Tag 14

Sonntag, 1. September

Am nächsten Vormittag verabschiedete ich mich von Mats. Als er nach einem weiteren Treffen fragte, sagte ich nur, ich würde mich melden, was ich jedoch nicht vorhatte. Mein Leben war auch kompliziert genug ohne einen Typen mit Kleinkindern und Noch-Ehefrau, daher würde ich mich schön zurückhalten.

Natürlich war da ein kleiner, vielleicht sogar ein großer Stich in der Magengegend – oder war es in der Herzgegend? –, doch den ignorierte ich einfach. Glücklicherweise hatte ich heute viel zu tun und konnte mich ablenken.

Zuallererst fuhr ich auf dem Weg ins Kommissariat im Krankenhaus vorbei. Der Pastor war auf der der Intensivstation und hing an mehreren Schläuchen. Sein Gesicht wirkte jedoch schon nicht mehr ganz so fahl wie in der Nacht.

Neben dem Bett saß der schöne Brian.

»Waren Sie gar nicht zu Hause?«, fragte ich ihn erstaunt.

»Nein, ich bin hiergeblieben«, erwiderte er, »der arme Hilmar, er war ja so tapfer!«

Na ja, dachte ich, tapfer. Ich würde eher sagen, leichtfertig. Aber manchmal liegen Dummheit und Tapferkeit eben ziemlich nahe beieinander. Doch das wollte der schöne Brian garantiert nicht hören.

»War er denn schon wach?«, erkundigte ich mich stattdessen.

»Ja, heute früh, schon ein paarmal.«

»Hat er Ihnen erzählt, was genau passiert ist?«

Er schüttelte den Kopf. »Er hat nicht gesprochen. Er ist ja vollgepumpt mit Schmerzmitteln und Schlafmitteln, da konnte er gar nichts sagen.«

»Dann werde ich heute Nachmittag noch mal vorbeikommen.«

»Gut, ich bleibe den ganzen Tag hier bei ihm«, sagte er und streichelte die Hand des Pastors.

Da wird sich Müller aber freuen, dachte ich, als ich das Krankenhaus verließ.

Im Kommissariat waren alle schon an Müllers Besprechungstisch versammelt, der Chef selbst, Marieluise, Amar, und – ich traute meinen Augen kaum – Jan Hagen.

Er bemerkte mein Erstaunen und sagte: »Mir geht es schon besser. Da ich ab morgen wieder arbeiten kann, bin ich heute mal vorbeigekommen. Wir haben ja den Fall gelöst, das ist einfach super.«

Gut, dass wir das geschafft haben, dachte ich.

Dann informierte ich die anderen darüber, dass ich gerade im Krankenhaus war. »Dem Pastor geht es so weit gut, er wird wahrscheinlich wieder gesund«, verkündete ich erleichtert.

»Sehr gut«, erwiderte Müller, »hat er schon etwas darüber sagen können, was heute Nacht passiert ist, bevor wir in sein Haus kamen?«

»Nein, wo denkt ihr hin? Er ist heute Nacht operiert worden und war nicht wach, ich probiere es später noch einmal.«

»Okay.« Müller nickte. »Wir haben gerade darüber gesprochen, dass wir heute Abend zur Feier des Tages einen trinken gehen, selbst wenn der Fall nicht ganz abgeschlossen ist. Aber ihr seid ja nächste Woche schon weg.«

»Genau«, rief Marieluise, »was trinken und auch was essen. Das Problem ist nur, wir kriegen nirgends einen Tisch. Ich habe schon überall herumtelefoniert.«

»Wie sieht’s eigentlich bei deinem Schwager aus, im Störtebeker?«, fragte Müller.

Ganz schlechte Idee, dachte ich, auf keinen Fall. Schließlich hatte ich mir gerade vorgenommen, meine Schwester heute anzurufen und ihr zu sagen, dass Andys Cousin nicht bei mir wohnen kann.

»Schwierig«, meinte ich, »wir haben im Moment kleine Differenzen, das wäre mir gar nicht recht.«

»Na in dem Fall«, seufzte Marieluise, »probiere ich es eben weiter.«

Ich fühlte mich jetzt ein bisschen im Zugzwang, daher schlug ich vor: »Wenn wir nichts finden, holen wir uns eine Pizza und gehen zu mir in den Garten, was meint ihr?«

»Pizza?«, fragten sie etwas lustlos.

»Also Leute«, begann Müller, »wir können doch auch was grillen, was meint ihr? Hast du einen Grill, Neele?«

Schwach erinnerte ich mich an Omas Gasgrill im Schuppen.

»Einen Gasgrill, den müsste ich mal säubern«, sagte ich lahm.

»Kein Problem, den muss man nur aufheizen, dann brennt der Dreck weg, das kann ich machen«, erklärte Amar eifrig.

»An welche Uhrzeit habt ihr denn gedacht?«, fragte Jan.

Aha, da war er sofort dabei.

Kurz und gut, wir einigten uns auf neunzehn Uhr, Müller plünderte die Kaffeekasse, Amar wollte mit ihm zusammen einkaufen gehen, und die beiden Männer würden auch grillen, Marieluise bereitete einen Salat zu und Jan eine Nachspeise, und ich war wie die Jungfrau zum Kind zur ersten Party in meinem Häuschen gekommen.

Doch vorerst war noch ein bisschen Arbeit zu erledigen.

Der Oberstaatsanwalt musste informiert werden, denn wir brauchten einen Haftbefehl für die Kruse für den versuchten Mord, damit wir ihre Überführung in die JVA Kiel veranlassen konnten. Vorher wollten wir sie aber noch hier vernehmen, vielleicht gestand sie ja doch die anderen drei Taten.

Das Verhör der Schauspielerin entpuppte sich als höchst unangenehm, denn sie versuchte mit aller Macht, ihrer Schwester die drei anderen Fälle in die Schuhe zu schieben. Außerdem behauptete sie, der Angriff auf den Pastor sei Notwehr gewesen, doch damit würde sie nun wirklich nicht durchkommen. Sie verstrickte sich immer mehr in Widersprüche. Schließlich war sie auf die Ankündigung des Pastors, er habe Aufzeichnungen der Pröpstin, hereingefallen und bei ihm eingebrochen. Dabei war sie sogar so weit gegangen, dass sie ihn mit Gewalt zwingen wollte, diese herauszurücken, was wir selbst miterlebt hatten.

Aber sie tischte uns immer obskurere Geschichten auf, wobei es auch ihr Anwalt nicht schaffte, sie zurückzuhalten.

Nach ein paar Stunden gaben wir auf und ließen sie zu ihrer Zelle zurückbringen. Morgen früh würde sie in die Kieler Justizvollzugsanstalt gebracht werden, der Rest war nicht mehr unser Problem.

Nach dem Verhör machte ich mich nochmals auf den Weg ins Krankenhaus.

Inzwischen war der Pastor ansprechbar und berichtete stockend, was sich gestern zugetragen hatte. »Ich habe gestern Nachmittag mit Kristina Kruse telefoniert und behauptet, dass Claudia aufgeschrieben hat, was alles passiert ist, vom Tod des Jungen bis zum Tod von Sandra Keller. Und ich habe ihr gesagt, dass Claudia mir diese handschriftlichen Aufzeichnungen übergeben hat.«

Der Pastor wirkte sehr erschöpft, und Brian führte ein Glas zu seinem Mund und ließ ihn etwas Wasser mit einem Strohhalm trinken. Anschließend sprach er weiter. »Dann habe ich versucht, ihr klarzumachen, dass sie für ihre Taten geradestehen und sich der Polizei stellen muss. Zuerst hat sie gezögert, letztendlich sah sie es jedoch ein. Sie hat mir versprochen, zur Polizei zu gehen, und ich« – er blickte mich schuldbewusst an – »ich habe ihr das geglaubt. Wie konnte ich nur so dumm sein?«

Brian schüttelte den Kopf, streichelte seine Hand und sagte: »Das konntest du doch nicht wissen.«

Dazu sagte ich besser nichts, und der Kranke sprach weiter.

Kristina Kruse hatte dem gutgläubigen Pastor wohl großes Theater vorgespielt. Von wegen, sie bereue das Ganze, sie wolle morgen früh zur Polizei gehen, sie brauche nur noch den einen Abend, um ihre Sachen in Ordnung zu bringen, und so weiter. Und der naive Pastor hatte ihr geglaubt und gedacht, er habe alles viel besser hinbekommen als die Polizei.

In der Nacht war Kristina Kruse dann mit ihrem E-Bike nach Morsum gefahren und mithilfe einer Kreditkarte durch die Kellertür in das Pfarrhaus eingebrochen. Das hatte man ihr beigebracht, als sie eine Kommissarin in einem Krimi darstellte.

Als sie die Unterlagen im Haus suchte, war der Pastor aufgewacht und hatte mich angerufen. Dabei hatte sie ihn bemerkt, überwältigt und an den Küchenstuhl gefesselt. Anschließend wollte sie von ihm wissen, wo die Unterlagen waren. Unglücklicherweise konnte er ihr das nicht sagen, da es keine gab, was sie ihm natürlich nicht glaubte. Sie wurde immer wütender und benutzte schließlich ein scharfes Küchenmesser des Pastors, um ihn gesprächig zu machen. Den Rest kannten wir.

Ich verabschiedete mich von dem Paar, das anscheinend wieder in innigster Eintracht vereint war. So hatte sein Leichtsinn dem Pastor auch was Gutes gebracht.

Der arme Müller, dachte ich. Wie gewonnen, so zerronnen.

Und tatsächlich vertraute er mir am Abend im Laufe unserer feuchtfröhlichen Feier an, dass der schöne Brian zu seinem Pastor zurückgegangen war.

»Shit happens«, sagte ich und prostete ihm zu.