oh nein.«
Ihre Freundin legte den Arm um sie, und der Mann tätschelte ihr den Rücken.
Ich wartete ab, bis sie sich etwas beruhigt hatte, dann sagte ich: »Frau Kruse, wir müssen Sie sprechen, Sie wollen doch auch wissen, was mit Ihrer Schwester passiert ist.«
»Ich denke, sie hat sich umgebracht!« Wieder weinte sie hemmungslos.
»Das vermuten wir. Dennoch untersuchen wir das.« Ich wandte mich an die beiden anderen: »Wir möchten auch gerne mit Ihnen reden, Frau …?«
»Tedkowski, Carmen Tedkowski, und das ist mein Mann Rüdiger.«
In dem Moment kam Müller zurück. Ich klärte ihn kurz über die Lage auf, und sagte zu den Tedkowskis: »Können Sie bitte mit mir auf die Terrasse kommen?«
»Ich weiß zwar nicht, weshalb, aber bitte«, erwiderte der Mann.
»Was soll das?«, mischte sich die Schauspielerin ein. »Meine Schwester ist tot, und Sie belästigen meine Freunde.«
»Wir sind gleich hier fertig«, beruhigte sie Müller. »Dann ziehen wir uns zurück. Können wir beide uns auch irgendwo unterhalten?«
Ich hörte nicht mehr, was sie antwortete, denn ich ging mit ihren Freunden hinter das Haus zur Terrasse. Dort setzten wir uns an den runden Holztisch.
Ich schaute auf meine Armbanduhr und notierte den Ort und die Zeit sowie die Namen der Eheleute. Mittlerweile war es schon kurz nach zehn, und Frau Tedkowski, die sich hier offensichtlich gut auskannte, schaltete die Terrassenbeleuchtung ein.
»Kannten Sie Frau Rombach?«, begann ich die Befragung.
»Nur flüchtig, wir haben sie ein- oder zweimal gesehen, als sie bei ihrer Schwester zu Besuch war.«
»Wann waren Sie zum letzten Mal hier?« Ich brauchte denen ja nicht auf die Nase zu binden, dass wir sie beobachtet hatten, als sie am Mittwoch hier zu Besuch waren.
»Wir waren Mittwoch hier, am Abend«, erwiderte Carmen Tedkowski. »Da haben wir auch Frau Rombach gesehen, allerdings nur kurz. Sie wollte nicht mit uns essen, da es ihr nicht gut ging. Ach Gott, die arme Frau, was ist da nur passiert?«
»Und warum haben Sie hier so ein Aufgebot, bei einem Selbstmord? Das ist doch etwas ungewöhnlich«, warf der Mann ein.
Darauf ging ich gar nicht ein, sondern fragte weiter: »Haben Sie am Mittwoch mit Frau Rombach gesprochen?«
»Nein, nicht wirklich«, entgegnete die Frau. »Sie kam kurz, sagte guten Abend und entschuldigte sich, dass es ihr nicht gut gehe und sie sich hinlegen müsse. Das war’s.«
»Und heute, waren Sie heute schon mal im Haus?«
»Wir haben Kristina abgeholt, so gegen fünf, nicht wahr, Rüdi?«, wandte sie sich an ihren Mann.
»Es war fünf, das ist richtig«, sagte dieser.
»Haben Sie Frau Rombach da gesehen?«
»Ja«, bestätigte die Frau.
»Nein«, sagte der Mann gleichzeitig.
»Haben Sie sie gesehen?«, wiederholte ich.
»Na ja, gesehen nicht direkt. Aber Kristina hat mit ihr gesprochen. Sie ist zweimal hochgelaufen, um zu fragen, ob sie noch etwas braucht. Ich glaube, sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie zu dem Event gegangen ist, während es ihrer Schwester nicht gut ging. Aber was sollte sie machen? Sie konnte ja nicht ahnen, was die vorhatte.« Sie schüttelte aufgewühlt den Kopf.
»Natürlich konnte sie das nicht«, bemerkte ihr Mann, »das war einfach ein unglücklicher Zufall.«
»Frau Kruse hat also mit ihrer Schwester gesprochen«, hakte ich nach, »was hat die Schwester geantwortet?«
»Sie hat gemeint, die Schwester solle ruhig gehen.«
»Haben Sie das gehört?«
»Na ja, gehört habe ich es nicht direkt. Aber Kristina kam runter und hat das gesagt.«
»Sie haben also nichts von dem Gespräch selbst mitbekommen?«
»Nicht so direkt«, antwortete sie zögernd, »wir waren ja unten.«
»Gehört haben wir gar nichts von dem Gespräch«, bestätigte Herr Tedkowski, »wir haben nur mitgekriegt, dass Kristina zweimal zu ihrer Schwester hochgerannt ist. Das zweite Mal hat sie ihr noch eine Flasche Wasser gebracht.«
Eine volle Wasserflasche stand auf dem Tisch im Zimmer von Claudia Rombach, sie war noch ungeöffnet gewesen. Wahrscheinlich handelte es sich um diese Flasche, dachte ich.
»Haben Sie Badewasser gehört?«, fragte ich.
Beide schüttelten den Kopf. Nein, davon, dass die Pröpstin baden wolle, sei keine Rede gewesen.
»Und wie war Ihre Freundin? Wirkte sie nervös oder bedrückt?«
»Was soll das?«, schaltete sich jetzt der Mann ein. »Was wollen Sie da unterstellen? Kristina war natürlich besorgt, weil es ihrer Schwester schlecht ging, aber ansonsten wie immer. Wir hatten ein sehr angenehmes Dinner und haben auch Freunde getroffen. Außerdem hatte Kristina bei der Gelegenheit einen Pressetermin, der Syltblick hat eine kleine Fotoserie aufgenommen.«
»Nur für unsere Unterlagen«, sagte ich abschließend, »wann genau sind Sie heute Nachmittag hier angekommen, und wann sind Sie mit Frau Kruse weggefahren?«
»Wir sind so zehn vor fünf angekommen, ich habe auf die Uhr geschaut, weil wir etwas früher da waren, als wir ausgemacht hatten. Wir waren nämlich für fünf Uhr verabredet. Und um fünf sind wir schon wieder weitergefahren. Zum Glück waren wir früh genug, um noch einen Parkplatz bei der Sturmhaube zu ergattern. Von da aus sind wir an den Strand gegangen.«
Ich notierte mir die Zeiten und lächelte ihn an. »Vielen Dank. Noch eine letzte Frage: Wo war Frau Kruse, als Sie ankamen?«
»Wo soll sie schon gewesen sein?«, sagte die Frau irritiert. »Sie war im Haus und kam zur Tür, um uns aufzumachen.«
»Was taten Sie dann?«
»Wir haben die Sachen fürs Picknick zum Auto getragen, und Kristina ging nach oben zu ihrer Schwester, um ihr Tschüss zu sagen. Anschließend sind wir losgefahren.«
»Ich dachte, sie ging zweimal nach oben.«
Sie schaute mich leicht gereizt an. »Sie brachte ihr noch eine Flasche Wasser. Was soll die ganze Fragerei?«
»Das war’s auch schon, vielen Dank!«
Die Tedkowskis standen auf und begaben sich zurück zum Eingang. Ich hörte noch, wie Carmen zu ihrem Mann sagte: »Wir können Kristina jetzt doch nicht alleine in dem Haus lassen. Wollen wir ihr nicht die Couch bei uns im Wohnzimmer anbieten?«
Ihr Mann brummte: »So viel Platz haben wir auch nicht.«
Dann verschwanden sie um die Ecke, und ich machte mich auf die Suche nach Müller. Er kam gerade aus dem Haus.
»Und, wie ist es gelaufen?«, fragte ich ihn.
»Sie hat einen Anwalt angerufen und weigert sich, mit uns zu sprechen.«
»Wieso einen Anwalt? Wir beschuldigen sie doch gar nicht.«
»Sie hat sich tierisch darüber aufgeregt, dass wir Spuren gesichert und ihre Pillen aus dem Bad eingepackt haben.«
»Na toll. Und was hat das Luminol ergeben?«
»Im Haus ist die Spurensicherung durch. Außer im Badezimmer gibt es keine Blutspuren. Nur in der Küche waren ein paar winzige Blutspritzer, aber die können auch von einem Braten stammen oder eine der Frauen hat sich geschnitten. Das wissen wir erst, wenn wir die Analyse haben. Doch eine größere Menge …« Er schüttelte den Kopf. »Fehlanzeige. Die Kollegen packen übrigens gerade zusammen.«
»Und was ist mit einem Abschiedsschreiben? Ist inzwischen eines gefunden worden?«
»Nein.«
»Vielleicht hat sie ja etwas verschickt …«, setzte ich gerade an, als uns der Kollege, der an der Gartenpforte aufpasste, winkte.
Ein älterer Herr im hellgrauen Anzug verlangte Einlass. Es war der Rechtsanwalt, den Kristina Kruse angerufen hatte, und wir baten ihn herein.
Vor dem Haus hatten sich inzwischen schon einige Reporter versammelt, die uns Fragen zuriefen, auf die wir jedoch nicht reagierten. Wie hatten die bloß so schnell erfahren, dass hier etwas passiert war? Das war jedes Mal wieder ein Rätsel.
Der Anwalt, ein Herr Weishaupt aus Westerland, zog sich mit der Schauspielerin ins Wohnzimmer zurück, die Kollegen von der Spurensicherung hatten alles zusammengepackt und brachen auf, so beschlossen auch wir, das Haus zu verlassen.
Vorher gingen wir ins Wohnzimmer und baten Frau Kruse um ein Gespräch am nächsten Tag, gerne zusammen mit ihrem Anwalt. Sie wolle doch sicher erfahren, was wir bis dahin herausgefunden hatten. Außerdem baten wir sie nochmals, ihre E-Mails und Mitteilungen zu checken nach einer Nachricht ihrer Schwester.
»Ein Abschiedsbrief wäre wirklich hilfreich«, betonten wir, bevor wir nochmals unser Beileid aussprachen und uns verabschiedeten.
Der Anwalt würde uns morgen Vormittag kontaktieren, mehr war im Moment nicht zu erreichen.
Im Kommissariat war Amar immer noch mit der Auswertung des Handys und des Computers der toten Pröpstin beschäftigt.
»Hast du schon Nachrichten aus Kiel«, fragte ich ihn, »gibt es Ergebnisse zum Fahrzeug?«
»Noch nicht, die werden sich morgen früh melden«, sagte Amar, »ich habe gerade mit ihm telefoniert.«
»Wie steht es mit dem Bewegungsprofil des Handys?«
»Die Standortdaten waren deaktiviert. Ich musste die Daten anfordern, die werde ich wohl morgen haben.«
»Und was ist mit dem Computer?«
»Da war fast nur Arbeitsmaterial von der Kirche gespeichert, Protokolle von Conventions, Sitzungen, Berichte aus den Pfarreien, E-Mails ohne Ende, die Rombach war überall auf cc, ein Haufen langweiliges Zeug.«
»Nichts Interessantes?«, bohrte ich weiter. Ich wusste, Amar liebte es, sich die Würmer aus der Nase ziehen zu lassen. Und tatsächlich, er zauberte noch was hervor.
»Sie hat eine Abschieds-E-Mail geschrieben.«
»Was? An wen?«, fragten wir gespannt.
»An ihre Schwester, hier ist sie, ich habe sie euch ausgedruckt.« Mit zufriedener Miene verteilte Amar die Ausdrucke.
Müller las laut:
»Meine liebe Kristina,
ich kann nicht mehr, du wirst das verstehen. Ich habe es einfach nicht mehr ausgehalten, außerdem wollte ich dich nicht noch mehr mit der Sache belasten. Es war alles ganz allein meine Schuld, und du hast es nicht verdient, darunter zu leiden. Bitte verzeih mir. Ich begehe die größte Sünde, die ich begehen kann, indem ich mich selbst töte, aber ich habe zu viel Schuld auf mich geladen, um weiterzuleben. Ich bereue es zutiefst, vor allem, dass ich dich mit hineingezogen habe, obwohl du gar nichts getan hast.
Für immer, deine dich liebende Schwester Claudia.«
Müller hob den Blick und schaute uns irritiert an. »Was soll denn das? Nur Wischiwaschi, kein klares Geständnis.«
Ich rümpfte die Nase. »Seltsame E-Mail, irgendwie klingt das so gekünstelt.«
»Die Pfaffen reden so gestelzt«, meinte Amar, »genau wie Anwälte und Steuerberater.«
»Mal sehen, ob die Kruse uns morgen diese E-Mail vorbeibringt«, sagte Müller. »Wann hat die Rombach das denn geschrieben?«
Amar schaute uns triumphierend an. »Die E-Mail wurde verschickt, als ich den Computer schon hier hatte, um neunzehn Uhr.«
»Wie bitte?«, fragte ich.
»Zeitversetzt. Outlook war so eingestellt, dass die E-Mail später verschickt wurde.«
»Und wann wurde sie geschrieben?«
»Heute, um siebzehn Uhr dreißig«, erwiderte Amar. »Das heißt, kurz bevor sie sich umgebracht hat.«
»Wenn sie sich umgebracht hat«, warf ich ein.
»Es spricht wohl alles dafür!«, entgegnete Müller.
Ich stützte mein Kinn auf meine Hand und schaute ihn zweifelnd an. »Schon, theoretisch könnte es aber auch die Schwester getan haben. Schließlich hat sie das Auto der Keller geholt, nicht die Pröpstin. Sie war also zumindest in das Ganze involviert.«
»Vielleicht wollte sie nur der Schwester helfen«, winkte er ab.
»Dann kriegen wir sie zumindest wegen Beihilfe dran.«
»Das ist richtig. Aber dass sie etwas mit dem Tod der Pröpstin zu tun hat, dafür gibt es keinen Hinweis«, beharrte Müller.
Ich zuckte mit den Schultern. Irgendwie war mir die Lösung mit dem Selbstmord zu glatt, ich war noch nicht überzeugt.
Amar und Marieluise sagten gar nichts dazu, sie sahen auch ziemlich geschafft aus. Marieluise gähnte. »Leute, ich muss jetzt ins Bett, es ist bald Mitternacht, mir reicht’s für heute.«
Dagegen war nichts zu sagen, und so brachen wir alle auf.
Bevor ich mich auf mein Fahrrad setzte, schaute ich auf mein Handy. Sechs entgangene Anrufe von Mats, der letzte vor einer Stunde. Und eine Nachricht: Du hast wohl zu tun, ich melde mich morgen, gute Nacht. Küsschen.
Ich steckte das Handy in meine Tasche und radelte nach Hause.