Marlene betrachtete hoch konzentriert den Löffel mit Schokoladeneis. Langsam bugsierte sie ihn in Richtung Mund und – scheiterte. Erneut.
»Ups«, sagte die Fünfjährige. »Dieses Mal hätte es aber fast geklappt.«
»Was genau?« Sophie holte das nächste Taschentuch aus ihrer Handtasche.
»Na, das mit dem Besteck fehlerfrei und so.« Marlene fuhr mit dem Löffel über ihr T-Shirt und rettete so noch ein wenig Eis.
»Ach, Marlene, doch nicht so!«, schimpfte Sophie, musste aber lachen dabei, denn im Grunde war in dem Moment klar, wie es ausgehen würde, als sie ihrer Tochter erlaubt hatte, Schokoladeneis zu bestellen, obwohl es kein fehlerfreies Schokoladeneis gab und immer ein Shirt daran glauben musste.
»Heute ist ein Scho-ko-la-den-eis-tag«, sang Marlene und wedelte mit dem Löffel durch die Luft.
Sophie bekam einen Spritzer Schokoladeneis ab – mitten auf die Nase.
»Treffer!«, kommentierte Marlene jubelnd.
Sophie schielte auf die getroffene Stelle und wischte dann mit dem Finger darüber.
»Ach, Marlenchen«, sagte sie seufzend.
»Ach, Mammchen!«, Marlene grinste breit und beugte den Kopf nach vorne. Sophie legte ihre Stirn gegen die ihrer Tochter, und einen Moment verharrten sie in der innigen Position. Dann aber widmete sich Marlene wieder ihrem Eis, und Sophie ließ ihren Blick schweifen. Um sie herum herrschte reges Treiben. Es war ein sommerlicher Mittwochnachmittag im Juli und die Eisdiele gut gefüllt. Überall saßen Mütter mit Kindern und junge Pärchen. An einem der Tische küssten sich gerade eine Frau mit kurzen, pink gefärbten Haaren und ein Mann mit Dreadlocks. Marlene hatte die beiden auch erblickt. Sie kicherte.
»Solche Haare will ich auch mal!«, sagte sie.
»Pink? Untersteh dich!« Sophie lachte.
»Nö, das mit den Locken!« Marlene leckte einen Schokoeisrest von ihren Fingern. »Die muss man bestimmt nicht bürsten.«
Kopfschüttelnd wanderte Sophies Blick weiter über den Platz vor der Eisdiele. Kinder sprangen barfuß in dem großen Brunnen herum und spritzten sich gegenseitig, aber natürlich auch ihre Mütter nass. Außerhalb des Brunnens spielten sie Fangen, und Tauben mussten vor nassen Kinderfüßen flüchten. Vielleicht sollten sie später noch schwimmen gehen. Aber ein Freibad in Frankfurt zu finden, das an einem Sommertag nicht überfüllt war, war schwierig bis hoffnungslos. Zu Hause am See …
»Mama, du träumst schon wieder? Wovon denn?«
»Ich träume gar nicht.«
»Wohl.«
»Na gut. Lass mal überlegen. Wenn ich jetzt träumen würde, dann vom Meer. Also einem richtigen Meer, einem riesengroßen Meer, das nach Salz schmeckt und hübsche Schaumkronen an den Strand trägt. Und da liege ich und höre das Rauschen der Wellen. Es riecht nach Sand und Sonnenmilch …«
»Und nach Gummibärchen.«
»Das auch. Ich hab ein Buch in der Hand und lese.«
»Wieder so einen Liebesschmöker.« Marlene verdrehte die Augen. »Müssen die eigentlich immer so dick sein?«
»Vielleicht«, sagte Sophie, die tatsächlich gern Liebesromane las, in denen sich alles immer so schön fügte: die große Liebe, das Leben an dem richtigen Ort, das traumhafte Zuhause mit natürlich schönen Aussichten. Wenn Sophie darüber nachdachte, war es durchaus zweifelhaft, was da oft als Wohnraum von durchschnittlichen Menschen gezeigt und beschrieben wurde. Glaubte man den gängigen Filmen, so wohnten alleinstehende Frauen gern in Altbauten mit großen Fenstern, Dielenböden und offenen Wohnküchen. Gern in der Innenstadt, sodass sie überallhin mit dem Fahrrad kamen. Auch die Einrichtung war …
»Und wo bin ich?«
»Du baust eine Sandburg.«
… lächerlich an der Realität vorbei. In ihrem aktuellen Buch hatte die Hauptfigur natürlich eine Dachterrasse und der Mann, den sie kennenlernte, ein Landhaus in Südengland. Da könnte man schon ins Grübeln kommen, ob das die große Liebe durchaus ein wenig beschleunigte.
»Also in meinem Traum baust du aber mit. Wär das nicht viel besser als so ein dickes Buch in der Hand?« Marlene winkte. »Mama? Du guckst so verträumt. Wär eine Sandburg nicht viel besser?« Sie tippte ihrer Mutter nachdrücklich auf den Oberarm.
Sophie griff nach der piksenden Kinderhand und küsste ihre Tochter auf die Stirn. »Bestimmt. Dann hole ich mir auch keinen Sonnenbrand unter den Armen.«
Marlene machte große Augen. »Das ist dir mal passiert?«
Sophie nickte und erinnerte sich daran, wie sie sich ihr Buch gegen die Sonne hochhaltend jenen unangenehmen Sonnenbrand eingefangen hatte.
»Und dann hast du die Arme immer vom Körper weggehalten?«, fragte Marlene lachend.
Sophie wiegte den Kopf hin und her und wedelte mit den Armen in der Luft. »Aber logo. Am zweiten Tag konnte ich beinahe abheben.« Während Sophie mit den Armen in der Luft ruderte, sah sie aus dem Augenwinkel, dass sie Aufmerksamkeit erregt hatte. Ein Mann stand am Nebentisch und lachte sie an. Er hatte dunkle Haare und ebensolche Augen. Über die Schulter hatte er eine graue Umhängetasche, eine Hand am Tragriemen, die andere lässig in der Hosentasche seiner hellblauen Jeans, die, das sah sie sofort, nicht nur lächerlich bis zu den Knöcheln reichte, sondern bis auf die dunkelgrünen Chucks. Die Arme noch in der Luft, grinste Sophie verlegen und überlegte, ob auf ihrer Nase wohl auch noch ein Schokoeisklecks war. Bestimmt. Der Mann hob den Daumen in die Luft und sagte: »Sichere Landung wünsche ich.«
Marlene lachte, und zack, schon tropfte der dritte Klecks Schokoladeneis auf das Shirt. »Gelandet!«
Er lachte und hob unschuldig die Schulter.
Sophie verschränkte die Arme und verdrehte übertrieben ernst die Augen. Der Mann lächelte sie noch immer an, und als Nächstes fiel ihr ein Grübchen auf seiner linken Wange auf. Ihre Blicke hingen schon zu lange aneinander, um in Flüchtigkeit unterzugehen. Gerade als sie etwas zu ihm sagen wollte, kamen eine Frau und zwei Kinder zu ihm an den Tisch, und gemeinsam setzten sich die vier. Schnell widmete sich Sophie ihrer Tochter, die ihr T-Shirt hochzog und über den Schokoklecks leckte. Sophie öffnete den Mund, war aber zu langsam.
»So ist viel besser als mit dem Löffel.« Marlene präsentierte den Fleck. »Guck mal, so gut wie weg.«
Weg. So gut wie weg. Sophie brauchte einen Augenblick nach dieser unsanften Landung. Für einen Moment war sie von diesem anderen Mann einfach aus ihrem Alltag herausgefischt worden und hatte sich schwebend leicht gefühlt. Wie in einer Seifenblase.
»Sauber!« Marlene stand vor Sophie und streckte ihr das fleckige Shirt direkt vor die Nase. Es roch sommerlich süß.
Der Mann am Nebentisch ließ seine Hände beim Sprechen durch die Luft tanzen wie auf einem unsichtbaren Klavier, der kleine Junge neben ihm lachte und versuchte, die Hände zu fangen. In Sophies Nacken kribbelte es, und sie fuhr sich zaghaft darüber. Jetzt sah er zu ihr herüber und deutete ein Fliegen an. Idiot, dachte Sophie, der hat eine Frau und zwei Kinder und flirtet mit mir. Entschlossen drehte sie ihren Stuhl weg und wandte der Familie halb den Rücken zu.
»Mama! Hallo, Marlene an Mama, jemand zu Hause?«
Sophie strich ihrer Tochter über die Nasenspitze. »Ich hab dich sehr lieb. Obwohl du gekleckert hast.«
Das kleine Gute-Laune-Paket mit den blonden Haaren, die nicht richtig durchgebürstet waren und in wilder Unordnung den Kopf zierten, klatschte begeistert in die Hände.
»Wie sehr?«
»Sehr sehr.«
»Ich hab dich garantiert mehr lieb.«
Sophie spielte mit und dachte angestrengt nach. »Das wird wohl stimmen.«
Trotzig legte Marlene die Arme vor der Brust übereinander und sagte: »Das geht nicht. Eine Mama muss ihr Kind immer am allermeisten lieb haben. Vor allem wenn es gekleckert hat.« Sie nickte ihrer Rede zu. »Das ist Fusselwüff-Gesetz.«
»Vor allem dann. Stimmt. Ganz sicher gilt das auch, wenn es keine Fusselwüffs gibt und das Gesetz wohl irgendwo in den Sternen …«
Nebenan reichte der Mann dem Jungen gerade den Keks von seinem Kaffee und streichelte ihm über den Kopf. Eine Geste, die belanglos hätte sein können und es nicht war. Es war die Art, wie manche Menschen ihr Gegenüber ansahen: nicht flüchtig, sondern voller aufmerksamer Zuneigung. Es versetzte Sophie einen Stich.
»Hey, Mama, ich bin doch ein Fusselwüff.«
»Ach, Mensch, dich hätt ich jetzt fast vergessen. Noch eine Kugel Vanilleeis? Auf die Hand?« Sie stand auf und schob ihre Tochter vor sich her zur Eistheke.
»Super«, jubelte Marlene. »Davon gehen dann die Schokoflecken weg.«
Weg, dachte Sophie, bloß weg hier. Gab es keinen Mann, der ihr gefiel, der keine Familie hatte?