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Tieffliegende Sektgläser und eine Rettung

Sophie arbeitete in einer Firma, die Websites für Kunden entwarf und dafür auch die Inhalte schrieb. Das klang spannend, aber Sophies Aufgabenbereiche waren sehr beschränkt. Oft korrigierte sie nur die Texte der Kollegen, koordinierte Termine und Gespräche oder stellte Mappen zusammen. Einerseits bot ihr das die Freiheit, um zwei Uhr nachmittags alle Stifte aus der Hand zu legen, andererseits lief sie nicht mit vor Freude klopfendem Herzen ins Büro. Vor ewigen Zeiten hatte sie hier ein Praktikum gemacht. Euphorisch war sie mit dem Plan gestartet, selbst einmal Kunden zu gewinnen und zu betreuen, eigene Beiträge zu schreiben und ihren Namen dann auch einmal auf einem Flyer der Firma zu lesen oder wenigstens eine Visitenkarte zu besitzen. Doch von der Euphorie war nicht allzu viel geblieben, und ohne Euphorie sanken auch der Mut und die Zuversicht.

Du musst auch mal für etwas kämpfen. Katrin.

Dann geh da doch endlich weg. Die Mutter.

Ich könnte gar nicht jeden Tag zu einer Arbeit laufen, die mir keinen Spaß macht. Chrissi.

Toll, dachte Sophie dann immer, wenn ihr Umfeld mit guten Ratschlägen aufwartete. Ihr habt kein kleines Kind, das ihr versorgen müsst. An den Wochenenden träumte sie davon, ihrem Chef zu sagen, dass sie gern einen anderen Aufgabenbereich hätte und dass sie sich das auch zutraue, aber je näher der Montag und die Konferenz um elf rückte, in der die aktuelle Woche besprochen wurde, desto mehr schrumpfte ihr Selbstbewusstsein. Marlene indessen war eine willkommene Ausrede für viele Lebenslagen. Wenn Sophie etwa nicht ausgehen wollte, wenn sie zu müde für Sport oder ein Telefonat mit einer Freundin war. Nur für Katrin, da hatte sie immer Zeit.

Als Sophie an diesem Montag ins Büro kam, sahen beinahe alle Kollegen ihr nach. Sophie hoffte, dass es nicht an ihrem Geruch, sondern an der Einhornklammer lag.

»Du sollst gleich zum Chef«, rief ihr Nadja vom Empfang entgegen und hielt den Daumen hoch. »Schicke Frisur.«

Sophie zwinkerte. »Schick kann ich, weißt du doch.«

Sie ging weiter durch den Flur und bog dann in das zweite Zimmer auf der linken Seite ein. Der bekannte Duft nach einem teuren Herrenparfüm stieg ihr in die Nase.

Markus Hochfeld stand von seinem Stuhl auf und kam strahlend auf sie zu, mit seinem energischen Schritt, der immer so aussah, als liefe er zu einem Boxring, so voller Selbstbehauptung. Er schloss die Tür hinter ihr, dann zog er sie an sich und küsste sie auf den Mund.

Sophie wich zurück. »Wir wollten das doch lassen«, sagte sie und spürte ein Kribbeln auf ihren Lippen. Würde sie sich schminken, so wäre jetzt die Farbe verwischt.

»Wollten wir?« Markus streichelte ihre Wange. Sophie bekam einen kleinen elektrischen Schlag.

»Hoppla«, er lachte. »Eigentlich wolltest das ja nur du, aber du merkst ja, wie viel Spannung … Mir war einfach grad danach.« Markus schob Sophie vor sich her zu seinem Schreibtisch. »Sieh mal, wer heute zugesagt hat.«

Sophie blickte auf den Bildschirm und erkannte den Namen sofort. »Ernsthaft? Nach meinem Gespräch mit ihm?« Innerlich triumphierte sie.

Er nickte, dann ging er zu seinem Sideboard, in das ein kleiner Kühlschrank integriert war, und holte eine Flasche Sekt heraus. Er schenkte zwei Gläser ein und brachte Sophie eines zum Anstoßen.

Sophie zog die Augenbrauen hoch. »Am Morgen schon Alkohol?«

»Das ist echt ein Bombenkunde, das ist dir doch klar.«

»Gewiss, ich hab das Gespräch geführt. Weil du zu spät gekommen bist.« Im Grunde hatte sie einfach Glück gehabt. Sophie war zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen, und zufällig hatte der Kunde sie sympathisch gefunden. Ihr Chef und einige andere Kollegen hatten in der Innenstadt im Stau gestanden, das kam schon mal vor, und so hatte Sophie in einem schicken Büro gesessen, sich von Nadja Kaffee und Kuchen servieren lassen und mit dem potenziellen neuen Kunden geredet – ursprünglich, um ihn hinzuhalten, bis ihr Chef und die Kollegen da wären, jedoch hatte sich herausgestellt, dass der Kunde mit seiner Familie an den Bodensee fahren wollte. Ihre alte Heimat, welch glorreiche Fügung. Er war Feuer und Flamme gewesen, in ihr eine waschechte Konstanzerin getroffen zu haben, und Sophie hatte aus dem Nähkästchen geplaudert, wo es in Konstanz und rund um den Bodensee noch etwas zu entdecken gab. Sogenannte Geheimtipps. Er hatte sich Notizen in sein Handy gemacht und immer wieder lachend betont, dass sie der Himmel geschickt habe.

Markus nickte ihr zu. »Guter Job, Sophie, ehrlich, richtig gut gemacht. Da hast du mir den Arsch gerettet. Ich würde dich gern zum Essen einladen. Geschäftlich. Zum Feiern.«

Essen mit Markus in einem noblen Restaurant, in das Sophie allein nie gehen würde. Gute Weine, Kerzenlicht, zufällig ein freies Hotelzimmer – so hatte alles angefangen mit Markus, der, wenn er etwas wollte, keinen Zweifel daran ließ, dass er so lange darum kämpfen würde, bis er es bekam. Aufgeben oder gar Verlieren waren keine Optionen. Sophie hatte sich nicht lange gewehrt, beeindruckt und überrumpelt von dem unbekümmert zielgerichteten Auftreten.

»Gegen ein Essen spricht doch nichts, oder? Weshalb trägst du eigentlich ein Einhorn im Haar?« Er griff danach.

Sophie hob die Schultern und nippte an ihrem Sekt. Ihr war heiß geworden. Das Kribbeln auf ihren Lippen störte sie, überhaupt störte es sie, dass so viele Bilder in ihrem Kopf aufgingen, wenn Markus sie berührte.

»Er sagte übrigens, du hättest seine Ehe gerettet, was auch immer das heißen mag«, erklärte Markus mit leicht schief gelegtem Kopf und einem erfolgsverwöhnten Blick.

Sophie musste schmunzeln. Also doch, dachte sie, sagte aber schlicht: »Schön.«

Sie stießen an, und Sophie trank einen großen Schluck. »Dann darf ich an dem Projekt mitarbeiten?«, fragte sie in dem Bemühen, selbstsicher zu wirken.

Er wiegte den Kopf hin und her. »Ich werd schauen, was sich machen lässt, aber Konrad und Heiner sitzen auch in den Startlöchern, du weißt ja, die können rund um die Uhr. Das wird echt viel Arbeit.«

Sophie kaute auf ihrer Unterlippe, dann leerte sie ihr Glas Sekt auf einen Zug und stellte es auf den Tisch. »Ich weiß.«

»Du hast Marlene. Du willst dir sicher nicht die Abende hier im Büro um die Ohren schlagen und –«

Sophie hob die Hand. »Lass gut sein. Deiner Tochter geht es übrigens gut. Danke der Nachfrage.« Sophie stand auf und lief zur Tür. Dort drehte sie sich noch einmal um. »Bitte küss mich nie mehr, das ist wirklich mehr als unpassend, okay?«

Ihr Chef stand neben seinem Schreibtisch, das Glas Sekt in der einen, die Flasche in der anderen Hand, und sah buchstäblich aus wie ein begossener Pudel. Ein ungewohnter Anblick. »Aber, Sophie. Lass uns bei einem Abendessen … Du kannst auch mehr Geld für Marlene haben. Vielleicht kann ich dich auch ein paar Texte –«

Die Tür fiel hinter ihr ins Schloss. Mehr Geld, dachte sie wütend und lehnte sich gegen die Wand im Flur. Der Sekt wirbelte ihre Gedanken durcheinander. Sie wusste, dass er recht hatte, dass sie mit Marlene nicht in der Lage war, ein solches Projekt wirklich zu stemmen, aber wäre es nicht möglich gewesen, ihr zumindest das Gefühl zu geben, teilnehmen zu können? Sie hatte im Vorbeigehen einen großen Kunden angeworben und bekam dafür ein Glas Sekt und einen lästigen Kuss. Vielleicht hätte sie damals doch gehen sollen. Man sollte nicht für den Mann arbeiten, mit dem man eine Beziehung geführt hat und der sich bisweilen immer noch so benahm, als könnten sie jederzeit dort anknüpfen, wo sie sich vor Jahren getrennt hatten. Ein Gewinnertyp, einer, der mit jeder Geste deutlich machte, für wie selbstbewusst er sich hielt. Sophie wusste wohl, dass man sich unabsichtlich solche Partner suchte, an deren Seite man die eigenen Schwächen am besten verbergen konnte. Aber clever war das nicht.

Komm doch zurück, Sophie. Frankfurt ist doch nicht schön für so ein kleines Mädchen.

Als die Mutter das gesagt hatte, da war Sophie sich nicht ganz sicher gewesen, ob die Mutter Marlene oder sie meinte. Dennoch hatte Sophie sich nicht aufraffen können, Frankfurt den Rücken zu kehren, auch nicht, sich einen neuen Job zu suchen. Fünf Jahre später stand sie also mit zitternden Knien vor dem Büro ihres Chefs und Ex-Freundes Markus, fühlte dem Kuss nach, den sie nicht gewollt hatte, und war wütend und enttäuscht, Letzteres vor allem über sich. Sie stellte sich vor, dass sie ihr Sektglas nicht einfach auf den Tisch gestellt, sondern elegant über die Schulter auf den Boden geworfen hätte. Aber so etwas würde Sophie Sonnbach niemals tun.

In der Mittagspause saß sie mit einem Kaffee und einem Quarkplunder auf der Dachterrasse und hielt ihre Nase in die Oktobersonne über Frankfurt. Von der Straße hupte es, der Verkehrslärm drang wie ein Klangteppich nach oben, wie ein stetiges Meeresrauschen, nur nicht so charmant. Die Luft roch nach Stadt. Sogar hier oben. Konrad und Heiner setzten sich an den Tisch nebenan. Zwei junge, dynamische Herren in Jeans, die die Knöchel blank ließen, dazu Sneakers. Weil einer von ihnen oft rote Jeans trug, erinnerten sie ein wenig an die Comicfiguren Clever und Smart. Sie unterhielten sich gerade über den neuen Auftrag, schielten dann aber zu Sophie. Es sah aus, als hätten sie ein schlechtes Gewissen. Schließlich stand Konrad auf und kam zu ihr herüber.

»Sorry, wie das gelaufen ist. War dein Coup.«

»Kein Problem. Aber nett, dass du das sagst. Ist vermutlich besser so, ich hätte es ohnehin zeitlich nicht hinbekommen.«

Er hielt den Daumen hoch. »Toll, wie sportlich du das siehst!«

Sie lächelte, doch ihr Lächeln gefror, als er sich wieder abwandte und zu Heiner zurückging. Diese Bürschchen, herrje. Irgendwo war Sophie falsch abgebogen in ihrem Leben.

»Darf ich?« Nadja stand an ihrem Tisch und setzte sich zu ihr, bevor Sophie antworten konnte. Sie hatte eine Schale mit Früchten von zu Hause dabei und war wie immer auf Diät. Neidisch betrachtete sie den Quarkplunder in Sophies Hand. »Dass du das essen kannst. Ich werde schon vom Hingucken ein Kilo schwerer.«

Sophie lachte. »Das ist ein Märchen, und das weißt du. Magst du die Hälfte?«

Nadja lehnte sich weg und hob ruckartig die Hände nach oben, als gälte es, einen Angriff abzuwehren. »Bloß nicht! Ich hab mein Obst.«

»Manche werden dick von zu viel Obst«, sagte Sophie und biss genussvoll in ihr Plunderstückchen.

»Wie kannst du so etwas sagen?« Nadja sah von Sophie auf ihr Obst und musste lachen. »Wir sind ein lebendes Klischee.«

»Weil wir über Diäten reden?«

»Ja, während die Jungs über den Job quasseln«, stellte Nadja fest und legte den Kopf schief. »Könnte ich vielleicht doch ein winziges Stück …?«

Sophie zwinkerte. »Viel besser!« Sie beugte sich zur Seite und holte eine Tüte aus ihrer Handtasche. »Du kannst ein ganzes haben.«

»Oh, welch böse Verführung!«, flötete Nadja und fingerte das zuckerverklebte Teilchen aus der Tüte. Mit geschlossenen Augen biss sie hinein. »Mmmmh, sehr lecker, wirklich sehr, sehr lecker. Dafür muss ich heute Abend auf dem Ergometer wieder extra strampeln, aber es lohnt sich.«

Sophie mochte Nadja, die überhaupt nicht dick, aber angeblich seit Jahren auf Diät war. Sie kokettierte gern mit ihrer Figur, hatte dabei aber ein angenehmes Maß an Selbstironie.

»Ich bring dir demnächst mal die besten süßen Stückchen mit, die ich kenne. Mürbe Brezeln. Zur Hälfte aus Mürbeteig, zur Hälfte aus Blätterteig, die sind so zart knusprig, die zergehen auf der Zunge«, schwärmte Sophie, während sie kaute. »Die gab es in meiner Schulzeit für gute Noten.«

»Ach, in deiner alten Heimat. An den Bodensee fahr ich übrigens in den Weihnachtsferien. Wann fährst du wieder nach Konstanz?«

»Tatsächlich schon am Wochenende. Meine Eltern kommen aus einem Italienurlaub zurück.« Vor ihrem inneren Auge sah Sophie eine Hügellandschaft mit einer Reihe Zypressen vor einem Sonnenuntergang.

»Schön.« Nadja kaute und sah in den Himmel. »Ich glaub, ich würde gern etwas idyllischer leben. So eine Kleinstadt am See, das muss doch toll sein. Hast du nicht Heimweh?«

Sophie trennte sich von den Zypressen und dem Geschmack nach Limoncello, der ihr gerade auf der Zunge lag. Manchmal vermisste sie die schönen Aussichten, die bekannten Wege, das vertraute Umfeld. Sie vermisste auch ihre Eltern und Freunde, vor allem natürlich ihre beste Freundin Katrin. Sie vermisste vor allem das Gefühl, sich geborgen zu fühlen. Aber Heimweh?

Um zwei legte sie ihre Stifte zur Seite, gewiss ein wenig demonstrativ an diesem Tag, und verließ das Büro. Nadja saß noch am Empfang und aß nun ihr Obst, das sie am Mittag gegen den Quarkplunder getauscht hatte. »Ein Drink im ›AfterWork‹ später?«

»Ich kann doch nicht. Marlene!«

Nadja schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Ich vergesse immer wieder, dass du ein Kind hast. Klappt das denn mit dem Babysitter von neulich?«

»Neulich« hieß Juli. Ein sommerlicher Abend im Biergarten am Mainufer, und Nadja hatte ihr die Babysitterin ihrer Freunde vermittelt, eine nette Achtzehnjährige, die mit Marlene gut klarkam, allein Sophie fühlte sich nicht wirklich wohl damit. Und jetzt war schon wieder Oktober, Ende Oktober sogar.

»Ja, ja, das war prima. Die kann ich jederzeit anrufen und buchen.«

»Dann mach das doch mal wieder!«

Sophie nickte mit einem verkrampften Lächeln und eilte nach draußen. Nicht immer war sie so froh, das Büro schon am Nachmittag verlassen zu können, wie an diesem Tag. An ihrer Windschutzscheibe steckte unter dem Scheibenwischer ein Umschlag, darin eine Karte mit einem Blumenstrauß. Rosen. Natürlich rote. Und viel zu viele davon auf einer Karte, in der stand: »Lass es mich wiedergutmachen. Ein Abendessen. Nur du und ich. Ich weiß, dass du den Kuss genossen hast …«

Idiot, dachte sie und schob die Karte zurück in den Umschlag und diesen dann tief in das Handschuhfach ihres Autos, als würde das irgendetwas ändern. Sie wusste, dass sie schwach werden würde.

Eine Viertelstunde später parkte sie unweit des Kindergartens. Im Grunde hatte sie Glück, dass sie nicht eine Stunde von der Arbeit zum Kindergarten und dann quer durch die Stadt nach Hause fahren musste. Da hatte ihr die Beziehung zu Markus Hochfeld sicherlich geholfen. Sie musste ohnehin dankbar sein, dass der Mann, den sie einmal geliebt hatte, anstandslos für Marlene bezahlte und sie auch weiter beschäftigte. Dankbar. Vielleicht war genau das das Problem. Sophie wollte nicht dankbar sein müssen, nicht dafür, zufällig eine süße Tochter bekommen zu haben, nicht dafür, über ausreichend Geld und einen Job zu verfügen. Das alles führte bei Markus zu einem gönnerhaft-jovialen Habitus, als würde sie ihm gehören.

Sophie war überpünktlich, und so schlenderte sie durch die Wohnsiedlung. Als sie an einem Müllcontainer vorbeikam, hörte sie es. Ein Pfeifen, ein aufgeregtes, hohes und verzweifeltes Pfeifen. Sophie sah sich um, dann lief sie um den Container. Nichts. Eine Schachtel am Boden, doch die war leer. Das Pfeifen indessen wurde fordernder. Etwas raschelte. Sophie ließ den Kopf hängen. Sicher war ein Tier im Container gefangen. Vielleicht ein Vogel. Zweimal an einem Tag in eine Mülltonne eintauchen? Das konnte auch nur ihr passieren. Sie sah sich noch einmal um, ob es vielleicht andere hilfsbereite Menschen in Sichtweite gab, doch niemand war da.

Seufzend schob sie den Deckel des grauen Containers nach hinten. Ein Berg von Pappe, Zeitungen und Kartons empfing sie. Es war still. Sie wartete einen Moment, dann hob es umso schriller an: Das Pfeifen kam aus einer Schachtel, die vor ihr lag und sich jetzt bewegte. Konnten Ratten pfeifen? Egal, etwas lebte in der Schachtel und wollte gerettet werden. Sophie hob die Schachtel heraus und spürte hektische Bewegungen, das Gewicht verlagerte sich, begleitet von einem wilden Quieken. Definitiv keine Ratten also. Auch keine Schlangen, sagte eine Stimme in ihr, und Sophie musste grinsen. Bisweilen führten ihre Gedanken schon vorwitzige Dialoge.

Schlangen hätten ja auch nicht gepfiffen.

Stimmt.

Vorsichtig öffnete Sophie den Deckel, und drei kleine Meerschweinchen blickten sie an, verstummt und ängstlich. Eine Welle des Mitleids überkam sie. Irgendjemand aus den Wohnblocks dahinter hatte diese drei kleinen, hilflosen Geschöpfe einfach in einen Pappkarton gesteckt und in den Müll geworfen. Sie machte Fotos von ihrem Fund und der Mülltonne, notierte die Adresse dazu und beschloss, bei der Polizei Anzeige zu erstatten. Aber zuerst musste sie Marlene abholen. Den Karton unter dem Arm lief sie zum Kindergarten.

Marlene kam ihr jubelnd entgegengerannt.

»Mama, wir haben uns so lange nicht gesehen. Hast du mich vermisst?«

»Und wie, mein Schatz.« Sie küsste ihre Tochter auf die Stirn.

»Was hast du da?« Marlene deutete auf den Pappkarton, in dem es verdächtig ruhig war. Sophie wartete einen Moment. Als wieder Geräusche zu hören waren, machte Marlene große Augen. »Da ist was Lebendiges drin.«

»In der Tat. Schau mal.« Sophie öffnete den Karton, und Marlene stieß einen spitzen Schrei aus. Andere Kinder, Mütter und die Kindergärtnerin, die die Kinder übergab, sahen sich erstaunt um. Sophie lächelte entschuldigend und klappte die Schachtel schnell wieder zu, bevor sie gleich von einer Horde Fünfjähriger umzingelt würde.

»Mama, das sind Seeschweine, oder?«

»Meer. Die heißen Meerschweine.«

»Chen. Ich glaub, sogar Meerschwein-chen

»Musst du immer das letzte Wort haben, Kind?«

»Klaro«, lachte Marlene. »Wer recht hat, sollte schon das letzte Wort haben, oder nicht?«

Sophie lachte. »Naseweischen.«

»Gehören die jetzt uns?«

»Weiß ich noch nicht. Ich hab sie im Müll gefunden.«

Marlene stand da, den Mund geöffnet, die Augen weit aufgerissen. »Wer macht denn so etwas?«, fragte sie empört. Die kleinen Tiere pfiffen wieder. »Die haben Hunger, komm, Mama, nicht trödeln. Wir müssen einkaufen.«

Also landeten sie an diesem Montag in einem Geschäft für Tierbedarf, kauften einen zweistöckigen Käfig – wo sollte der nur hin? –, Kleintierstreu, Heu und Futter. Zu Hause mussten sie erst einmal Platz schaffen, um das neue Zuhause von Krümel, Nils und Gustav – Nils Holgersson sei Dank – einzurichten. Als die Tiere dann endlich ihre Notbehausung, in der sie zwischenzeitlich mit Karotten und Apfelstückchen versorgt worden waren, verlassen und in den neuen Stall einziehen durften, sprangen sie aufgeregt kreuz und quer. So viel Glück auf zwei Quadratmetern rührte Sophie beinahe zu Tränen.

»Wenn wir am Wochenende zu Oma und Opa ans Meer fahren, dann nehmen wir die mit, okay?«

»Wir fahren nicht ans Meer«, sagte Sophie seufzend. Dass sie nun auch die Verantwortung für drei Meerschweinchen hatte, war ihr bei der Rettungsaktion irgendwie nicht bewusst gewesen. »Wir brauchen also auch einen Reisekäfig«, sagte sie.

»Und ein Haus bei Oma und Opa«, jubilierte Marlene. »Dann machen die Schweinchen Urlaub mit uns!«

»Herrje, der Großvater wird sich freuen.«

Der Großvater war Marlenes Uropa, Sophies Opa, der Vater ihres Vaters, der Älteste der Familie: Harald Sonnbach. Je länger die Generationen überlebten, desto umständlicher die Erklärungen der Verwandtschaftsgrade. Da konnte man schon mal durcheinandergeraten, vor allem wenn Sophie mit Marlene von »Oma« und »Opa« sprach, aber eigentlich ihre eigenen Eltern meinte. So hatten sie sich geeinigt, dass Sophies Opa einfach »Großvater« war. Für alle. Ein paar wenige Freunde nannten ihn Harry, aber das hatte Sophie schon lange nicht mehr gehört, die meisten waren bereits tot, und irgendwie passte es gar nicht mehr so richtig zu einem Mann über neunzig, der Urgroßvater war.

»Für mich ist das eben das Meer!«, beharrte Marlene. »Für mich liegt Konstanz am Meer.«

»Na gut, also ein Ausflug zum Meer. Soll mir recht sein.«

»Jetzt hab ich aber Hunger«, sagte Marlene, die vor dem zweistöckigen Käfig hockte. »Du auch, Mama?« Sie sah nach oben. Sophie nickte. Marlene stand auf und umarmte ihre Mutter. »Du, Mama, ich bin irre stolz auf dich.«

»Weshalb, Schatz?«

»Du hast drei Meerschweine gerettet. Das erzähl ich morgen im Kindergarten.«

»Chen. Meerschweinchen

Marlene schüttelte den Kopf und hob den Zeigefinger der rechten Hand. »Wenn man so etwas Großes macht, dann sollte man lieber von Schweinen sprechen.«

Und schon wieder hätte Sophie vor Rührung beinahe geweint.