Mit Marlene an der Hand betrat Sophie die Polizeidienststelle in ihrem Viertel. Ein leicht muffiger Geruch lag über der Einrichtung, die aus den achtziger Jahren stammte. Die Wände in einem Olivton, der heute wieder Trend war, aber schon Zeichen der Zeit trug, Stühle mit grünem Polster, auf denen man lieber nicht so lange verweilte, Holzböden, die die Wege der Beschäftigten und Besucher als dunkle Verfärbung in sich trugen. Sophie hatte Glück, sie musste nicht warten, sondern wurde direkt zu einem Beamten gerufen, der hinter einer hohen Theke mit einer grauen Resopalplatte stand, die Sophie an alte Küchenzeilen erinnerte.
»Ich seh gar nichts«, beschwerte sich Marlene und versuchte hochzuhüpfen. Sie war sehr aufgeregt, dass sie bei der Polizei waren, um »echte Verbrecher« anzuzeigen. Sophie spürte die verschwitzte Hand ihrer Tochter, die immer wieder zudrückte, während sie bemüht war, sich auf das Gespräch mit einem älteren Herrn mit dicker Brille und ungepflegten grauen Haaren zu konzentrieren. Sie zeigte ihm Fotos, nannte die Adresse und wartete. Behäbig hob er den Kopf, schniefte einmal und sah sie fragend an.
»Wollen Sie keine Notizen machen?«, fragte Sophie.
»Gute Frau, das ist eine schlimme Sache. Ich bin wirklich tierlieb, und mich ärgert so was auch. Aber was sollen wir machen?«
Marlene schnaufte laut aus. Aus dem Augenwinkel sah Sophie, wie das Gesicht ihrer Tochter tiefrot anlief. Sie würde bald platzen, ihr Gerechtigkeitssinn war überaus ausgeprägt.
»Ich möchte, dass Sie eine Anzeige gegen unbekannt schreiben und wenigstens jemanden dorthin schicken.«
Der Beamte lachte auf. »Gute Frau, es geht um Meerschweinchen. Vielleicht gehen Sie einfach zu einem Tierschutzverein? Vielleicht können die ermitteln, wer …« Statt weiterzusprechen, hob er die Hände in die Höhe und schien nicht willens, etwas zu notieren.
Sophie kniff die Augen zusammen. Langsam schmerzte ihr Kopf ebenso wie ihre gepresste Hand.
»Hören Sie, ich verstehe, dass Sie viel um die Ohren haben, aber könnten Sie mir vielleicht einen Kollegen schicken?« Noch während sich Sophie darüber wunderte, wie lange ihre Tochter stillhielt, platzte Marlene heraus: »Sie sollen die fangen und dann auch in die Tonne stecken. So einfach ist das!«, rief sie, und ein kleiner Spuckefaden flog nach oben.
Der Beamte beugte sich nach vorne und sah zu Marlene. Er lächelte, dann sah er wieder zu Sophie: »Gute Frau. Ich –«
Sophie schlug mit der flachen Hand auf die Theke. »Wenn Sie mich noch einmal ›gute Frau‹ nennen, dann … Ich möchte jetzt auf der Stelle einen Kollegen von Ihnen, der die Anzeige aufnimmt.«
Er kniff die Augen zusammen und antwortete spitz: »Ich schau mal nach einer Kollegin«, dann stand er auf und verschwand im Nebenzimmer.
Zurück kam tatsächlich eine Frau, und Sophie ärgerte sich über dieses Klischee, schwieg aber. Die noch recht junge Polizistin hörte sich die Geschichte noch einmal an und schrieb eine Anzeige. Anschließend wählte sie die Nummer des örtlichen Tierheims und schilderte auch dort den Sachverhalt. Sie gab den Hörer an Sophie weiter, und Sophie bestätigte, dass sie sich mit Meerschweinchen auskenne und sie deshalb angemessen versorgt habe und sie natürlich behalten werde. Marlene jubelte. Sophie versprach zudem, Fotos zu senden – von den ausgesetzten und schließlich auch geretteten Tieren. Und der Tierschutzverein wollte sich am selben Tag dort einmal umhören.
Marlene saß mit einem breiten Grinsen vor ihrem Spaghetti-Eisbecher.
»Dem haben wir es gezeigt, nicht wahr?«
»Na ja.« Sophie nahm ihren Kaffeelöffel und klaute ihrer Tochter etwas Eis.
Marlene schob die Schale über den Tisch. »Heute teile ich sogar mein Eis mit dir, Mama.«
»Sehr großzügig, Kindchen, sehr großzügig.«
»Hmm. Bei Schokolade wär das auch was anderes.« Marlene löffelte selig ihr Vanilleeis mit der Erdbeersoße. »Wissen Oma und Opa eigentlich schon von den Meeris?«, fragte Marlene.
Sophie nickte. Sie hatte am Vorabend mit ihrer Mutter telefoniert und von den Tieren erzählt. »Sie freuen sich, die drei kennenzulernen. Sie haben sogar noch einen alten Käfig.«
»Und wir brauchen ein Reisehaus, oder?« Marlene zappelte aufgeregt auf ihrem Stuhl herum.
»Stimmt. Wir brauchen einen Reisekäfig.«
»Ach, lass uns doch lieber Reisehaus sagen, das klingt netter als Käfig.«
»Okay.« Sophie freute sich auf das Wochenende in Konstanz bei ihren Eltern, vor allem weil sie die beiden inzwischen seit einigen Monaten nicht gesehen hatte. Immer war etwas dazwischengekommen, mal eine Erkältung, dann das Wetter und manchmal schlicht ihre eigene Bequemlichkeit. Oft hatte auch ihre Freundin Katrin vergeblich gewartet. Glücklicherweise war sie nicht nachtragend und dennoch zu Sophies Geburtstag angereist. Vierzig, vierzig, vierzig, sang ein hässlicher kleiner Zwerg und hüpfte vor Sophies innerem Auge hin und her. Doch auch ein anderes Bild drängte sich dazu: Sie und Katrin und ein funkelnder Sternenhimmel über ihnen. Schön. Eben. Hau ab, du Zwerg. Vierzig ist total hip, eigentlich das neue dreißig.
»Mama, schau mal, da drüben.« Marlene zeigte mit dem Finger auf etwas, das sich hinter Sophie abspielte, also wandte Sophie sich um und sah einen Clown, der aus Luftballons lustige Tiere formte.
Das milde Herbstwetter lockte viele Menschen nach draußen, und so standen schnell zahlreiche Mütter mit ihren Kindern bei dem Clown.
»Meinst du, der kann auch Meerschweinchen basteln?«
»Eher nicht«, sagte Sophie und suchte schnell nach etwas, um ihre Tochter von dem Clown abzulenken. Sie wollte auf gar keinen Fall ein Luftballontier mit nach Hause tragen. Ihre Wohnung war eng genug, mit dem Käfig erst recht. Sie hatte Glück. »Sieh mal, da!« Zwei Spatzen saßen vergnügt auf einem gerade leer gewordenen Tisch und angelten sich zerbröselte Waffelreste. Es funktionierte so lange, bis sich an ebenjenen Tisch eine Familie setzte und die Spatzen davonflogen. Schließlich bemerkte Sophie, dass ihre Tochter den Tisch noch immer beobachtete. Eine ganz normale Familie, ein Vater, eine Mutter, zwei Kinder. Nichts an ihnen wirkte auf Sophie besonders. War die Situation an sich schon etwas Besonderes für ihre Tochter? Überlegte sie, weshalb sie nur mit ihrer Mutter lebte?
Sophie dachte an ihre Eltern, Roland und Conny. Sie waren ihr Vorbild in so vielem, liebenswert, großzügig, tolerant, geduldig. Sie wusste, dass ihre Mutter sehr traurig darüber war, dass Sophie allein für ihre Tochter sorgen musste, dass sie nicht verheiratet war und nicht ihr Liebesglück gefunden hatte. Und genau diese Traurigkeit machte die Besuche für Sophie bisweilen schwierig. Manchmal ertappte sie ihre Mutter dabei, wie sie mitfühlend Marlene betrachtete – lange, stille Blicke auf das spielende oder träumende Kind.
Es ist nicht gut, allein zu sein.
Es ist auch nicht gut, mit irgendjemandem zusammen zu sein, um nicht allein sein zu müssen, oder?
Nein, mein Kind, natürlich nicht.
Du hast Glück, du hast meinen Vater.
Der Blick ihrer Mutter in solchen Momenten rührte Sophie, er war Ausdruck einer tief empfundenen Zufriedenheit.
Ihre Tochter riss sich los und strahlte ihre Mutter an. »Mama, wir sollten gehen. Ich habe unheimlich Sehnsucht nach den Schweinen.«
Lachend verließen sie Hand in Hand die Eisdiele. Marlene sang ein erfundenes Quatschlied über bunte Farben, die im Wald herumstehen, und Sophie hörte schnell auf, sich über die Preise in der Eisdiele zu ärgern. Vielleicht war der Ärger auch deshalb im ersten Moment so groß gewesen, weil ihr wieder einmal schmerzlich bewusst geworden war, wie abhängig sie doch vom Unterhalt für ihre Tochter war. Nicht immer ein angenehmes Gefühl. Aber das Leben war zu kurz für Ärger, vor allem über Geld. Sie kam klar, das war die Hauptsache, und so schlenkerte sie mit Marlene lieber die Arme um die Wette. Zu Hause liefen sie die drei Stockwerke in dem Mietshaus nach oben und zählten die Treppen, die erstaunlicherweise immer die Anzahl änderten, was Marlene ärgerte, aber die Zahlen purzelten beim Rennen eben oft durcheinander. Oben angekommen standen sie vor der Tür und lauschten, ob sie die Meerschweinchen hörten. Es pfiff tatsächlich aus der Wohnung. Marlene sprang vor Freude in die Luft.
Sie glaubte, Nils zu erkennen. Oder Krümel. Oder auch Gustav. Wer wusste das schon so genau?
»Die haben Hunger. Ich übrigens auch«, sagte Marlene.
»Du hast noch genug Vanilleeis auf deinem Shirt, das reicht für zwei.«
»Haha, Mama, haha, sehr witzig. Was gibt’s denn zu essen?«
Sophie legte den Kopf schief. »Meerschwein in Erdnusssoße?« Sie konnte sich einen Scherz selten verkneifen, doch sie hatte Glück, ihre Tochter war humortechnisch auf einem guten Weg. Sich die geliebten Nager allerdings in irgendeiner Soße vorzustellen, das ging zu weit.
Marlene machte ihr empörtes Gesicht und sagte vorwurfsvoll: »Also bitte, Mama, das ist nicht lustig.«
»Na ja, ein bisschen schon«, sagte Sophie grinsend. Als sie in den schmalen Flur traten, wurde das Pfeifen noch deutlicher.
»Die freuen sich auf uns«, rief Marlene. »Und du hast solch böse Gedanken. Das ist nicht nett von dir, Mama. Aber du kannst es bestimmt wiedergutmachen.« Marlene hielt die Hand an die Stirn und machte eine konzentrierte Denkerpose, dann hob sie den rechten Zeigefinger kess nach oben. »Ich hab’s: Zur Feier des Tages könnten wir doch Pfannkuchen backen.«
»Wir kommen gerade vom Eisessen«, gab Sophie zu bedenken.
»Macht doch nichts.« Marlene stürmte in die Wohnung und rannte ins Wohnzimmer, wo die Nager tatsächlich am Gitter standen in der Hoffnung auf Essen.
Sophie wollte in der Küche Karotten holen, als das Telefon klingelte. Sie lief ins Wohnzimmer und nahm den Anruf entgegen, und im nächsten Moment war nichts mehr so, wie es einmal gewesen war im Leben von Sophie Sonnbach und der kleinen Marlene. Es war, als wäre die Welt stehen geblieben oder auf einmal so beschleunigt worden, dass Sophie den Boden unter den Füßen verlor. Wie damals, als sie auf einem abfallenden Waldweg gestürzt war und sich nicht mehr fangen konnte. Mehrmals hatte sie sich überschlagen, war gegen Wurzeln geknallt, hatte sich Schnittwunden durch Brombeerranken und etliche Prellungen zugezogen. Erst verspätet kam die Erinnerung zurück, wie sie dort oben mit dem Fuß in einer herausstehenden Wurzel hängen geblieben und dann gefallen war, weiter und immer weiter bergab, wie die anderen nach ihr gerufen hatten, an die Angst.
Und jetzt stand sie in ihrem Wohnzimmer, den Telefonhörer in der Hand, und sackte in sich zusammen, landete auf dem Boden, spürte, dass ihr die Farbe aus dem Gesicht wich und ihr schlecht wurde. Alles drehte sich. Im Augenwinkel sah sie die strahlende Marlene, die ein Meerschweinchen, das braune, vorsichtig aus dem Käfig hob und streichelte. Die großen schwarzen Knopfaugen des kleinen Tieres sahen neugierig zu ihr herüber, wachsam, als spürten sie, dass etwas nicht stimmte. Und Marlene voller Glück, voller kindlicher Unbeschwertheit, quirlig und doch so behutsam mit dem Nagetier.
»Guck mal, Mama, ist der nicht zuckersüß? Ich nehm den heute mit ins Bett.«
Sophie konnte nichts sagen.
»Oma und Opa werden staunen«, sagte Marlene in dem ihr eigenen Singsang.
Sophie schluckte. Ihre Tochter konnte nicht wissen, dass sie dort auf dem Teppich in ihrem Wohnzimmer kauerte und nicht wusste, wie sie wieder aufstehen sollte. Sie konnte nicht sehen, dass Sophie am liebsten laut geschrien hätte, aber keine Stimme fand; dass sie das Gefühl hatte, einen heftigen Schlag in den Magen bekommen zu haben. Marlene konnte nicht wissen, was ihrer Mutter gerade am Telefon mitgeteilt worden war.
Sie werden nicht staunen, dachte Sophie, Oma und Opa werden nicht staunen. Wir werden sie nie wiedersehen.